5. Sonntag nach Trinitatis, Prediger 12, 12-13

 

 

Im Altarraum ist eine große Sammlung mit alttestamentlicher Literatur aufgestapelt: Viele Bücher mit vielfach in Frage stehenden theologischen Aussagen...

 

 

Begrüßung:

 

Liebe Gemeinde! Sie sehen hier einen ganzen Stapel ausgewählter Bücher, theologische Bücher ausschließlich zum Alten Testament. Vieles von dem, was wir im Studium einmal lernten, unsere theologischen Lehrer erforschten und lehrten, ist heute überholt. Das Wort Gottes im Alten- und im Neuen Testament ist Grundlage des christlichen Glaubens, die Theologie aber notwendig, um es über den garstigen Graben der Zeit hinweg für unser Leben zu begreifen und fruchtbar zu machen. So lässt uns die moderne Sprachforschung heute zu ganz neuen Erkenntnissen, auch Übersetzungen kommen. Lassen wir uns dazu einladen, einmal über das Verhältnis vom biblischen Wort selbst und der Theologie als Wissenschaft darüber, nachzudenken.

 

In der alten Weisheitsliteratur Israels heißt es: Im übrigen lass dich warnen, mein Sohn: Es werden viel zu viele Bücher geschrieben, und das viele Grübeln kann dich bis zur Erschöpfung ermüden. Fassen wir alles zusammen, so kommen wir zu dem Ergebnis: Nimm Gott ernst und befolge seine Gebote! Das ist alles, worauf es für den Menschen ankommt.

 

 

 

Gebet:

 

Herr, guter Gott! Auch wenn die Bibel, als dein Wort, heute noch und immer wieder gekauft wird, es bleibt dem modernen Menschen fremd. Wir sind vom Lärm des Alltags umgeben, uns erhellen die Lichterketten der Reklame unseren Weg, aber dein Wort geht an uns vorbei. An den Schwellen unseres Lebens hören wir es noch: Bei der Taufe unserer Kinder, der Konfirmation unserer Jugendlichen, wenn wir unsere Ehen schließen oder von einem Mitmenschen Abschied nehmen. Herr, lass uns durch alle Tage unseres Lebens von deinem Wort begleitet werden. Es hält unserem Leben stand, es kann uns ermutigen, trösten, warnen. Es schenkt unserem Leben tragfähige Orientierungen und damit Sinn. Auch unsere kritischen Rückfragen erträgt es, die wissenschaftliche Erforschung und unsere Auseinandersetzung mit ihm. Herr, wie sollten wir dich hören, wenn nicht im Hören auf dein Wort.

 

Herr, so danken wir dir für die Tiefe der Weisheit, die Schönheit der Sprache, die Vielfalt der Glaubensaussagen, die wir aus deinem Wort heraus hören. Du, Gott, begegnest uns durch dein Wort. Amen

 

 

Im übrigen lass dich warnen, mein Sohn: Es werden viel zu viele Bücher geschrieben, und das viele Grübeln kann dich bis zur Erschöpfung ermüden. Fassen wir alles zusammen, so kommen wir zu dem Ergebnis: Nimm Gott ernst und befolge seine Gebote! Das ist alles, worauf es für den Menschen ankommt.

 

 

 

 

Liebe Gemeinde!

 

Es gibt, wir kennen das wohl alle, ganz besondere Augenblicke im Leben, Zäsuren, Einschnitte, wo wir etwas ganz Neues erfahren, Bisheriges in Frage steht. Oft sind es im Blick auf Glaube und Theologie Augenblicke der Entscheidung, wo ich mir Rechenschaft darüber ablegen muss, was ich denken und glauben will und welche Bedeutung neue Erkenntnisse für mein Leben haben sollen. Glaube, soll er tragen, muss ja durchdacht sein, da reichen Gefühle nur selten. Und insofern ist jeder Christ, der es ernst mit seinem Glauben meint, auch ein Theologe, der sich bewusst oder unbewusst und mehr oder weniger wissenschaftlich mit dem Grund unseres Glaubens befasst, der Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift, der Bibel.

 

Einen solchen Augenblick, der mich fasziniert und zugleich auch berührt hat, haben wir kürzlich im Pfarrkonvent, dem Zusammentreffen aller Pfarrer und Pfarrerinnen im Kirchenbezirk erlebt, als von Prof. Jürgen Kegler die neueren „Entwicklungen in der alttestamentlichen Forschung“ referiert wurden. Alles, aber auch wirklich alles, was ich in meinem Studium über das Alte Testament erfahren habe, steht heute in Frage. Was an theologischen Erkenntnissen über viele Jahrzehnte hinweg, fast unhinterfragt, Gültigkeit besaß, muss ganz neu begriffen werden.

 

Texte sind anderen Zeiten und damit auch anderen Verfassern zuzuordnen. Uns vertraute Begriffe müssen durch eine weiter vorangeschrittene Sprachforschung ganz neu übersetzt und in das Leben hinein übertragen werden. Und manches bewegt sich inzwischen auch in der neutestamentlichen Theologie. Zu sehr waren wir wohl in der Vergangenheit auf bestimmte Auslegungsmodelle fixiert, die nun neuen und anderen weichen müssen. Doch was hat das alles mit unserem Glauben zu tun?

 

Tief bewegt hat mich vor Jahren ein unangemeldeter Besuch bei einer sehr alten Dame aus der UdSSR. Ich wurde von ihrer Tochter in das Zimmer der Mutter begleitet, die am Ende des Raumes saß und in einer alten Bilderbibel las. Ich setzte mich zu ihr und sie schob mir die aufgeschlagene Bibel mit einem Bild zu, auf dem Jesus über den See Genezareth wandert. Sie meinte, mich anschauend, dass es doch schön sei, dass Jesus über den See gehe. In dem Moment war ich gefragt: Hier alle Theologie, die ich einmal gelernt hatte, dort der tiefe Glaube einer alten Frau. Nach einem kurzen Augenblick bestätigte ich ihr ihre Meinung, weil mir bewusst war, dass hier kein theologischer Vortrag mit noch so klugen Erkenntnissen Sinn machen würde. Ich verdanke dieser Frau eine entscheidende Erkenntnis:

 

Natürlich hatte sie nie studiert, in Russland ja schon gar nicht, aber sie hatte ihre Bibel gelesen, sie kannte ihre Bibel und wurde durch deren Wort und Geist durch ihr ganzes leidvolles Leben getragen:

Da waren die unsäglichen Vertreibungen, der Verlust von Heimat und Vertrautem, von Menschen, die sie liebte, aber sie vertraute dem Wort Gottes. Es war das Wort, das diese Generation in Russland zusammen hielt, sie vereinte und das zugleich eine Brücke zur alten Heimat war. In der deutschen Sprache wurde die Bibel gelesen, gesungen und gebetet. Da gab es keine besondere Theologie, aber es gab einen tragfähigen, tief verwurzelten Glauben, der seine Wurzeln in der Theologie der württembergischen Vorfahren hatte. Gerade für uns Protestanten gibt es ja eine grundlegende Wechselwirkung zwischen dem biblischen Wort und dem Leben und damit bekommt die Bibelauslegung durch die Predigt ihre große, ja einschneidende Bedeutung für uns alle. Denn: Wie höre ich das Wort Gottes und wie übertrage ich es dann in mein Leben hinein, damit es kein inhaltsleeres, geistloses Wort bleibt? Hören wir doch einmal, was die zwei großen Reformatoren Martin Luther und Johannes Calvin zum Verhältnis von Schrift und Glaube sagen: So sagte M. Luther einmal:

 

„Das Wort ist nicht die Bibel als ein geschriebenes Buch, denn `das Evangelium ist eigentlich nicht das, was in Büchern beschlossen und in Buchstaben gefasst ist, sondern vielmehr eine mündliche Predigt und ein lebendiges Wort, eine Stimme, die durch die ganze Welt klingt... Denn nicht durch unser Denken, unsere Weisheit, unsern Willen entsteht in uns der Glaube Christi, sondern durch ein unbegreifliches und verborgenes Wirken des Geistes, der uns durch den Glauben in Christus gegeben wird, allein auf das Hören des Wortes hin ohne alles andere eigene Tun...´“ [1] An einer anderen Stelle sagt er: „Evangelium aber heißt nichts anderes denn ein Predigt und Geschrei von der Gnad und Barmherzigkeit Gottes durch den Herrn Jesum Christum ... Evangelium zu predigen ... ist nichts anderes denn Christus zu uns kommen ( zu lassen) oder uns zu ihm zu bringen...“ [2] Und Calvin schreibt in seiner berühmten Institutio:

 

„Wer zu Gott, dem Schöpfer, gelangen will, der muss die Schrift zum Leiter und Lehrer haben... Das ist gewisslich ein einzigartiges Geschenk Gottes: Er braucht zur Unterweisung seiner Kirche nicht bloß stumme Lehrmeister, sondern öffnet selbst seinen heiligen Mund! Und dabei gibt er nicht bloß Anweisungen, es sei irgendein Gott zu verehren, sondern er zeigt sich selbst als den, der verehrt werden will... Wenn wir die starke Meinung des Menschen bedenken, Gott zu vergessen, wenn wir seinen Hang zu allerlei Irrtümern sehen und wenn wir gewahr werden, wie gierig er sich immer neue, falsche Religionen  erdenkt, dann können wir ermessen, wie nötig solche schriftliche Aufzeichnung der himmlischen Lehre war, damit sie nicht durch Vergessenheit entstellt, im Irrtum der Eitelkeit preisgegeben oder durch menschliche Vermessenheit verdorben würde... Es ist also besser, auf diesem Weg zu hinken, als auf einem Abweg zu rennen!“ [3]

 

Kein Christ lebt ohne bestimmte Theologien, bestimmte Überzeugungen zu dem, was er aus der Schrift für sein Leben, seinen Glauben hört. Immer wurde ihm ja das biblische Wort durch die Eltern, Religionslehrer, im Konfirmandenunterricht oder im Gottesdienst vermittelt, hinzu kommen dann immer noch eigene Vorstellungen. Die ganze Bibel ist ja voll von Theologien, die Propheten hatten ihre, Paulus seine. Und wie oft hören wir bei Jesus selbst, dass er sagt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist, ... ich aber sage euch (Matth. 5, 27ff)...!“ Die alte Dame aus Russland hatte ihre Theologie, die geprägt war vom alten württembergischen Pietismus, ich habe meine Theologie und Sie haben Ihre. Entscheidend ist, dass sich alle Theologie, wie immer sie sich auch äußern mag, am biblischen Wort orientiert und uns in unserem Glauben begleitet, ermutigt, stärkt.

So ist es für Christen selbstverständlich, immer wieder neu nach dem tragenden Grund ihres Glaubens zu fragen und die Bibel in die Hand zu nehmen. Erst so werden wir vom Wort und dem Geist der Bibel durch unser Leben begleitet, aber es kann natürlich nur der so begleitet werden, der die Bibel nicht in der hinteren Reihe seines Bücherschrankes versteckt und verstauben lässt. Die Bibel, als das Wort Gottes an uns, will in jeder Lebensphase neu entdeckt werden und zu uns sprechen. Da stellen sich Fragen, die zu diskutieren sind, und niemand von uns kann damit je fertig werden. Schon in Psalm 1 heißt es: „Wie glücklich ist ein Mensch, der Freude findet an den Weisungen des Herrn, der Tag und Nacht in seinem Wort liest und darüber nachdenkt“ (Ps. 1,2). Von daher ist es zu verstehen, dass es bald eine neue, wichtige Bibelübersetzung in „gerechter Sprache“ geben wird, die aktuelle Erkenntnisse der Sprachforschung aufgreift und umsetzt.

 

Der Theologe Rudolf Bohren schrieb in einem Buch über die beiden Freunde Eduard Thurneysen und Karl Barth: „Mit dem Heiligen Geist bekommen wir Freunde und mit den Freunden Geist... Das Gespräch ist der Geburtsort aller Theologie, und zwar das Gespräch über die Verkündigung... Das Gespräch über die Predigt weist in die Zukunft der Predigt... Der Dialog eröffnet Wege, die vom Einzelnen nicht zu finden und nicht zu gehen sind, er führt den Einzelnen über sich selbst hinaus...“ [4]

 

Dabei dürfen wir ruhig die Warnung unseres alten biblischen Weisheitskehrers hören: „Im übrigen lass dich warnen, mein Sohn: Es werden viel zu viele Bücher geschrieben, und das viele Grübeln kann dich bis zur Erschöpfung ermüden...“ So müsste sicher nicht jedes Buch geschrieben und jede neue Theorie als Wahrheit in die Welt gesetzt werden. Uns trägt also nicht eine bestimmte Theologie durch die Höhen und Tiefen unseres Lebens, sondern das biblische Wort, das sich ja durch unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht ändert. Die Theologie bleibt für viele Christen eher unbewusst. Aber darum ist die Theologie, das wissenschaftliche Bemühen um das Wort Gottes so wichtig für uns, weil wir es verstehen müssen, soll es uns dann auch in unseren Gefühlen begleiten können. Wer der Bibel seinen Verstand verweigert, traut Gott nicht zu, dass er über unserem Wissen und Verstehen steht. Gott erträgt es, wenn wir über jedes Wort der Bibel nachdenken, es theoretisch hin und her wälzen, um letztendlich in unserem Glauben bestärkt zu werden.

 

Wer dieses Denken verweigert, wird schnell in einer Sekte ankommen. Auch dafür ein Beispiel aus meiner früheren Gemeinde: Es klingelt an der Haustür, davor steht ein alter Russlanddeutscher. Er stellt sich als Baptist vor und bittet mich um einen Raum im Gemeindezentrum für seine kleine Gemeinde. Ich erzähle ihm, dass es doch in der Stadt eine Baptistengemeinde gäbe, doch er wehrt ab und sagt: Die beten nicht so wie wir, die knien nicht wie wir beim Beten. Er bekam seinen Raum, aber an diesem Beispiel kann man gut erkennen, wie schnell wir am biblischen Wort vorbei unsere ganz eigenen Vorstellungen zum Maßstab unseres Glaubens machen.

 

So verstehen evangelische Christen von der Reformation her ihren Umgang mit der Bibel und der sie tragenden Theologie: Keiner hat die Wahrheit für sich allein, aber ein jeder Christ ist auf das Miteinander angewiesen, das gemeinsame Hören auf das Wort Gottes. Denn erst so werden wir nicht unsere eigenen Gedanken in die Bibel hinein tragen, sondern das Wort des Gottes an uns hören, der Himmel und Erde und damit auch unser Leben erschaffen hat. Darum gilt, was der Prediger in seiner Weisheit sagt: „Nimm Gott ernst und befolge seine Gebote. Das ist alles, worauf es für den Menschen ankommt...“ Amen.

 

 

 

 

Literatur:

 

1) Bainton, R., Martin Luther, Göttingen, 19676, S. 195

2) Jens, W., Rede des Jahres, Martin Luther: Prediger, Poet und Publizist,

    Süddeutscher Rundfunk, 31.12.1983

3) Calvin, J., Institutio Christianae Religionis, 1536, Mörs, 1955, S. 20 ff

4) Bohren, R., Prophetie und Seelsorge, Neukirchen-Vluyn, 1982, S. 76 f

 

 

Barth, K., Das Wort Gottes und die Theologie, München, 19251, S. 18 und 28

Barth, K., Die Kirchliche Dogmatik, Die Lehre vom Wort Gottes, Zürich, 1952, S. 89 ff

 

 

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