1. Advent 2005, Offenbarung 5,1-14

 

 

 

Begrüßung:

 

Liebe Gemeinde! Es ist wieder Advent geworden, eine weitere Advents- und vorweihnachtliche Zeit in unserem Leben. In ganz besonderer Weise lädt gerade diese Zeit uns dazu ein, unseren Glauben zu reflektieren, ihn auf seinen Wert und Sinn für uns zu hinterfragen. Denn warum sollten wir Weihnachten feiern, wenn es ein Fest bliebe ohne Inhalt?

           

            Lassen wir uns mit Wort und Musik, der ersten Messe, die W.A. Mozart 1768 im Alter von 12 Jahren vertonte, einladen, in den Advent hinein zu gehen, ebenso besinnlich, wie aber auch nachdenklich. So dürfen wir dann darauf hoffen, dass nicht die vielen offenen Fragen, die Zweifel, apokalyptische Untergangsstimmungen uns beherrschen, sondern der Glaube daran, dass Gott kommt, wie und wann auch immer.

           

            „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt...“ (Off. 1,8).

 

 

Gebet:

 

Herr, guter Gott! Wieder einmal gehen wir mit unserem Leben in den stimmungsvollen Advent hinein, in die Zeit des Jahres, wo manches einmal anders sein darf als sonst im Jahr. Hilf uns, dass wir nicht bei unzähligen Engeln, Lichtern, weihnachtlichen Liedern in den Konsumtempeln der Moderne stehen bleiben, der weihnachtlichen Dekoration ohne Inhalte. Lass uns durch alle Ablenkungen hindurch den Grund unseres Glaubens bedenken, um damit auf ein sinnerfülltes Weihnachtsfest zugehen zu dürfen. Das ist heute fast zu viel für uns, darum bitten wir um deinen guten Geist. Amen.

 


In der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, sah ich eine Buchrolle. Sie war innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln verschlossen. Und ich sah einen mächtigen Engel, der mit lauter Stimme fragte: »Wer ist würdig, die Siegel aufzubrechen und das Buch zu öffnen?« Aber es gab niemand, der es öffnen und hineinsehen konnte, weder im Himmel noch auf der Erde, noch unter der Erde. Ich weinte sehr, weil niemand würdig war, das Buch zu öffnen und hineinzusehen. Da sagte einer der Ältesten zu mir: »Hör auf zu weinen! Der Löwe aus dem Stamm Juda und Nachkomme Davids hat den Sieg errungen. Er ist würdig; er wird die sieben Siegel aufbrechen und das Buch öffnen.« Da sah ich direkt vor dem Thron, umgeben von den vier mächtigen Gestalten und vom Kreis der Ältesten, ein Lamm stehen. Es sah aus, als ob es geschlachtet wäre. Es hatte sieben Hörner und sieben Augen; das sind die sieben Geister Gottes, die in die ganze Welt gesandt worden sind. Das Lamm ging zu dem, der auf dem Thron saß, und nahm die Buchrolle aus seiner rechten Hand. Und als es sie genommen hatte, warfen sich die vier mächtigen Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten vor dem Lamm nieder. Jeder Älteste hatte eine Harfe und eine goldene Schale mit Weihrauch; das sind die Gebete der Menschen, die zu Gottes heiligem Volk gehören.

 

Sie sangen ein neues Lied: »Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel aufzubrechen! Denn du wurdest als Opfer geschlachtet, und mit deinem vergossenen Blut hast du Menschen für Gott erworben, Menschen aus allen Sprachen und Stämmen, aus allen Völkern und Nationen. Zu Königen hast du sie gemacht und zu Priestern für unseren Gott; und sie werden über die Erde herrschen.«

 

Dann sah und hörte ich Tausende und aber Tausende von Engeln, eine unübersehbare Zahl. Sie standen mit den vier mächtigen Gestalten und den Ältesten um den Thron und riefen mit lauter Stimme: „Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob!“ Und ich hörte alle Geschöpfe im Himmel, auf der Erde, unter der Erde und im Meer laut mit einstimmen: »Kraft und Reichtum, und Weisheit und Kraft gehören ihm, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm, für immer und ewig.« Die vier mächtigen Gestalten antworteten: »Amen!« Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.

 

 

 


Liebe Gemeinde!

 

Haben Sie Wurzeln? Wurzeln, wie ein Baum, eine Blume, eine Pflanze Wurzeln braucht, um wachsen und reifen zu können? Wenn Ja, worin gründen sich dann unsere Wurzeln, die uns gut verwurzelt leben lassen? Pflanzen brauchen gute Voraussetzungen zum Wachsen, Licht und Wasser in der richtigen Dosierung, Dünger, wo es mit der Reifung nicht so klappt. Kleine Bäume brauchen in der freien Natur einen Schutz gegen den Verbiss durch Rehe oder Wildschweine. Wer wurzellos lebt, droht schnell ins Schwanken und Wanken zu kommen und umzufallen, wenn das Leben einmal anders als erwünscht verläuft.

 

Familie, Herkunft und Traditionen, eine gute Bildung sind solche lebenswichtigen Verwurzelungen, das Wissen darum, woher ich komme und wofür ich lebe. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre scheint eine neue Wertedebatte aufzukommen. Wo es wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht mehr weitergehen kann, wie zuvor, da kommen neue Fragen auf, Nachdenklichkeit ist wieder erlaubt, wo man sich nicht von vorneherein verweigert. Und so gehen wir in diesem Jahr mit ganz besonderen Gefühlen in den Advent, in die vorweihnachtliche Zeit hinein.

 

Wir hatten Bundestagswahlen, die Regierung hat gewechselt, aus den traditionell kleinen Koalitionen in Deutschland wurde eine große Koalition, an die nun auch große Erwartungen gestellt werden. Sofort wurden Untergangsszenarien laut: Die Arbeitgeberverbände sahen ihre wirtschaftlichen Erwartungen nicht genügend berücksichtigt, die Gewerkschaften die Interessen der Arbeitnehmer nicht. Deutschlands Verbände und offensichtlich nicht nur sie, lieben es depressiv zu sein. Da wird der Weltuntergang schnell in den dunkelsten Farben an die Wand gemalt, man sieht seine ureigensten Interessen, aber nur selten darüber hinaus.

 

Solche Stimmungen gab es immer, der Weltuntergang wurde schon oft vorher gesagt, gerade aber in schwierigen Zeiten. Und nun gehen wir in den Advent hinein. Gerade die Adventszeit gehört ja ganz wesentlich zu dem, was wir an tradierten Werten in unseren Familien überliefert bekommen haben. Ein jeder von uns wird sich an die Adventszeit in seinem Elternhaus, seiner Familie erinnern.

 

Das Buch der Offenbarung, bzw. Apokalypse, aus dem unser Predigttext ist, greift dunkle Stimmungen auf. Im Judentum sagten die Propheten voraus, wie es weitergehen würde, im Christentum findet der prophetische Geist in der zunächst jüdischen Apokalypse ihren Niederschlag. Die Welt schien wenig erfreulich, wechselnde Weltmächte versuchten ihre Herrschaft in Israel zur Geltung zu bringen. Und so werden mit Offenbarungen, Träumen und Visionen dunkle Vorhersagen gemacht. Die Natur gerät in Unordnung, Menschen leben ohne Orientierungen. Die Welt ist von Krieg, Pest, Hunger, Erdbeben und einer Verdunkelung der Sonne bedroht. Diese Überlieferung spielte auch für das junge Christentum eine große Rolle, so dass man nun die Welt an ihrem Ende, ihrem Ziel angekommen sah. [1]

 

In der Predigt von Johannes dem Täufer, ja Jesu selbst, sind apokalyptische Gedanken vorausgesetzt, jeder konnte diese Worte verstehen und mit zunehmenden Bedrohungen, wie der Besetzung Jerusalems durch die Römer und der beginnenden Christenverfolgung wurde das endgültige Weltende vorhergesagt. Jesus selbst hatte seine Wiederkehr und das Ende der Zeit angekündigt, ohne dies weiter auszumalen, zu vertiefen. Man spürte, dass es so nicht mehr weitergehen konnte.

So sehen wir vor unserem geistigen Auge nun den Hofstaat Gottes um den herumstehen, der das Buch in der Hand hält, eine mit sieben Siegeln verschlossene Buchrolle. Engelwesen huldigen Gott. Der Seher Johannes sieht hier eine doppelt beschriebene Urkunde. Es bleibt offen, was auf dieser Rolle steht. Doch die nachfolgenden Bilder lassen erahnen, dass es sich hier um den endzeitlichen Geschichtsplan Gottes handelt. Erst mit der Lösung der sieben Siegel werden die Geschicke der letzten Zeit entbunden. Die Siebenzahl deutet auf die Größe der jetzt noch verschlossenen und versiegelten Geheimnisse hin.

 

Ein Engel fragt in den weiten Raum um Gott herum, wer denn nun würdig sei, die Siegel aufzubrechen, aber da ist niemand, der das vermag. Um eben diese Frage geht es nun in der ganzen Vision. Der weinende Seher wird von einem der Ältesten getröstet, der auf den „Löwen aus dem Stamm Juda, einem Nachkomme Davids“ verweist: Er ist würdig. Hiermit wird an die alte jüdische Hoffnung erinnert, dass der Messias aus dem Hause Davids kommen wird, um die Welt zu erlösen. Die junge Kirche übertrug diese Hoffnung auf Jesus Christus. In der Mitte des Bildes sieht der Seher das Lamm. Ein Bild, das zumindest der von Johannes geprägten Gemeinde bekannt gewesen ist. Damit wird der jüdischen Hoffnung im Bild des Löwen nun die christliche im Bild eines Lammes entgegengestellt. Als Zeichen seiner göttlichen Herrschaft hat es sieben Hörner und sieben Augen und gebietet wie Gott selbst über alle Geister und Götterboten.

 

Aber das Lamm trägt eine Wunde am Hals und steht da, als ob es geschlachtet wäre. So wird in einem Bild der Opfertod Jesu und die Herrschaft Jesu Christi angesprochen. Feierlich geht das Lamm auf Gott zu und nimmt die Buchrolle aus seiner Hand, worauf sich die mächtigen Gestalten und die Ältesten niederwerfen und es in hymnischen Chören anbeten. [2] Und nun sieht der Seher die ganzen himmlischen Herscharen, die in das Lob Gottes einstimmen. Wer den nun nachfolgenden Text hört, ist unweigerlich an den Chor erinnert, der fast am Ende des Messias von G.F. Händel traumhaft schön vertont ist. In einer Partitur von 1939 heißt es dazu, sogar von einem DDR Verlag so übernommen: „Und wenn dann  nach dem feierlichen Spruche „Würdig ist das Lamm“ das Fanfarenthema „Alle Gewalt und Preis und Macht einsetzt und schließlich der ganze Chorstrom in die Amenfuge einmündet, dann steht der Hörer, gleichgültig welchen Bekenntnisses und welcher Lebensanschauung, unter dem Banne einer Erscheinung, die uns zu letzter Erhabenheit hinaufführt, aber gleichzeitig stärkt und über uns selbst erhebt. [3] Der Hofstaat Gottes kann nur noch „Amen“ sagen, niederfallen und Gott anbeten! Aber das Buch bleibt dennoch geschlossen, es ist noch nicht so weit.

 

Auch die Musik gehört zu unserer Kultur, zu den Verwurzelungen, die dem Leben eine Orientierung, einen Standort geben, der uns zu leben hilft. Wir hören ja heute keinen Ausschnitt aus dem Messias, aber die erste Messe (Missa brevis in G), die W.A. Mozart 1768 im Alter von 12 Jahren vertonte. Aber was hören wir in der Musik, in der Anbetung Gottes bei Händel oder Mozart? Bleibt sie allein im kulturellen Rahmen, einer - im guten Sinne des Wortes - erbaulichen Musik oder führt sie uns tiefer hinein in den Geist des Gesungenen und Musizierten? So wurde einmal gesagt:

 

„Der Spannungsbogen einer Melodie spiegelt Werden, Sein und Vergehen oder auch das Auf und Ab des individuellen Lebens. Es gibt in ihr melodisches Aufblühen und Welken, es gibt erwartungsvolle Spannung und beruhigende Lösung...

Wir sollten immer wieder daran denken, dass auch unsere höchste Musik – jene `höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie´ (Beethoven) – nichts ist als das Echo eines Widerhalls. Denn unsere menschliche Musik ist nur ein ferner Widerklang des kosmischen Lobgesanges, von dem die Psalmen singen. Und dieser Lobgesang ist wieder nur eine unangemessene Antwort auf den unendlichen Jubel in Gott selbst...“ [4]

 

So gehen wir in den Advent hinein, in ein neues Kirchenjahr. Vielleicht einmal nicht nur oberflächlich verwurzelt, sondern vom Geist eines merkwürdig klingenden apokalyptischen Wortes und seines Geistes - auch von der Musik getragen und ihrem Geist. Nicht umsonst ist gerade die Weihnachtszeit voller festlicher Musik, und wir werden kaum ein Geschäft betreten können, ohne Advents- und Weihnachtslieder zu hören.

 

Wir alle wissen, die Adventszeit ist eine Zeit voller Erwartungen. Auch wenn wir den Himmel über uns noch nicht, wie der Seher aus der Offenbarung, offen sehen und einen jubilierenden Hofstaat um Gott herum, so dürfen wir dennoch hier schon einmal anfangen mit unserem Gotteslob und Dank. Gründe zur Dankbarkeit haben wir – bei genauerem Hinsehen – wirklich genug. Diese vorweihnachtliche Zeit verweist uns darauf, dass das Kommen Jesu, also seine Geburt, nicht nur ein historisches Ereignis ist, sondern dass er in uns selbst zur Welt kommen muss, sollen apokalyptische Bilder und die moderne Weltangst endlich überwunden werden. Sie schenkt uns damit eine Gelegenheit, unsere Stimmungen, Gegenwartsängste und Zukunftssorgen einmal zu überdenken, um einem neuen Geist in uns und für unsere Welt Raum zu schaffen, einem Geist der Hoffnung, einem Geist des Vertrauens.

 

Zu unserer Kultur gehören nicht nur überlieferte Werte, sondern mit diesen gerade auch der Glaube der Kirche. Dabei geht es nicht um ein bisschen Religion fürs mehr oder weniger fromme Gemüt, sondern um den Glauben an die Menschwerdung Gottes in einer unscheinbaren Krippe in einem unansehnlichen Stall in einer ganz und gar unbedeutenden Ecke dieser Welt. Damit geht es an die Wurzeln unseres Glaubens, der mehr sein muss als gut gemeinte Traditionen, und erst damit sind wir an den Anfang gestellt, der es dann auch in uns wirklich weihnachtlich werden lassen kann.

 

Albert Schweitzer beendet sein wirklich berühmtes Werk zur „Leben Jesu“ Forschung von 1906 mit den Gedanken: „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! Und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist ...“ [5]

 

Dass sich dieses Geheimnis auch für uns einmal lüftet, das wünsche ich uns allen mit dieser vor uns liegenden Adventszeit. Amen.


 

 

 

Literatur:

 

1) Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), Apokalyptische Literatur,

    Band I, Tübingen, 19573, Spalte 463 ff

2) Lohse, E., Die Offenbarung des Johannes, Das Neue Testament Deutsch (NTD),

    Band IV, Göttingen, 1965, S. 40 ff

3) Schering, A., G.F. Händel, Der Messias, Klavierauszug, K. Soldan,

    Leipzig, Nr. 51

4) Uhde,J., Zeit und Musik, in: Antwort,

    Karl Barth zum 70. Geburtstag am 10. Mai 1956, Zürich, 1956, S. 753 ff

5) Schweitzer, A., Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen, 19335, S. 642

 

 

Hüttenberger, T., Calwer Predigthilfen, 1999/2000, Reihe IV/I, Stuttgart, 1999, S. 11

Rudnik, A., 1. Advent, Deutsches Pfarrerblatt, Heft 10/2005,

                      http://www.deutsches-pfarrerblatt.de/

 

 

 

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