16. Sonntag nach Trinitatis, Klagelied 3,22-26.31+32, 11. Sept. 2005

 

 

 

 

Begrüßung:

 

Liebe Gemeinde! Wir alle erfahren in unserem Leben Leiden, und niemand von uns bleibt da unbeschadet. Wir erfahren unsere Grenzen, sehen unsere Zukunft in Frage gestellt, jeder von uns wird älter und schließlich einmal alt und muss lernen, damit umzugehen. Wir erleben Krankheit, machen Verlusterfahrungen und erleben mitten im Leben den Tod. Aber wie gehen wir damit um und sind solche Erfahrungen nicht auch Räume und Zeiten im Leben, wo wir Gott oft näher sind, als wir es meinen?

           

Herr, bei dir suche ich Zuflucht; enttäusche nicht mein Vertrauen! (Psalm 71,1).

 

 

 

Gebet:

 

Herr, guter Gott! Es gibt so vieles, was uns gefangen hält und uns in unserem Leben einengt. Rollen, auf die wir festgelegt sind; Erfolge, denen wir nachjagen; Erwartungen, die wir nicht erfüllen können oder erfüllt bekommen. Wir alle erleben das Schattenhafte, Dunkle im Leben, Schuld und Versagen, so kommen wir nun zu dir und bitten um deine Gegenwart in unserem Leben. Lass uns dein Wort so hören, dass wir zu einem ebenso ernsthaften, wie fröhlichen Christsein ermutigt werden. Deshalb danken wir dir für dein gutes, verheißungsvolles Wort. Amen.

 

 

Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben. Sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende, seine Liebe ist jeden Morgen neu und seine Treue unfassbar groß. Ich sage: Der Herr ist mein ein und alles; darum setze ich meine Hoffnung auf ihn. Der HERR ist gut zu denen, die nach ihm fragen, zu allen, die seine Nähe suchen... Darum ist es das beste, zu schweigen und auf die Hilfe des Herrn zu warten. Der Herr verstößt uns nicht für immer. Auch wenn er uns Leiden schickt, erbarmt er sich doch wieder über uns, weil seine Liebe so reich und groß ist.

 

 

 

Liebe Gemeinde!

 

Erinnern Sie sich noch an den 11. September 2001, einem Tag, der wohl jedem zivilisierten Menschen die Sprache verschlug und der Weltmacht USA ihre Grenzen aufzeigte. Präsident Bush sagte dazu in einer Rede: "Der 11. September 2001 wird im Leben Amerikas immer ein Moment bleiben, in dem die Zeit stillstand. Der Verlust so vieler Menschenleben ließ uns einen Blick auf unser eigenes Leben werfen. Wir wurden daran erinnert, dass wir alle nur für bestimmte Zeit hier auf Erden sind und dass diese begrenzte Zeit Dingen gewidmet werden sollte, die von Bedeutung und bleibendem Wert sind: Liebe für unsere Familie, unsere Mitmenschen, unser Land. Dankbarkeit für das Leben und Dank an den, der es gegeben hat...“ [1]

 

Die Konsequenzen, die aus dieser Erfahrung gezogen wurden, waren der unverständliche, unrechtmäßige Krieg im Irak und eine nachhaltige Bekämpfung des weltweiten Terrors, leider oft mit fraglichen Mitteln geführt. Es mangelte den Verantwortlichen an Geduld, Klugheit und genaueren Kenntnissen der islamischen Welt. Aber wer sich in vielen patriotischen Reden auf Gott beruft und bezieht, der sollte aufzeigen, wie sein Glaube und die Wirklichkeit der Welt zusammenpassen und eine Politik gestalten, die dem inneren und äußeren Frieden, dem Recht und der Gerechtigkeit dient. Schon dadurch würde dem Terror entschiedener und sicher auch geistvoller entgegengetreten. So folgt wieder nur Unrecht auf Unrecht.

 

Hören wir noch einmal in unseren Text aus den Klageliedern hinein. Dort heißt es: „Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben... seine Liebe ist jeden Morgen neu und seine Treue unfassbar groß. ... Der Herr ist mein ein und alles; darum setze ich meine Hoffnung auf ihn... Auch wenn er uns Leiden schickt, erbarmt er sich doch wieder über uns, weil seine Liebe so reich und groß ist...“

 

So reagiert ein Mensch auf die traumatische Erfahrung der Zerstörung Jerusalems und der Verwüstung des Tempels, so kann man also auch auf die Katastrophe eines Lebens, ja eines ganzen Volkes reagieren. Eine Erfahrung, die für Israel weit existentieller war, als der 11. Sept. für die USA, und mit sehr viel weiterreichenden Folgen und Konsequenzen für das Volk Gottes. Das Volk wurde ins Exil vertrieben, und mit dem Verlust des Tempels hatte man seine geistige und geistliche Mitte verloren. Wo sollte Gott sein, wenn der Tempel zerstört war? Quälend stand die Frage nach der Größe Gottes im Raum, wenn doch scheinbar die Götter der Feinde über den Gott Israels siegen konnten. Ohnmächtig war man Babylon ausgeliefert, heimatlos bis in den Glauben hinein.

 

 

„Wenn Gott diese Welt erschaffen hat, möchte ich nicht Gott sein, denn das Elend der Welt würde mir das Herz zerreißen, so der Seufzer des großen Pessimisten Arthur Schopenhauer.“ [2] Das Leiden begleitet jedes Leben und es fragt nicht nach Religion oder Konfession, nach Herkunft oder Bildung, nach Geschlecht oder Generation und so formulierte schon Buddah in seiner ersten Predigt: „Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, mit Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, nicht erlangen, was man begehrt, ist Leiden...“ [3] Leiden wird also über Religions- und Konfessionsgrenzen hinweg als die große menschliche Grunderfahrung des Lebens angesehen.

 

Gerade bei unseren Beerdigung nehmen wir uns der existentiellen Not des Menschen an, erinnern wir daran, dass Gott uns zur Seite steht, auch wenn wir aus unserem Fragen nach dem „Warum“ kaum heraus kommen. In unsere eigene Sprachlosigkeit und Fassungslosigkeit lassen wir es zu, dass Gott redet und uns sein Wort zum Trost wird, so, wie dieser Mensch aus den Klageliedern sich Gott zuwendet und von diesem Gott Hilfe erwartet. Gott ist ihm kein „schwarzer Pädagoge“, sondern derjenige, dem man sein Leid entgegen klagen darf, um dadurch wieder zu Wort zu kommen und neue Hoffnungen für das bedrängte Leben zu gewinnen.

 

Aber wie soll das angehen in einem Land, das sich seinem Gott so entfremdet hat, wie wir es um uns herum erleben? Der SPIEGEL titelte in seiner vorletzten Ausgabe: „Gläubige verzweifelt gesucht – Heimkehr des Papstes in ein unchristliches Land!“ Und weiter heißt es dort: „Gebet wird höchstens mittwochs und samstags, wenn die Lottokugeln rollen. Gebeichtet wird im Chat-Forum. Die Antwort auf die Sinnfrage wird selbst gebastelt: ein bisschen Jesus, viel Karriere und im Zweifel ein Blick in die Augen der eigenen Kinder... Deutschland ist kein gottloses Land – im Gegenteil, es hat sogar viele Götter. Es gibt ein Bedürfnis nach Glaube, nicht aber nach dem Christentum...“ [4]

 

Alle Untersuchungen zeigen also, wie sehr der Glaube dennoch unter uns verwurzelt ist und wie hoch nach wie vor die Erwartungen an die Kirchen sind. Der Weltjugendtag in Köln hat es ja ebenfalls gezeigt – und doch leben wir vielfach am Kern des „christlichen“ Glaubens vorbei und legen uns unsere eigenen Religionen zurecht. Die Frage ist nur, wie tragfähig ein solcher Glaube ist, wenn es darauf ankommt?

 

Das Beispiel der politischen Reaktion auf den 11. September 2001 in den USA zeigt, dass schon die religiösen Voraussetzungen eben nicht mehr stimmen. Präsident Bush zieht unter Berufung auf seine christlichen Werte in einen Kreuzzug gegen den Terrorismus, ohne überhaupt noch zu merken, dass er ja gerade nicht dem Wort und Geist Gottes folgt, sondern seiner eigenen Ideologie, die er sich von Gott und den christlichen Werten zurecht gelegt hat. Das Ergebnis kennen wir. Von daher sollten wir gewarnt sein und vor allem all jene Politiker, die nun im Wahlkampf die „Wahrheit“ für sich reklamieren und Werte beschwören, weil auch sie Gefahr laufen, ihrem eigenen Geist oder Ungeist zu folgen, anstatt dem Wort und Geist des biblischen Gottes. Wollen wir darauf als Christengemeinde angemessen reagieren, so wird fast jeder Dienst einer Gemeinde zu einer „missionarischen Gelegenheit“ für uns, die wir nutzen oder vertun können.

 

Gerade die „Kasualien“ sind der Ort, an dem sich der dem Glauben entfremdete Mensch von Mit-Christen begleitet wissen und von Gott ansprechen lassen darf und das gilt über Beerdigungen, Trauungen, Ehejubiläen, Taufen und Konfirmationen hinaus, für alle Kontakte in der Gemeinde - bis hin zu jeder Gelegenheit, wo unser Glaube, als christlicher Glaube ebenso ernsthaft und anspruchsvoll wie aber fröhlich gelebt und bezeugt wird.

 

Im Gegenüber zu dem, was uns der Weltjugendtag im August gezeigt hat, sollten wir evangelischen Christen endlich wieder einmal lernen, stolz auf unser reformatorisches Erbe zu sein, denn nur so werden wir andere von dem, wofür wir mit unserem Glauben einstehen, überzeugen. Es gibt nicht den geringsten Grund, uns zurück zu nehmen, umgekehrt aber, weil unsere Gesellschaft es nötig hat, jeden, unseren Glauben offensiver in das öffentliche Leben unserer Gesellschaft hinein zu leben. Wir sind diejenigen, die zeigen müssen, was es auf dem Hintergrund auch dunkler Welt- und persönlicher Lebenserfahrungen heißt, dass „der Herr mein ein und alles“ ist und wie das aussehen kann, wenn „er uns Leiden schickt, er sich auch „wieder über uns erbarmt, weil seine Liebe so reich und groß ist.“ Unser Glaube ist doch keine blutleere Theorie, sondern erlebbare Wirklichkeit und das heißt es wieder unter uns deutlich werden zu lassen. Ist nicht gerade die Taufe unserer Kinder ein Anlass, das einmal ganz neu zu bedenken und dann glaubhaft zu leben, denn was geben wir unseren Kindern mit, womit sie künftig leben könnten?

 

Unser biblischer Mitmensch lebt aus einem Grundvertrauen heraus, das tief in ihm verwurzelt ist. Er vertraut seinem Gott existentiell und nur darum kann er so, trotz all der dunklen Welterfahrungen, sprechen. Jeder von uns lebt mit seinem Maß an Vertrauen, aber durch unsere Lebenserfahrungen kann dieses einmal stärker oder auch schwächer ausgeprägt sein. Und darum gilt es durch eine gewisse Nachdenklichkeit und die Bereitschaft, sich mit dem Leben und mit seinem Glauben auseinander zusetzen, das Vertrauen immer wieder zu bestärken. Wenn das Vertrauen verloren gehen kann, dann kann es auch zurück gewonnen werden. Darum sollten wir uns weigern, auf die unseligen Untergangspropheten zu hören, die aus Eigensinn und Eigennutz das ganze Leben schwarz in schwarz malen ohne noch zu differenzieren. Denn uns ist ein Leben geschenkt, für das wir gar nicht dankbar genug sein können. Ein offener Blick in die Welt könnte es zeigen.

 

Es geht nicht mehr um einen unhinterfragbaren Glauben, der einfach so gilt, weil wir ihn irgendwie vererbt bekommen haben, sondern es geht darum, den Glauben als das Vertrauen auf die Liebe Gottes immer wieder neu zu entdecken. Das schafft unseren Kindern, ja uns selbst die Hoffnung, die wir zum Leben und für eine gelingende Zukunft brauchen, jenseits der Bilder die uns oft in den Medien vorgegaukelt werden und plakativer Wahlkampfsprüche.

 

Der biblische Mensch aus den Klageliedern ist kein Einzelfall in dem, wie er seinen Gott glaubt und erlebt. Viele von uns haben gerade in tiefsten Stunden ihrer Existenz Gott ebenso erfahren. Und darum lohnt es sich, in unser Leben zurück zu gehen und so gut es geht, fröhlich zu glauben und zu bekennen: Ja, dieser Herr und Gott ist mein ein und alles... und auch dort, wo er uns Leiden schickt, erbarmt er sich doch wieder über uns... Mit einer solchen Zuversicht lässt es sich leben – dennoch und trotz allem, was uns das Leben auferlegt. Amen.

 

 

 

Literatur:

 

1 Bush, Präsident George W., 11. September 2002, Internt:

   http://www.usembassy.at/de/us/9_11.htm

2) Hartlieb, G., u.a., Spirituell leben, Freiburg, 2002, S. 230

3) Hartlieb, G., a.a.O., S. 231

4) SPIEGEL, Nr. 33, 15.08.05, Das Kreuz mit den Deutschen, S. 136ff

 

 

 

Wendorf - von Blumröder, S., Deutsches Pfarrerblatt, Heft 8/2005,

                                                http://www.deutsches-pfarrerblatt.de/

Erne Th., Calwer Predigthilfen, 1998/1999, Reihe III/2, Stuttgart, 1999, S. 150ff

Jörns, K.-P., Notwendige Abschiede, Gütersloh, 20042,

 

 

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