Ökum. Osternacht 2006, Joh. 20, 19-29

 

 

 

Es war Abend geworden an jenem Sonntag. Die Jünger waren beisammen und hatten aus Angst vor den führenden Juden die Türen abgeschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Frieden sei mit euch!« Dann zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Als die Jünger den Herrn sahen, kam große Freude über sie. Noch einmal sagte Jesus zu ihnen: »Frieden sei mit euch! Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich nun euch.« Dann hauchte er sie an und sagte: »Empfangt den Heiligen Geist! Wenn ihr jemand die Vergebung seiner Schuld zusprecht, ist die Schuld auch von Gott vergeben. Wenn ihr die Vergebung verweigert, bleibt die Schuld bestehen.«

 

Als Jesus kam, war Thomas, genannt der Zwilling, einer aus dem Kreis der Zwölf, nicht dabei gewesen. Die anderen Jünger erzählten ihm: »Wir haben den Herrn gesehen!« Thomas sagte zu ihnen: »Niemals werde ich das glauben! Da müsste ich erst die Spuren von den Nägeln an seinen Händen sehen und sie mit meinem Finger fühlen und meine Hand in seine Seitenwunde legen sonst nicht!« Eine Woche später waren die Jünger wieder im Haus versammelt, und Thomas war bei ihnen. Die Türen waren abgeschlossen. Jesus kam, trat in ihre Mitte und sagte: »Frieden sei mit euch!« Dann wandte er sich an Thomas und sagte: »Leg deinen Finger hierher und sieh dir meine Hände an! Streck deine Hand aus und lege sie in meine Seitenwunde! Hör auf zu zweifeln und glaube!« Da antwortete Thomas: »Mein Herr und mein Gott!« Jesus sagte zu ihm: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Freuen dürfen sich alle, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!«

 

 

 


Liebe ökumenische Gemeinde!

 

Zur Zeit lese ich eine groß angelegte Biografie über J.P. Sartre, einem der großen, linken Philosophen des vergangenen Jahrhunderts. Er war ein Mensch, der sich vorgenommen hatte, sein Leben lang zu lernen, als Atheist zu leben. So einfach ist also selbst die Gottlosigkeit nicht zu leben. In seinem düsteren Drama „Bei verschlossenen Türen“ führt er aus:

 

Da wären wir also! Drei Menschen, zwei Frauen und ein Mann treffen in einem Raum zusammen. Sie kennen sich nicht, man versucht ein Gespräch, aber jeder von ihnen hat andere Fragen und Bedürfnisse. Man fällt sich zur Last. Sie sind gestorben. Sie haben alle Hoffnungen begraben und warten. Und bald schon stellen sie fest: Wir sind in der Hölle. Irrtümer sind ausgeschlossen, umsonst wird keiner verdammt. Körperliche Folter gibt es keine und doch: Wir sind in der Hölle. Es kommt auch niemand - niemand. Wir allein bleiben zusammen bis ans Ende. Allerdings einer fehlt: Der Henker. Alle beobachten, wie es im Leben, das sie zurückgelassen haben, weitergeht, ohne dass sie noch einmal eingreifen könnten. Man bringt sich durch seine Andersartigkeit an den Rand, man will raus aus dem Raum und weg von den anderen, - aber die Tür ist verschlossen.

 

Und plötzlich ist die Tür auf! Bei dem Versuch, das Zimmer zu verlassen, scheitern sie jedoch. Der Weg ist frei, aber sie sind unzertrennlich. Sie begreifen endgültig, dass sie in der Hölle sind: Kein Schwefel, Scheiterhaufen, Bratrost ist erforderlich, denn: Die Hölle, das sind immer die anderen. Und das für immer! [1]

 

Wann beginnt die Hölle und wo hört sie auf? Diese Frage erinnert an das Motto, das Sie in der St. Laurentius-Pfarrei durch dieses Kirchenjahr hindurch begleiten wird: „Berufen, Mensch zu werden!“ Denn dort, wo Menschen sich ihrem Menschsein verweigern und ihrer damit verbundenen Berufung „Mensch zu werden“, eben dort beginnt die Hölle und sie kann erst dort enden, wo wir uns unserer Berufung zum Menschsein bewusst werden. Das Evangelium dieser Nacht lässt uns an der menschlichen Gefangenschaft teilhaben, in der sich die Jünger Jesu befinden: „Bei verschlossenen Türen“, die Erfahrung der Hölle in den Knochen, sitzen sie beieinander. Ihre Angst hält sie gefangen, die dunklen Schatten der vergangenen Tage. Und wir können das gut mit unseren eigenen Erfahrungen nachempfinden, weil wir die Höllen der Beziehungslosigkeit und Angst nur allzu gut kennen.

 

Doch das wäre kein Evangelium für uns, nichts mit dem wir getrost und fröhlich in diese Nacht hineingehen könnten. Johannes will mehr erzählen, das Dunkle, Beängstigende sprengen, Zugänge schaffen in dunkler Nacht. Und so besteht das eigentliche Evangelium darin, dass er uns schildert, dass es möglich werden kann, durch verschlossene Türen zueinander zu kommen. So tritt Jesus in die Mitte der verunsicherten Jüngerschar. Er kommt, er ist da trotz der Hölle, die er erfahren musste, ja trotz den Höllen, die immer die anderen sind und das für immer.

 

Hinter dieser verschlossenen Tür ist die junge „Kirche“ versammelt. Es ist das Bild, das die Kirche in ihre Geschichte hinein begleiten wird. Immer wieder hat sich die Christenheit hinter verschlossenen Türen versammelt, verunsichert, verängstigt. Draußen war etwas los, aber man verschloss sich, den Höllen der Welt war sie oft nicht gewachsen.

 

Und dennoch ging die Tür immer wieder - mal mehr, mal weniger weit auf - nämlich dort, wo sich die Kirche mit dem Herrn ihres Glaubens konfrontiert sah, wo der Glaube stärker war, als die Angst, wo man sein „Friede sei mit euch!“ hörte und sich in die schuldverflochtene Welt mit ihren Höllen hinein gesandt fühlte, wie die Jünger damals.

 

Es ist der gute Geist Gottes mit dem die Christenheit in die Welt geschickt wird, ein Geist, der es schafft, Schuld zu vergeben. Wo immer dies geschieht, werden Türen geöffnet, werden Lösungen eines Problems möglich. Wo Menschen verkracht leben, ihrer Schuld verhaftet bleiben, da bleiben auch die Zugänge zueinander verschlossen. Aber kann umgekehrt Vergebung eigentlich verweigert werden? Im Grunde nicht, aber hier wird eben auch deutlich, dass es sogar für die Kirche Grenzen gibt, dass es im Glauben auch den Widerstand, das Nein geben muss, soll der Glaube noch christlicher Glaube sein. Vielfach haben wir das vergessen und damit den Glauben und unser Christsein verraten.

 

Gerade heute in der notwendigen Diskussion zwischen den Kulturen, zwischen Menschen unterschiedlicher Ansichten in Glaubensfragen, müssen wir als Kirche wieder etwas davon aufzeigen lernen, was denn nun eigentlich das Wesentliche des christlichen und eben nicht irgendeines Glaubens ist. Mich wundern weder die Zustände an manchen deutschen Schulen, noch die unzähliger Beziehungen bis in zahllose Ehen hinein, wenn man sieht, wie sehr uns heute die Maßstäbe abhanden gekommen sind. Jeder verlangt nach Orientierungen und Werten, doch wo werden sie gelebt? Hier haben wir als Christen mit unserem Glauben zu bestehen: Ja und auch wieder Nein sagen zu lernen. Denn nur dort, wo man uns jenseits verschlossener Türen erlebt, wird unser Zeugnis profiliert wahrgenommen.

 

Und da ist Thomas! Sind wir nicht alle ein wenig wie er? Er ist doch der „Prototyp möglicher Zweifel und Verzweiflung.“ [2] Er verkörpert ja geradezu den modernen Menschen, der nur das glauben will, was er sehen, begreifen, im wahrsten Sinne des Wortes anfassen kann. Wann immer Menschen das Wort von der Auferstehung Jesu zu hören bekamen, war auch der Zweifel da. „Thomas, genannt der Zwilling“, schließt sich selbst aus der Gemeinschaft der Jünger aus, was sollte er auch in dieser verunsicherten Gemeinschaft hinter verschlossenen Türen. Er bleibt allein mit seiner Trauer, seiner Angst inmitten der Höllenerfahrungen die ja auch seine Existenz begleitete. Das Kreuz allein schon, wie dann der sterbende Freund mit seinem Schrei nach Gott, mussten sich ihm eingebrannt haben. Nein, wer diesen Toten gesehen hat, konnte sich nicht damit trösten lassen, dass andere sagten, dass gerade dieser lebt.

 

Thomas, der Zwilling, das ist uns ein Hinweis darauf, dass er jemand ist, „der glauben möchte, aber nicht kann, der Sehnsucht und Verlangen genug spürt, um zum Glauben zu kommen, dessen Denken aber nach Gründen verlangt, die es im Sinne einer rationalen Beweisführung für den Glauben niemals zu geben vermag. Zwischen Herz und Hirn geht da ein Riss, der sich nicht schließen will...“ Es scheint ja gerade so, als würde er gegen die Berichte der Freunde protestieren, denn „in der Person Jesu wurde für Thomas getötet, was sein Leben war.“ [3] Thomas will in seiner Trauer sehen, anfassen, begreifen und das ist ja nur allzu verständlich. Unter uns ist das ja geradezu sprichwörtlich geworden, wenn wir sagen: dass jemand „den Finger in die Wunde legt!“, was wir durchaus positiv  verstehen.

 

Wieder tritt der Auferstandene in die Mitte seiner Jüngerschar, die noch immer, trotz einer ersten Begegnung mit ihm, hinter „verschlossenen Türen“ sitzt. Er stellt sich Thomas, lässt sich begreifen und fordert ihn auf, sich auf seinen Glauben und eben nicht auf seinen Zweifel zu verlassen, der oft nur blind und taub macht. Denn der Glaube hat die Kraft, Türen aufzusprengen, die Gefängnisse der Angst hinter sich lassen zu können, Gemeinschaft, ja Kirche erfahren zu dürfen, wo uns die Verhältnisse sonst eher an die Höllen erinnern, die immer die anderen sind.

 

Thomas findet in der Überwindung seiner Trauer, seines Zweifels zurück in den Kreis seiner Freunde und bekennt in der Gegenwart seines Herrn: „Mein Herr und mein Gott!“ Was für ein Bekenntnis, was für ein grenzensprengendes Wort des Glaubens. Auch wenn es ein mühsamer Weg zu einem Vertauen war, das auch dann gelten sollte, wenn man eben nicht alles fasslich begreifen kann, so wie wir ja auch das Leben, die Liebe, das Leid, das Älterwerden, die Krankheit und den Tod nicht einfach begreifen können. Diese Erfahrungen sprengen das uns Fassliche.

 

Wir feiern miteinander die Osternacht: Eltern von Täuflingen, Erstkommunionkinder, Firmanden, Konfirmanden, mit jungen Paaren, welche in den vergangenen Monaten die Ehe geschlossen haben. Und wir feiern den Gottesdienst in dieser Nacht gerade mit all jenen, die den Tod und abgrundtiefes Leid erfahren mussten. Die Osternacht lässt uns hautnah spüren, wie es um diesen Weg durch unser Leben steht, wo wir die Schattenseiten und das Dunkle auszuhalten lernen müssen.

 

Da warten wir, wie die Jünger – damals – auf eine Wende im Leben, was im Gloria dieses Gottesdienstes und in dem einen kleinen Licht, aus dem sich ein Lichtermeer entwickelt, widerspiegelt. Das Dunkel wird durchbrochen, mitten in der Nacht wird es hell; die Trauer weicht der Freude. So geht die Kirche mit dem Gottesdienst dieser einen und besonderen Nacht, der weltweit gefeiert wird, nach, was es mit Passion und Ostern auf sich hat: In alle Dunkelheit unseres Lebens erfahren wir ein wegweisendes Licht; aus aller Erfahrung von Leid und Tod erfahren wir etwas von einem grenzensprengenden Leben an der Seite Gottes. „Das ist ein Leben, das dem Tod entwächst“ (Drewermann).

 

Auf einem solchen Weg erleben wir dann wie es ist, zum Menschsein berufen zu werden, unserer Bestimmung nachzukommen. Gott traut es uns zu, denn der Glaube lässt uns nicht angstvoll hinter verschlossenen Türen sitzen.

 

Ja, liebe österliche Gemeinde, liebe Mitchristen, öffnen wir unsere Herzen, wie verschlossene Türen und lassen wir es zu, dass der Herr unseres Glaubens auch zu uns kommt. Denn sein: „Friede sei mit Euch!“ gilt auch uns, hier in dieser Nacht, in dieser österlichen und ökumenischen Gemeinschaft. „Friede sei mit euch!“ weil auch wir glauben dürfen, was die Christenheit der Welt sich in dieser Nacht und am Ostertag vertrauend zuruft, „Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.“ Amen.

 

 


Literatur:

 

1) Sartre, J.P., Theaterstück, "Die geschlossene Gesellschaft".

2) Drewermann, E., Das Johannesevangelium, Düsseldorf, 2003, S. 334

3) Drewermann, E., a.a.O., S. 343

 

 

Drewermann, E., Leben, das dem Tod entwächst

Auf dem Brinke, G., Calwer Predigthilfen, 1996/1997, Stuttgart, 1996, S. 204

 

 

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