Die Patientenverfügung,
verstanden als eine "christliche" Patientenverfügung

Informations- und Gesprächsabendsabend
in der Evangelischen Kirchengemeinde Kenzingen
mit einem Arzt, Juristen und Theologen
Kenzingen, 4. April 2000
Hanns-Heinrich Schneider, Pfr.

 

Einstimmung

In der Handreichung "Christliche Patientenverfügung" der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland wird einleitend gesagt:

"Der medizinische Fortschritt hat in den letzten Jahrzehnten zu einer schwierigen Situation geführt: Einerseits können mit Hilfe moderner medizinischer Möglichkeiten Krankheiten geheilt werden, die noch vor wenigen Jahren als unheilbar galten - andererseits kann der Einsatz aller medizinisch-technischen Mittel der Intensivmedizin auch das Leiden und Sterben von Menschen verlängern. Ein würdevolles Leben bis zuletzt kann also sowohl die Anwendung als auch den Verzicht auf die Anwendung intensiver Medizin bedeuten. Eine letzte Entscheidung muss aus der konkreten Lage des sterbenden Menschen heraus und von seinen Wünschen und Bedürfnissen her getroffen werden.

Seit Ende der 70er Jahre gewinnt auch in Deutschland die Patientenverfügung immer mehr an Bedeutung. Eine Patientenverfügung dokumentiert den Willen eines Menschen für den Fall, dass er sich nicht mehr äußern und sein Selbstbestimmungsrecht in Gesundheitsangelegenheiten nicht mehr wirksam ausüben kann. Mittlerweile ist eine große Anzahl verschiedener Formulare im Umlauf, die sich in Form, Inhalt und Ausführlichkeit erheblich unterscheiden. Von vielen Seiten wurde in den letzten Jahren an die Kirchen die Bitte herangetragen, eine Patientenverfügung zu entwickeln, die sich in besonderer Weise dem christlichen Glauben verpflichtet weiß ..." 1

Diese liegt nun vor, hat aber bei allen Stärken und hilfreichen Anregungen m.E. die Schwäche, dass gerade die theologischen Überlegungen, also das, was eine "christliche" Patientenverfügung ausmacht, letztlich zu kurz kommen. Zu dieser Fragestellung möchte ich in aller Kürze einige Anmerkungen beisteuern.

Die "Christliche Patientenverfügung" der beiden Volkskirchen versteht sich natürlich nicht nur als Hilfestellung an Kirchenmitglieder und Menschen, die ihrer Kirche stark verbunden sind. Sie kann von jedem Interessierten in Anspruch genommen werden.

Was ihr wesentlich ist, ist ihr Begründungshorizont aus der christlichen Ethik heraus. In der Vielzahl auch über das Internet abrufbarer Patientenverfügungen, die alle Grundanliegen verschiedenster Organisationen und Vereine (z.B. durch Sterbehilfegruppen, Hospizbewegungen, Juristen oder Medizinern ...) widerspiegeln, ist es sinnvoll, dass gerade auch die Kirchen zu dieser wichtigen Frage Stellung beziehen.

Was ist eine Patientenverfügung und wann wird sie angewendet?

Die Patientenverfügung

Die Handreichung führt hierzu aus: "Eine "Patientenverfügung" ist eine vorsorgliche schriftliche Erklärung, durch die ein einwilligungsfähiger Mensch zum Ausdruck bringt, dass er in bestimmten Krankheitssituationen keine Behandlung mehr wünscht, wenn diese letztlich nur dazu dient, sein ohnehin bald zu Ende gehendes Leben künstlich zu verlängern ... 2

Mit einer Patientenverfügung können grundsätzlich sowohl Maßnahmen der so genannten "passiven" als auch der "indirekten Sterbehilfe" gefordert werden. Sie können also verlangen, dass lebenserhaltende Maßnahmen unterlassen werden sollen oder schmerzlindernde Medikamente verabreicht werden, selbst wenn diese sich möglicherweise lebensverkürzend auswirken könnten.

Der inhaltlichen Gestaltung der Patientenverfügung sind allerdings aus christlicher Verantwortung und durch die Rechtsordnung Grenzen gesetzt. So können Sie z. B. nicht wirksam verfügen, dass der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin Sie für den Fall einer unheilbaren Erkrankung und großer Schmerzen tötet (sog. "aktive Sterbehilfe"). 3

Wann wird die Patientenverfügung angewendet?

Ihre Patientenverfügung wird berücksichtigt, wenn folgende drei Voraussetzungen erfüllt sind:

  1. Sie sind nicht mehr einwilligungsfähig,
  2. Ihre lebensbedrohende Erkrankung wird in absehbarer Zeit zum Tode führen und
  3. es stellt sich die Frage, ob auf eine mögliche Behandlung verzichtet oder eine begonnene Behandlung beendet werden soll.

In einer solchen Situation sollte - wenn möglich - keine Unklarheit darüber bestehen, welche Wünsche und Werte Sie respektiert wissen wollen. Für den Arzt oder die Ärztin ist die Patientenverfügung ein wichtiges Indiz für Ihren mutmaßlichen Willen, den außer acht zu lassen rechtswidrig sein kann ... 4

Die verschiedenen Formen der Sterbehilfe

Es scheint mir notwendig zu sein, hier eben noch einmal eine Klärung darüber herbeizuführen, worüber wir sprechen:

"Es hat sich durchgesetzt, unter dem Begriff "Sterbehilfe" die Erleichterung des Sterbens eines unheilbar schwerkranken Menschen zu verstehen. Wenn es dabei um mitmenschliche oder seelsorgerliche Hilfe im oder beim Sterben geht, sollte der Begriff "Sterbebegleitung" verwendet werden.

Mit der Forderung eines "menschenwürdigen Sterbens" verbindet sich jedoch oft auch die Forderung, selbst über die Dauer der eigenen Lebenszeit und den Zeitpunkt des eigenen Todes bestimmen zu können. "Sterbehilfe" wird so nicht mehr als Hilfe im oder beim Sterben, sondern als Hilfe zum Sterben (im Sinne der sog. "aktiven Sterbehilfe") verstanden.

Da der Begriff "Sterbehilfe" in seiner Vieldeutigkeit immer wieder Anlass zu solchen Missverständnissen gibt, müssen die verschiedenen Formen der Sterbehilfe unterschieden werden:

"Passive Sterbehilfe" zielt auf ein menschenwürdiges Sterbenlassen ab durch den Verzicht auf eine lebensverlängernde Behandlung bei einem unheilbar kranken Menschen, der sich im Sterben befindet. Sie setzt sein Einverständnis voraus und ist rechtlich und ethisch zulässig.

"Indirekte Sterbehilfe" wird geleistet, wenn tödlich Kranken ärztlich verordnete schmerzlindernde Medikamente gegeben werden, die als unbeabsichtigte Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen können. Solche indirekte Sterbehilfe wird in Abwägung der ärztlichen Doppelpflicht - Leben erhalten und Schmerzen lindern - für rechtlich und ethisch zulässig gehalten.

"Aktive (oder direkte) Sterbehilfe" meint die gezielte Tötung eines Menschen, z.B. durch die Verabreichung eines den Tod herbeiführenden Präparates (z.B. Tablette, Spritze, Infusion). Sie ist in Deutschland gesetzlich verboten und wird strafrechtlich verfolgt und zwar auch dann, wenn sie mit ausdrücklicher Zustimmung des Patienten oder der Patientin erfolgt. Sie ist mit dem christlichen Verständnis vom Menschen nicht vereinbar.... 5

Exkurs zum Suizid

Nun könnte man irrtümlich meinen, dass über eine Patientenverfügung eine Art versteckter Suizid (eine Selbsttötung), die allerdings durch einen anderen durchgeführt wird, möglich ist. Dagegen spricht, dass Patientenverfügungen rechtzeitig und gründlich mit dem Arzt des eigenen Vertrauens, in der Regel dem Hausarzt, durchgesprochen werden sollten.

Der evangelische Theologe Karl Barth führt zum Thema "Selbstmord" in seiner Kirchlichen Dogmatik aus: " Wir streifen hier die merkwürdige Tatsache, dass der Selbstmord nirgends in der Bibel ausdrücklich verboten wird. Eine beschwerliche Tatsache für alle, die sie moralisch verstehen und anwenden wollen..."

Drei herausragende Beispiele für eine Selbsttötung finden wir in der Bibel: Saul (1. Samuel 31,4), Ahithophel (2. Samuel 17,23), ein Ratgeber Davids, der zu Absalom überläuft und diesen falsch berät und natürlich Judas, den Verräter Jesu (Matth. 27,5).

Karl Barth führt weiter aus: "Man beachte, dass in den Erzählungen von jenen drei hervorgehobenen Selbstmördern kein Wort des Tadels über ihren Selbstmord als solchen fällt. Es wird von ihnen nur eben berichtet: sie enden, in dem sie sich selbst ihr Ende setzen. Alle drei stehen tief im Schatten der biblischen Darstellung ..." 6

Man würde Barth hier gründlich missverstehen, wollte man daraus eine biblische Rechtfertigung der Selbsttötung herauslesen.

Es gibt in der Bibel zwar keine ausdrückliche Verurteilung eines Menschen, der seinem Leben ein Ende setzt, dennoch gilt, dass wir unser Leben als ein Geschenk Gottes empfinden, welches wir uns nicht selbst nehmen dürfen, Anfang und Ende sind durch das Ja Gottes zu unserem Sein und dessen Grenzen bestimmt.

Sören Kiergegaard spricht von der "Krankheit zum Tode", die uns bei der Beurteilung dieses problematischen Sachverhaltes helfen könnte. Ein Mensch, der seinem Leben selbst ein Ende setzt, hat sich in der Beziehungslosigkeit verloren. So wenig es ihm möglich ist, Hilfe von anderen zu erwarten, gar zu erbitten, so wenig kommen andere noch an ihn heran. Es ist der Wunsch zum Sterben schließlich so stark, dass wir es hier mit einer Krankheit zu tun haben, an deren Ende der Tod steht.

Hier hilft nur eine seelsorgerliche Beurteilung des Sachverhaltes und die Begleitung aller Betroffener, da die Schuldgefühle Hinterbliebener in der Regel überstark sind. Moralische Bewertungen, auch religiös verbrämt, helfen hier niemandem, sie werden nur als lieblos und wenig hilfreich empfunden. Daher kann der biblische Hinweis auf die drei Selbstmörder hilfreich sein:

Es gibt nun umgekehrt natürlich keine Erlaubnis zur Selbsttötung, aber diese steht in einem Zusammenhang, wo der Mensch sich letztlich von Menschen und Gott verlassen spürt und seine Lebenskraft verloren hat. Auch dieser Mensch, schuldig geworden, wie alle anderen Menschen auch, ist ein Mensch in der Gegenwart Gottes.

Die Menschenwürde

In der vorliegenden Handreichung der Kirchen sind es vor allem zwei Dinge, die für eine "christliche" Patientenverfügung hervorgehoben werden:

Auch wenn hervorgehoben wird, dass "das Leben ein Geschenk Gottes" ist, scheint mir die theologische Begründung zu kurz zu sein.

Es ist richtig: unser Leben, die Schöpfung, die erfahrbare und unerfahrbare Welt sind uns ein unverfügbares Geschenk. In der Schöpfungstheologie, wie sie uns in ganz unterschiedlichen Berichten der Bibel überliefert ist, finden wir eine spezifische Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Allen Aussagen liegt bei allen Unterschieden im Detail der Glaube zugrunde, dass "Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde ist."

Daher schließt der erste Schöpfungsbericht mit einer so genannten "Billigungsformel" ab: "Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut!" (Genesis 1,31) Damit ist wie mit einem Ausrufezeichen bestätigt, dass die Erde so ist, wie Gott sie wollte. Das ist also etwas sehr anderes, als das, wie wir sie heute erfahren.

Die Würde des Menschen besteht darin, dass er so, wie er ist, von Gott gewollt und bejaht ist, so dass sich in ihm die Gottheit Gottes widerspiegelt. Gerade das Christentum hat von diesem Verständnis ausgehend die Menschenwürde eines jeden Menschen als einer einzelnen Person im Gegenüber zu Gott und Welt festgestellt. Die Ebenbildlichkeit des Menschen begründet sich darin, dass er im Unterschied zu allem anderen, was lebt, Mensch ist, vernunftbegabt und seine Welt eigenverantwortlich gestaltend.

Unter der Überschrift "Menschenwürde als Grundnorm in der Medizin" heißt es im Ärzteblatt Baden-Württembergs: Die Menschenwürdenorm ist der höchste Orientierungspunkt der deutschen Verfassung. Auch für Medizinethik und ärztliches Standesrecht ist sie von zentraler Bedeutung. So lautet §7 (1) der gültigen Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg: "Jede medizinische Behandlung hat unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen." ... Menschenwürde, so kann man daher sagen, kommt dem Menschen als einem Vernunftwesen zu, als einem Wesen, das zu vernünftiger Selbstbestimmung fähig ist." 7

Zum Ethos der Kirche wird in dem Arbeitspapier "Gestaltung und Kritik, Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert" ausgeführt: "Auch im dritten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung wird es nötig sein, dass die Menschen ihr Verhältnis zum transzendenten Grund ihrer Existenz bestimmen, wenn sie ihren Ort in der Welt klären wollen. Auch im dritten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung werden christliche Kirchen zu verkündigen haben, dass Mensch und Welt Gottes Schöpfung sind, .... Auch im dritten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung wird die Botschaft von der christlichen Freiheit, ..., ein unentbehrlicher Beitrag zur Kultur einer freiheitlichen Gesellschaft sein." 8

Der christliche Glaube schenkt uns die Freiheit, über die Grenzen des Lebens, Vergänglichkeit, Krankheit und Tod nachzudenken und Vorsorge zu treffen. Mit recht bleibt zu überlegen, ob die moderne Medizin mit ihren technischen Möglichkeiten, Leben zu retten, zu erhalten und zu verlängern, oft nicht ein menschenwürdiges Sterben verhindert. "Nicht das Maximum an Technik ist (immer) das Beste, sondern das Optimum. 9 Daher wird eine Patientenverfügung inzwischen selbst von der Bundesärztekammer (s. der Arzt als Gesprächspartner, Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 13, 2. Apr.1999) positiv bewertet.

Albert Schweitzer sagte einmal: "Alle sind wir mehr oder weniger in Gefahr, Menschendinge statt Persönlichkeiten zu werden..." 10

Daher haben die Kirchen die Aufgabe, inmitten anderer Sinnanbieter ihr Wort zu sagen, das im interdisziplinären Gespräch von z.B. Juristen, Medizinern oder Philosophen geradezu gefordert ist. Die Kirchen haben ein unaufgebbares Orientierungspotential, das der ganzen Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden muss. Mit der vorliegenden Handreichung zu einer mitmenschlichen, seelsorgerlichen Begleitung und Hilfe im und beim Sterben haben die Kirchen diesen Dienst der Sterbebegleitung übernommen.

Dadurch, dass Christen durch ihren Glauben dem Tod nicht das letzte Wort lassen und damit über die Gräber aller Friedhöfe dieser Welt hinweg hoffen, wird die Macht des Todes auf uns begrenzt. Gott spricht das letzte Wort über allem Leben und allem Tod: "Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt ..." 11

Eine "christliche" Patientenverfügung

In der geglaubten und von Christen bezeugten Auferstehung Jesu Christi wird Gott als ein "liebender" begriffen, der den Menschen nicht dem Tod überlässt, gerade hier wird deutlich dass der Tod Jesu nicht destruktiv, sondern konstruktiv verstanden werden muss, das hat Konsequenzen für unser Leben und Sterben. Gott wird als ein mitleidender, dem Menschen in seiner Situation zur Seite stehender Gott empfunden.

Daraus muss die Konsequenz abgeleitet werden, dass wir Menschen ein Leben lang das Sterben lernen. Der Tod darf nicht (mehr) aus unserem Bewusstsein verdrängt werden, und daher ist eine Patientenverfügung (wie eine Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung) so sinnvoll und notwendig wie ein tragfähiges Testament - oder im Rahmen des möglichen - die Eigenvorsorge für das Alter in finanzieller Hinsicht.

Aus christlicher Sicht gibt es also neben dem Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben auch einen Anspruch auf ein menschenwürdiges Sterben. "Frei von Schmerzen, Angst und Unruhe und unter Wahrung der Grundbedürfnisse menschlicher Existenz muss mit dem Sterbenden und für ihn ein Weg gefunden werden zwischen unzumutbarer Lebensverlängerung und nicht zu verantwortender Lebensverkürzung. 12

Einige rechtliche Überlegungen zum Thema

In einem juristischen Beitrag zu unserem Thema wird ausgeführt: Nach Artikel 2 der Menschenrechtskonvention wird das Recht eines jeden Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Nach Artikel 2 Abs. 2, Satz 1 unseres Grundgesetzes hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Die §§211 ff. unseres Strafgesetzbuches bedrohen jeden mit hohen Strafen, der das Leben eines anderen auch nur zu beenden versucht oder denjenigen, der fahrlässig tötet. Das unterstreicht die Bedeutung einer Patientenverfügung gerade für den behandelnden Arzt in der Situation, wo der eigene Wille nicht (mehr) zum Ausdruck gebracht werden kann.

In der Rechtsprechung und in der juristischen Literatur gibt es zu diesem Thema viele, teilweise einander widersprechende Meinungen. Nach herrschender Spruchpraxis des obersten deutschen Strafgerichtes darf Sterbehilfe auch bei aussichtsloser Prognose nicht durch gezieltes Töten, sondern nur entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen durch die Nichteinleitung oder den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen geleistet werden, um dem Sterben seinen natürlichen, der Würde des Menschen gemäßen Verlauf zu lassen.

Nach dieser aus dem Jahre 1991 stammenden Entscheidung des 3. Strafsenates des Bundesgerichtshofes darf also der Tod nicht aktiv gefördert werden. Zulässig ist es aber, bei aussichtsloser Prognose und erklärtem oder mutmaßlichem Patientenwillen auf die Einleitung lebensverlängernder Maßnahmen zu verzichten oder diese wegen Aussichtslosigkeit einzustellen. Man darf es also in einer solchen Situation geschehen lassen, dass der Tod eintritt, ohne sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig zu machen.

Mit seinem 1994 verkündeten, in der amtlichen Sammlung und in nahezu der gesamten Fachpresse veröffentlichten Urteil hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes drei Leitsätze für die Sterbehilfe aufgestellt, die ich Ihnen wörtlich vorlesen möchte, weil sie das Wesentliche beinhalten:

  1. Bei einem unheilbar erkrankten, nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten kann der Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme ausnahmsweise auch dann zulässig sein, wenn die Voraussetzungen der von der Bundesärztekammer verabschiedeten Richtlinien für die Sterbehilfe nicht vorliegen, weil der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat. Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Kranken.
  2. An die Voraussetzungen für die Annahme eines mutmaßlichen Einverständnisses sind strenge Anforderungen zu stellen. Hierbei kommt es vor allem auf frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Patienten, seine religiöse Überzeugung, seine sonstigen persönlichen Wertvorstellungen, seine altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen an.
  3. Lassen sich auch bei der gebotenen sorgfältigen Prüfung konkrete Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens des Kranken nicht finden, so kann und muss auf Kriterien zurückgegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen. Dabei ist jedoch Zurückhaltung geboten; im Zweifel hat der Schutz menschlichen Lebens Vorrang vor persönlichen Überlegungen des Arztes, eines Angehörigen oder einer anderen beteiligten Person.

Aus diesen drei Leitsätzen können Sie die ganze Schärfe der Konfliktsituation erkennen, wenn für den Arzt oder andere Beteiligte keine beweisbaren Vorstellungen des Patienten über seinen Willen vorliegen. 13

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Patientenverfügungen gerade für die engsten Angehörigen, wie behandelnden Ärzte für den Fall eine große Entscheidungshilfe sind, wo der eigene Wille nicht mehr bekundet werden kann. Von daher empfiehlt sich heute eine Patientenverfügung, verbunden mit einer Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung.


Formular zur Christl. Patientenverfügung

Vorsorgevollmacht

Literatur

  1. Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz,
    Christliche Patientenverfügung, Handreichung und Formular,
    Nr. 15 Gemeinsame Texte, 1999, S. 5
  2. Handreichung, a.a.O., S. 13
  3. Handreichung, a.a.O., S. 15
  4. Handreichung, a.a.O., S. 13f
  5. Handreichung, a.a.O., S. 15f
  6. Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik, III/4, (die Lehre von der Schöpfung)
    Evangelischer Verlag A.G. Zollikon-Zürich, 1951, S. 465
  7. Werner, Micha H., Menschenwürde als Grundnorm der Medizinethik, Ärzteblatt Baden-Württemberg 6/2000, S. 72
  8. Evangelische Kirche in Deutschland,
    Gestaltung und Kritik, Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert, S. 68
  9. Konradsblatt, Wochenzeitung für das Erzbistum Freiburg, 2/2000, S. 18f
  10. Schweitzer, Albert, Gesammelte Werke, Bd. 2, Chr. Beck, München,
    XXII Die Kulturenergien der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, S.407
  11. Die Bibel, Offenbarung 1,8
  12. Schnabel Klaus, Badische Pfarrvereinsblätter, November 1999, S. 217
  13. Knodel, Herrmann, Patientenverfügung, Referat zum Thema in der Evangelischen Kirchengemeinde Kenzingen
     
    Weitere, nicht unmittelbar zitierte Literatur:
     
  14. Lehmann, Karl, Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten, Herder, Freiburg, 1993
  15. Kuitert, Harry M., Darf ich mir das Leben nehmen?, GTB Sachbuch,
    Siebenstern 961, Gütersloher Verlag, 1990
  16. Deutsches Ärzteblatt, 96, Heft 13.2. April 1999, S. 836f
  17. N.N., Evangelische Kommentare, Kreuz Verlag, Stuttgart,
    Moralische Entlastung, Sterbehilfe darf kein Tabu sein, 9/1998
  18. N.N., Evangelische Kommentare, a.a.O.
    Begrenztes Recht des Todes, Christliche Patientenverfügung wahrt Würde des Menschen, 11/2000
  19. Schuck, M., Menschenbild und Menschenwürde,
    Deutsches Pfarrerblatt, 1/2000, S. 7f und
  20. Marquard, R., Deutsches Pfarrerblatt, a.a.O.,
    Hauptsache gesund!? Vom Wert des Lebens und der Würde des Fragments,S. 10f
  21. Schneider, H.-H., Eigene Vorträge über die Themen "Tod", "Sterbebegleitung und Bestattung", so wie "Wert und Glaube"


Letzte Änderung: 20.06.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider