22. Sonntag nach Trinitatis, Matthäus 18,15-20
»Wenn dein Bruder - und das gilt entsprechend für die Schwester - ein Unrecht begangen hat, dann geh hin und stell ihn unter vier Augen zur Rede. Wenn er mit sich reden lässt, hast du ihn zurückgewonnen. Wenn er aber nicht auf dich hört, dann geh wieder hin, diesmal mit ein oder zwei anderen; denn jede Sache soll ja aufgrund der Aussagen von zwei oder drei Zeugen entschieden werden. Wenn er immer noch nicht hören will, dann bring die Angelegenheit vor die Gemeinde. Wenn er nicht einmal auf die Gemeinde hört, dann behandle ihn wie einen Ungläubigen oder Betrüger. Ich versichere euch: Was ihr hier auf der Erde für verbindlich erklären werdet, das wird auch vor Gott verbindlich sein; und was ihr hier für nicht verbindlich erklären werdet, das wird auch vor Gott nicht verbindlich sein. Aber auch das versichere ich euch: Wenn zwei von euch auf der Erde gemeinsam um irgend etwas bitten, wird es ihnen von meinem Vater im Himmel gegeben werden. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen zusammenkommen, da bin ich selbst in ihrer Mitte.«
Liebe Gemeinde!
Wer von uns hätte sich noch nicht darüber gewundert, vielleicht sogar auch geärgert, wenn er erst von einem Dritten hört, was ein anderer besser ihm selbst hätte sagen sollen. Das Reden übereinander in Abwesenheit schafft immer ein ungutes Klima, das ist in jeder Firma so, in jedem Verein, jeder Organisation, aber auch in jeder Gemeinde. So fühlt sich der Betroffene anderen ausgeliefert, ohne dass man Gelegenheit gehabt hätte, etwas zunächst ganz persönlich und unter vier Augen zu klären, bevor man mit anderen darüber spricht. Oft geht es dabei ja um persönliche Meinungen, vielleicht unterschiedliche Wahrnehmungen, manchmal aber auch um harte Vorurteile. Jesus selbst hält diesen Vorgang für so wichtig im Umgang untereinander, dass er ihn an bedeutsamer Stelle anspricht.
Es geht um eine Ethik des Miteinander, eine andere Kultur des Umgangs, gerade auch dann, wenn es ein Problem zwischen zwei Menschen gibt. Ich erlebe es in der Seelsorge ja oft, dass ein Mensch zu mir kommt, um sich über einen anderen Menschen auszusprechen. Immer wieder versuche ich dann, zunächst zu einem Gespräch miteinander zu ermutigen, erst wenn das nicht möglich ist oder nicht gelingt, zu einem gemeinsamen Gespräch einzuladen. Viele, gerade junge Rechtsanwälte in Deutschland leben davon, dass Menschen nicht mehr miteinander reden, sondern übereinander, aneinander vorbei und oft sogar im Streit gegeneinander anreden.
Dahinter steht nicht immer ein mangelndes Vertrauen, sondern oft die mehr oder weniger bewusste Absicht, seine eigene Meinung schon einmal abzusichern, was dazu führt, dass persönliche Meinungen und Wertungen unter das Volk gestreut werden, die vielfach sehr vorschnelle Vorurteile begründen. Ist erst einmal über einen anderen geredet, lässt sich das bekanntlich so schnell nicht wieder aus der Welt schaffen. Daher Jesu Forderung, dass Menschen zunächst einmal miteinander und unter vier Augen reden sollen, es dient dem Frieden und es schafft Frieden.
In der Presse bekommen wir ja mit, dass immer mehr in der Öffentlichkeit stehende Menschen sich dagegen wehren, dass selbst ihr ganz privates Leben in Bildern festgehalten und dann mit entsprechenden Texten kommentiert wird. So wird gezielt Neugier befriedigt, ohne dass die Betroffenen sich dagegen wehren könnten. Nicht umsonst sprechen wir von Meinungsmachern und die gibt es überall, wo immer Menschen zusammen leben und in Beruf oder Freizeit miteinander zu tun haben. Sie sind Unruhestifter, oft ohne selbst darüber nachgedacht zu haben, denn geredet wird schnell, vor allem über andere.
Jesus zeigt in seinem ethischen Entwurf eines menschenfreundlichen Umgangs miteinander, wie es auch sein könnte. So schlägt er einen abgestimmten Stufenweg, eine praktikable Konfliktlösungsstrategie der Kommunikation vor: Zuerst soll unter vier Augen miteinander gesprochen werden, wenn es etwas zu klären gibt. Erst wenn das zu keiner Lösung führt, dann soll man einen oder zwei weitere Gesprächspartner hinzuziehen, hilft das dann immer noch nicht, erst dann soll die Angelegenheit vor die Gemeinde gebracht werden. Wir alle spüren, wie sehr wir damit angesprochen sind, weil wir alle nur allzu gern über anstatt mit anderen reden, vor allem, wenn ich in einer Frage eine andere Meinung habe, etwas ungeklärt oder zweifelhaft ist. Erst danach spricht Jesus davon, den, der nicht zuhören will, wie einen Ungläubigen oder wie einen Betrüger anzusehen. Was weitreichende Konsequenzen hatte.
In der jungen Kirche, aber dann auch in der Reformationszeit griffen die Mächtigen, Kirchenmänner, wie Politiker gern zum Mittel des Bannes. Wer sich schließlich und endlich in Glaubensfragen nicht überzeugen ließ, wurde mit dem Bann bedroht, mit dem Ausschluss aus der Kirche, was einer gesellschaftlichen Ächtung gleichkam. So wurde Martin Luther 1520 mit dem Bann bedroht, aber er ließ die Bannbulle vor den Toren Wittenbergs von Studenten unter großer Anteilnahme verbrennen. Vom Bann durch die Reformation bedroht, waren aber auch evangelische Christen, die eine andere Lehre wie die Reformatoren vertraten, wie z.B. die Täufer und Schwärmer, was gerade in auch in Zürich unter Zwingli zu Verbannungen, ja zu Todesurteilen führte.
Man musste sich in der zugespitzten Auseinandersetzung mit der katholischen Lehre und Rom um den „wahren“ Glauben von all jenen abgrenzen, die ihre eigenen Meinungen zum Maßstab machten und deren Weg sich innerhalb der Reformation nicht mit dem deckte, was andere aus dem biblischen Wort heraus hörten und nun gegen Rom vertraten. Eine Front war mehr als genug. Hier jedenfalls schieden sich die Geister, hier wurden, wo man nicht auf die Gemeinde hören wollte, Menschen ausgeschlossen. So sagt Martin Luther in einer Predigt: „Es ist das Gerücht aufgekommen, ich wollt etliche Leute bannen und davon ist nu groß Geschrei...“ „Es ist das Gerücht aufgekommen...“, Luther weiß nichts, aber man redet von etwas, was man ihm unterstellt und so verwahrt er sich dagegen. Er schließt den Bann unter Berufung auf unser Gotteswort zwar nicht aus, aber er fordert zunächst zum Gebet der ganzen Gemeinde auf: „Ich banne keinen um meinetwillen allein, sondern ihr Christen müsst alle dazu tun mit eurem Gebet...“ [1]
Gerade konnten wir lesen, dass es in der Bischofssynode, die zur Zeit in Rom tagt, Überlegungen gibt, z.B. Politiker von der Eucharistie auszuschließen, die sich für die Möglichkeit der „Homo-Ehe, Abtreibung, Scheidung und ähnliche familienfeindliche Akte“ aussprechen. [2] Wie aber würde Jesus selbst wohl handeln? Hat nicht gerade er dazu aufgefordert, unzählige Male zu vergeben, anstatt nach Vergeltung zu rufen und der Vergebung unendlich viel Raum zu geben?
Aber was uns hier dennoch gedanklich zugemutet wird, ist zu erkennen, dass in der Kirche, im Volk Gottes nicht jedes Wort ein wahrhaftiges Wort ist. Unwahrheit und Lüge, gerade in Glaubensfragen, müssen dann schließlich und endlich auch als solche benannt werden. Wir nehmen heute wahr, dass andere sich von der Kirche trennen, wenn sie ihren Weg für den einzig möglichen und richtigen halten, wie wir es von den Sekten her kennen. Ein Gespräch um die biblische Wahrheit ist da oft nicht mehr möglich, weil der Glaube auf einige wenige biblische Grundaussagen und persönliche Meinungen verengt wird.
Wie wichtig diese Gedanken für Jesus selbst in unserem Text sind, zeigt, dass er sofort zum Gebet überleitet. Wo sich Menschen gerade in Konfliktsituationen zusammen schließen, um zu beten, da wird man zumindest eher Wege zueinander finden, als mit Worten übereinander herzufallen. Jesus traut es uns zu, dass wir mit unseren Anliegen zu Gott kommen können, ihm unsere Bitten vortragen, denn gerade so wird Gott uns entgegenkommen. Beten, das heißt eine Frage, ein Problem, Menschen und Gruppen, ja Kirche und Welt vor Gott zu bringen.
Wer für einen anderen Menschen, der ihm auf dem Magen liegt, betet, anstatt über ihn zu reden, wird oft keinen Rechtsanwalt mehr brauchen, auf alle Fälle dann aber aus einem anderen Geist heraus, die persönliche Auseinandersetzung suchen.
Wer betet sieht die Welt oft mit ganz anderen Augen, was absolut nicht heißt, dass Gott jedes unserer Gebete erhören wird. Zunächst bleibt noch zu fragen, ob wir denn überhaupt beten und nicht nur reden? Denn aus was für einem Geist heraus reden wir mit unserem Gott? Ist es nicht so, dass das, was wir erbitten, eben oft einfach so gar nicht dem entspricht, was Gott selbst für uns will – und uns das dann erst im Rückblick auf unser Leben klar wird?
Es sind die Wege, die Gott für uns erdacht hat, Wege, die unseren Wünschen, unserem Eigensinn allerdings entgegenstehen. Und mancher unter uns wird erahnen, wovon ich spreche. Beten wir denn nicht im Vaterunser, ohne darüber nachgedacht zu haben, was wir da eigentlich beten: „Dein Wille geschehe...!“ Dem großen, starken Petrus wurde in eben diesem Zusammenhang von Jesus gesagt: „Amen, ich versichere dir: Als du jung warst, hast du deinen Gürtel selbst umgebunden und bist gegangen, wohin du wolltest; aber wenn du einmal alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich binden und dich dorthin bringen, wohin du nicht willst.“ (Joh 21,18). Viele von uns kennen das aus ihrem eigenen Leben, dass das, was man sich vom Leben erwünschte, erträumte, eben nicht in Erfüllung ging, und man schließlich und endlich in einem anderen Leben aufwachte.
Wenn wir das Gebet Jesu ernstnehmen, das wir immer und immer wieder beten, dann muss auch die Bitte „Dein Wille geschehe...!“ ernst - und so schwer es manchmal im Leben ist - angenommen werden. So gab der Theologe Helmut Gollwitzer seinem bekannten Buch über seine unendlich leidvolle Kriegsgefangenschaft in Russland den Titel: „Und führen, wohin du nicht willst...!“ [3] Wo wir dass im Leben akzeptieren lernen, können Gott und Mensch sich im Gebet treffen, da kann das Gebet auch das eigene Leben und damit das anderer verändern. Gerade das Fürbittengebet am Ende unserer Gottesdienste lässt uns ja spüren, dass das Gebet, recht verstanden, immer ein soziales Beten ist. Wir beten für andere - ob sie uns gefallen oder nicht. Wir beten für alle, die uns ein Vorbild im Glauben sind, für alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, für unsere Gemeinde, für die St. Laurentius - Pfarrei, für unsere Stadt und für die Welt. So öffnet sich im Gebet die Perspektive aus unserem Leben hinaus, hinüber zu anderen, auch zu all jenen, die uns zur Last fallen.
Was geben wir unseren Kindern bei der Taufe denn eigentlich mit, wenn es nicht dieses Vertrauen, dieses Grundvertrauen wäre, dass es Gott ist, der ihr Leben, ihre Gegenwart und Zukunft begleiten wird und zwar in allen Erfahrungen ihres Lebens und eben nicht nur in guten, schönen Zeiten, in Zeiten also, wo uns alles gelingt und die Welt hoffnungsvoll und offen erscheint.
Darum ermutigt Martin Luther zum gemeinsamen Beten. Er sagt: „Wenn ihr euch schwach fühlt, so bleibt nicht allein, sondern lasst mit euch von Christus reden, damit ihr euch nicht allein mit dem Teufel beisst. Denn er ist ein solcher Disputator: Wo er den Kopf hineinbringen kann, da kriecht er mit dem ganzen Leibe nach. Darum nimm den Bruder hinzu! (Denn) es heißt: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen...“ [4] So wünsche ich uns allen den Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, so dass wir auch durch unser Beten - allein oder miteinander - immer wieder Wege finden, die zueinander führen und gerade nicht trennen und ausgrenzen. Gott begleite uns auf diesem Weg einer Ethik des Miteinander und einer immer besseren Kultur des Umgangs mit unserem und dem Leben aller Menschen, die uns auf unserem Weg begegnen. Amen.
Literatur:
1) Luther, M., Evangelien Auslegung, Das Matthäus-Evangelium,
Hrsg. E. Mühlhaupt, Göttingen, 19734, S. 616
2) DER SPIEGEL, Nr. 42/17.10.05, S. 125
3) Gollwitzer, H., ... und führen, wohin du nicht willst, München, 19523
4) Luther, M., a.a.O., S. 621
Barth, K., Predigten 1913, Gesamtausgabe Bd. 8, I. Predigten, Zürich, 1976, S. 15 f
Schweitzer, A., Predigten 1898-1948, München, 2001, S. 907 f
Drewermann, E., Das Matthäusevangelium, Zweiter Teil, Düsseldorf, 1994, S. 450 f
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