13. Sonntag nach Trinitatis, Lukas 10, 25-37
Begrüßung:
Liebe Gemeinde! Was unterscheidet eine allgemeine Menschlichkeit, die von jedem erwartet werden kann, von einer Nächstenliebe, wie Jesus sie für alle Menschen im Blick hat? Mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter werden uns die Augen dafür geöffnet, wem wir zum Nächsten werden sollen, denn: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan (Matth. 25,40).
Gebet:
Herr guter Gott! Weil jeder von uns mit seinem Leben beschenkt ist, mit seinem Mitteln und Möglichkeiten, darum lass uns aufeinander acht haben, gerade dort, wo wir einem Mitmenschen zum Nächsten werden könnten. Lass uns nicht wegschauen, weghören und weglaufen, wenn wir gefordert sind. Führe du selbst uns durch deinen guten Geist zu einer Menschlichkeit, die sich in unserem Glauben an Dich begründet und immer wieder etwas aufleuchten lässt von deiner Gegenwart in unserer oft so bedrängten Welt. So danken wir dir heute für alle Menschen unter uns, die uns mit ihrem Glauben ein Vorbild sind und die sich in unserer Gemeinde und Kirche mit ihrem Engagement einbringen. Vor dir bringen wir nun auch voller Dankbarkeit alle Menschen in Erinnerung, die uns den Weg zu dir vorangegangen sind – und beten für uns, unsere Gemeinde, für alle unsere katholischen Mitchristen, unsere kleine Stadt und für die ganze Welt. Amen
Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Liebe Gemeinde!
Als Jesus dieses Gleichnis erzählt, hat er die Straße zwischen Jerusalem und Jericho im Blick, eine Straße durch eine staubige, karge Bergwüste, die teilweise so abweisend wirkt, wie es Menschen sein können. Hier lag eine alte Karawanserei, deren Reste noch heute zu sehen sind. Viele Menschen wurden auf diesem Weg bis in die Neuzeit hinein überfallen und ausgeraubt. Auch Jesus kannte natürlich diese wichtige Verkehrsverbindung zwischen Jericho und Jerusalem und wählt sie für sein Beispiel aus, weil hier auch Menschen aus anderen Ländern durchzogen: Kaufleute, Händler und Pilger aus aller Welt, Juden und Nichtjuden.
Um es gleich zu sagen, wir werden heute nicht nach dem Tun und Lassen des Priesters oder des Leviten fragen, weil mir das viel zu einfach erscheinen würde. Hinter ihrem Rücken könnten wir uns dann verstecken: Der böse Priester, der nichts tut und dann dieser Mitarbeiter am Tempel in Jerusalem, der einfach wegschaut. Schnell wären wir bei einer billigen Kritik an Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern, die nie das tun, was wir von ihnen erwarten. Dabei vergessen wir nur allzu gern, dass nicht sie, die Pfarrer oder kirchlichen Mitarbeiter, die Kirche sind, sondern wir alle. Und wenn wir die Kirche kritisieren, so stehen wir alle in der Kritik, die wir getauft und daher die Kirche sind. Nein, hinter niemandem können wir uns verstecken, wenn es darum geht, einem anderen zum Nächsten zu werden.
So sagt Martin Luther in seiner kräftigen Sprache in einer Predigt zur Geschichte vom Barmherzigen Samariter: „... Rechtschaffende Heilige (und damit sind wir gemeint) lassen ihre Nächsten nicht im Stich und laufen nicht von ihnen weg... Falsche Heilige aber lassen Gott und den Nächsten fahren und suchen sich einen anderen Weg zum Himmel...“ Und weiter: „Was sind das für heillose Heilige, die da sehen, dass der Nächste Mangel hat, und helfen können, es aber dennoch nicht tun... Also sinds Stockheilige, Steinheilige und Teufelsheilige, die da meinen, unser Herr Gott sei ihnen alle Dinge schuldig, sie aber niemand gar nichts...“ 1)
Schon hier könnten wir einen Punkt machen und Amen sagen, denn schon damit wäre so viel über Gott, Mensch und Mitmensch gesagt, dass wir lange damit zu tun hätten, es miteinander und füreinander zu leben. Gerade heute müssen wir aber noch ein wenig tiefer in den Text – und was er uns sagen will - hinein hören. Seit 1999 werden im Auftrag der Bundesregierung immer wieder Untersuchungen zum freiwilligen ehrenamtlichen Engagement durchgeführt und das Ergebnis könnte lauten: „Helfen ist in!“ Über 60% der Deutschen sind demnach in Verbänden, Initiativen oder Projekten, in einem Verein oder einer Gruppe mehr oder weniger stark engagiert, so dass der Staat ohne dieses ehrenamtliche Engagement kaum noch auskommen könnte. 2)
Das aber führt ja direkt zur Frage: Wer ist denn nun mein Nächster, nach dem Jesus diesen Schriftgelehrten damals fragt? Und die Antwort lässt sich ableiten aus dem Doppelgebot der Gottes – und der Menschenliebe, die für Jesus untrennbar miteinander verbunden sind. So heißt es schon im Glaubensbekenntnis Israels im Alten Testament: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt (5. Mose 6,5) und dann an einer anderen Stelle weiter:
„Und deinen Nächsten wie dich selbst!“ (3. Mose 19,18). Das sind für Jesus keine nebeneinander stehenden Sätze mehr, sondern sie bilden eine untrennbare Einheit und das ist eine massive Zuspitzung dessen, was bis dorthin aus den beiden Sätzen heraus gehört wurde. Schon der große jüdische Glaubenslehrer Hillel hatte als eine „Goldene Regel“ gesagt: „Was dir verabscheuungswürdig ist, füge auch keinem anderen zu. Das ist die Gesamtheit der Thora, der Rest ist Kommentar darüber. Jetzt geh hin und lerne“ 3) Auch wenn es Jesus in der Bergrede ähnlich formuliert: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7,12), so gehen seine Gedanken doch in eine ganz andere Richtung. Für Jesus geht es nicht um ethische Fragen, sondern um einen Glauben, der seinen Weg ins Leben findet. Für Jesus geht es um die Gottesbeziehung des Menschen, aus dem sich dann ein entsprechendes Handeln ableitet. Eugen Drewermann, ein bekannter katholischer Theologe versucht das mit folgender Geschichte deutlich zu machen:
„Hillel (von dem wir eben schon einmal hörten) entstammte einer jüdischen Familie, die aus Babylon nach Jerusalem ausgewandert war, so dass er bei Schemaja und Avtalyon studieren konnte; nur mit Mühe vermochte er seine Familie zu ernähren; als er einmal an einem Freitag kein Geld hatte, um einen Lehrvortrag bezahlen zu können, stieg er aufs Dach, um durch die Luke zuzuhören; dort fand man ihn am Sabbatmorgen halb erfroren, so dass er sich kaum bewegen konnte und zu sterben drohte. Da trugen seine Lehrer ihn in die Stube und zündeten trotz des Sabbatgebotes (...) ein Feuer an, denn, so sprachen sie, er sei es wert, dass für ihn der Sabbat einmal nicht befolgt werde... Das ist zweifellos im Sinne Jesu gedacht und gehandelt, aber es ist gebunden an die ausnahmsweise „Würdigkeit“ eines Menschen, es begründet sich nicht aus der generellen Hilfsbedürftigkeit des Menschen und schon gar nicht aus der Wesensart Gottes, wie Jesus sie sieht...“ 4)
Das erklärt sehr schön, worum es geht: Die beiden jüdischen Religionslehrer sind für einen Menschen, den sie für würdig und wertvoll halten, bereit, das Sabbatgebot einmal zu brechen, nicht aber darum, weil dieser Mensch jetzt ihre Hilfe braucht. Gott beurteilt die Bedeutung eines Menschen ja eben nicht nach dem, wie gut oder schlecht er war, groß oder klein, bedeutend oder unbedeutend. Für Gott ist der Mensch ein Mensch und sein Ebenbild – und darum ist der Not eines jeden Menschen abzuhelfen, denn in ihm begegnet uns Gott selbst.
Der „Nächste“ das war im herkömmlichen Verständnis ein Familienmitglied, Freund, ein Mitarbeiter, vielleicht auch noch jemand aus dem gleichen Ort, der gleichen Nation, der gleichen Konfession oder Religion, aber - und das ist das entscheidende, damit grenzen wir uns ja sofort schon wieder ab und andere aus. Im Bild des Samariters, eines ganz und gar Fremden in jeder Hinsicht, macht Jesus deutlich, dass eigentlich schon die Frage: „Wer ist denn mein Nächster“ falsch gestellt ist. Die Antwort Jesu ist: Der ist dein Nächster, der dich jetzt braucht und dem du selbst zum Nächsten wirst in dem du gerade nicht weg schaust, weg hörst und Ausreden dafür suchst, weshalb gerade du jetzt nicht gefragt bist. Die Frage lautet also: Wem werde ich zum Nächsten?
Anderen zu helfen ist also nicht an Berufe oder Kenntnisse gebunden. Da ist eben nicht nur ein Pfarrer, ein Arzt, ein Polizist oder Sozialarbeiter gefragt, das Rote Kreuz oder die Caritas, da geht es auch nicht wie bei der Umfrage der Bundesregierung um unser organisiertes ehrenamtliches Engagement.
Es geht darum, wie wir unseren Glauben leben, wie die Menschenfreundlichkeit Gottes in die Welt hinein gelebt wird. Natürlich müssen wir überaus dankbar dafür sein, dass unsere Sozialsysteme bei allen Schwächen letztlich doch funktionieren. Niemand bleibt in Deutschland unversorgt, wenn er medizinische Hilfe braucht, keine Wohnung hat oder diese nicht bezahlen kann, niemand verhungert, weil eine Grundversorgung gewährleistet ist. Das aber entlässt niemanden aus seiner Verantwortung, menschlich zu leben und Gott eben damit die Ehre zu geben.
Natürlich können wir mitmenschlich und menschenfreundlich leben ohne an Gott zu glauben, Menschlichkeit findet sich ja auch außerhalb des Christentums. Aber für Jesus ist es auf dem Hintergrund seines Glaubens unerlässlich, diese Verbindung zwischen Humanität, Mitleid und Glaube herzustellen. Auch in einer rabbinischen Geschichte wird noch einmal sehr schön beleuchtet, wer mein Nächster ist und warum es so wichtig ist, ihn als solchen auch zu erkennen.
„Ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann? fragte einer der Schüler. Nein, sagte der Rabbi. Ist es, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann? fragte ein anderer. Nein, sagte der Rabbi. Aber wann ist es dann? fragten die Schüler. Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ 5)
Das erklärt, warum wir auf das Evangelium, die frohe Botschaft Jesu hören, denn es führt uns mitten in das Leben, den Alltag hinein, es beleuchtet unser Leben mit all seinen Irrtümern und Fehlern und hilft uns jeden Tag neu mit dem Glauben anzufangen und dem Vertrauen darauf, dass es Gott ist, der uns die Menschen finden lässt, denen wir zum Nächsten, zur Schwester oder zum Bruder werden sollen. In ihnen finden wir Gott. Auf diesem Weg schenken wir der Welt, die hier in unserer Mitte beginnt, ein menschliches Gesicht und unserem Glauben Augen und Ohren, Hände und Füße. Amen.
Literatur:
1) Luther, M., Evangelien Auslegung, Dritter Teil, Markus- und Lukasevangelium,
Hrsg. E. Mühlhaupt, Göttingen, 19684, S. 147ff
2) Eurich, J., Göttinger Predigtmeditationen, 2009, 63. Jhrg., Heft 3, Göttingen,
S. 397
3) Drewermann, E., Das Lukasevangelium, Band I, Düsseldorf, 2009, S. 761
4) Drewermann, E., a.a.O., S. 764
5) Sölle, D., Sympathie, Theologisch – politische Traktate, Stuttgart, 1978, S. 55
Jens, W., Kanzel und Katheder, Reden, München,
Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, München, 1984, S. 153
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