Weihnachten, Micha 5,1-3
Doch dir, Betlehem im Gebiet der Sippe Efrat, lässt der Herr sagen: »So klein du bist unter den Städten in Juda, aus dir wird der künftige Herrscher über mein Volk Israel kommen. Sein Ursprung liegt in ferner Vergangenheit, in den Tagen der Urzeit.« Der Herr gibt sein Volk den Feinden preis, bis eine Frau den erwarteten Sohn zur Welt bringt. Dann werden die Verschleppten, die noch am Leben sind, zu den anderen Israeliten zurückkehren. Im höchsten Auftrag des Herrn, seines Gottes, und mit der Kraft, die der Herr ihm gibt, wird er die Leute von Israel schützen und leiten. Sie werden in Sicherheit leben können, weil alle Völker der Erde seine Macht anerkennen.
Eine Weihnachtsgeschichte erzählt von einem Engel, der bei uns die Ankunft des göttlichen Kindes verkünden sollte. Als er die hellerleuchtete Stadt sah, staunte er: So viele glitzernde Lichter-Sterne! Dazu die Musik über das göttliche Kind aus allen Ecken und Häusern, er traute seinen Ohren kaum. Der Duft nach Mandeln, Anis und Zuckerwatte erfüllte die Luft. „Oh, ich komme zu spät,“ dachte er. „Sie wissen es schon, sie feiern schon, sie sind schon unterwegs zur Krippe im Stall.“ Erst als er sah, wie Männer und Frauen, ohne zu singen, an ihm vorbeihasteten, wurde er aufmerksam. „Ihr Mund ist stumm, ihre Hände sind voller Taschen und Tüten, und sie schauen suchenden Auges umher, als hätten sie etwas vergessen“, sagte er leise. Da kam ein kleines Mädchen zu ihm, zeigte ihm eine große Tüte und sagte: „Habe ich vom Weihnachtsmann, geh zu ihm, der gibt dir auch eine.“ Der Engel wollte gerade seinen Mund öffnen, da hörte er eine Frau rufen: „Suse, steh nicht herum, wir müssen noch ein Geschenk für Oma kaufen. Komm, gleich schließen die Geschäfte.“ Weg war die Kleine. Nach und nach wurden die Straßen menschenleer, nur die Lichter leuchteten, und der Engel stand noch immer unter dem Baum auf dem Marktplatz. „Was soll ich tun? Sie feiern schon!“ sagte er leise vor sich hin. Und noch leiser: „Nur das Kind fehlt. Sonst haben sie alles, alles.“ [1]
Ja, liebe Gemeinde, es fragt sich vielleicht gerade am Weihnachtsfest, was uns fehlt, schauen wir auf all das, was wir haben und was uns auch in diesem Jahr wieder beschert wurde. Da war doch was? - da war doch was, jenseits dekorierter Wohnzimmer und Hauseingänge, jenseits alter Weisen und beschwörenden Friedensgrüßen, jenseits gefüllter Taschen und Tische, jenseits aller obligatorischer Verwandtschaftsbesuche? Weihnachten lässt uns, nachdem nicht nur die Weihnachtsglocken, sondern auch die Kassen klingen, wieder und wieder nach einem Mehrwert fragen, nach dem, was mehr Wert ist und mehr Wert hat als das, was wir aus Weihnachten machen:
Die kritische Frage widerspricht durchaus nicht dekorierten Wohnzimmern und Hauseingängen, alten Weisen und beschwörenden Friedensgrüßen, gefüllter Taschen und Tische und schon gar nicht den Verwandtschaftsbesuchen dieser Tage. Es fragt sich nur, was im Vordergrund und was im Hintergrund, was Anlass und eigentlicher Grund dieses großen, tiefen, schönen, aber eben auch ernsten Festes ist? Doch wer fragt danach noch?
Der Prophet Micha hat eine Vision. Oft waren es dunkle Drohungen, welche die Propheten dem Volk auszurichten hatten, einem Volk, das seinem Gott immer wieder weggelaufen ist. Nun aber, nachdem das Zentrum des Reiches, Jerusalem und der Tempel zerstört sind und das Volk vertrieben ist, darf der Prophet ein Wort der Hoffnung ausrichten. Trost ist angesagt, nachdem Israel, das sich ja sehr bewusst als Volk Gottes sieht, sich in jeder Weise am Ende weiß, selbst die Götter der Feinde scheinen gesiegt zu haben.
Aber Bethlehem ist eine Provokation für die gebildeten Juden, die Oberschicht, die Priesterfamilien, denn Jerusalem ist die Stadt mit dem hochgebauten Tempel und damit die Stadt Gottes, es ist die Stadt der Könige, die Stadt der Bildung und des politischen Apparates. Hier leben die Diplomaten, hier erlebt man Kultur, hier boomt die Wirtschaft. Alles, aber auch alles zielt auf Jerusalem ab und dann redet der Prophet ausgerechnet von diesem unscheinbaren und unbedeutenden Bethlehem etwa 10 km neben Jerusalem?
Der Prophet knüpft mit der Verheißung, die von Bethlehem ausgehen wird, sehr bewusst an eine uralte Tradition an, denn jeder in Israel weiß, dass der große König David in Bethlehem geboren wurde, und dass er ein junger Hirte war, als er von seiner Berufung erfuhr. Der verheißene Führer, der aus Bethlehem kommen wird, soll den heimkehrenden Rest des Volkes wie ein Hirte schützen und leiten. Ausgerechnet Bethlehem, so wird es sich dennoch manch einer gedacht haben, liegt dieser Ort zwar unweit der grossen Metropole Jerusalem, aber er ist eben weit von seiner früheren Bedeutung und inzwischen irgend einer Bedeutung entfernt.
Micha stellt den kommenden Hirten in die Tradition Davids, woran sehr bewusst in der Weihnachtsgeschichte mit den Worten angeknüpft wird: „Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war...“
Dabei hatte er natürlich keine Vorstellung von diesem kommenden Menschen Gottes, aber die Schreiber der Evangelien brachten diese Verheißung dann im Rückblick auf das Leben Jesu mit diesem in Verbindung. Man kannte seine Bibel und niemand anders konnte gemeint sein - als er - den man als den Messias gekommen glaubte. War Bethlehem in der Verheißung schon ein scheinbarer Missgriff, so dieser Mann, der in Bethlehem geboren wurde, ebenfalls. Ein Messias, ein Volkshirte, der musste einfach anders aussehen. Gott sollte dem Volk doch wohl anders begegnen, als ausgerechnet in einem solchen Mann, der am Kreuz endete, ein Spielball religiöser und politischer Interessen war.
Da war kein Revolutionär, der die Massen auf die Barrikaden führte, der sich den wehenden Fahnen gegen Rom voranstellte. Es war ein Mann mit einer unglaublichen Botschaft und deshalb musste er weg, dass aber gerade in dieser Botschaft das Revolutionäre zum Ausdruck gebracht wird, das wollte und konnte wohl auch kaum jemand hören und schon gar nicht glauben. Wie so oft schon, war Gott den Menschen anders erschienen, als sie es sich gedacht hatten – und schon ganz anders, als die selbsterdachten Götter und Götzen der Menschen.
Es ist ein durchaus oft unbequemer Gott, der unsere sehr persönlichen Vorstellungen von ihm sprengt, der sich gerade nicht in die Hand des Menschen gibt und sich von diesem so zurecht biegen lässt, wie er ihn braucht. Gott fordert uns heraus: Bethlehem, nicht Jerusalem, ein Kind im Stall, ein Mann am Kreuz. Da mussten sich die Menschen an den Kopf fassen. Und doch: Wir wissen inzwischen, dass es gerade der Glaube Jesu war, der den Menschen Hoffnung schenkt.
In einer lebhaften Diskussion, die ich vor kurzem in meiner Familie führte, wurde sehr kritisch nach dem Gott gefragt, der Menschen zu früh sterben lässt, Kriege, Unterdrückung, Gewalt und Ungerechtigkeit nicht verhindert. Es siegen immer irgendwie die Falschen. Dabei erinnerte ich an ein Wort von Heinrich Böll, der auf die Frage, „Was halten Sie vom Christentum“, antwortete: „Doch die andere Vorstellung ist weit gespenstischer: Wie diese Welt aussähe, hätte sich die nackte Walze einer Geschichte ohne Christus über sie hinweggeschoben; Baal und Mammon, die aztekischen Götter. Ich überlasse es jedem einzelnen, sich den Alptraum einer heidnischen Welt vorzustellen oder einer Welt, in der Gottlosigkeit konsequent praktiziert würde: den Menschen in die Hände des Menschen fallen zu lassen. Nirgendwo im Evangelium finde ich eine Rechtfertigung für Unterdrückung, Mord, Gewalt; ein Christ, der sich ihrer schuldig macht, ist schuldig...
Unter Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich, und hin und wieder gibt es sie: Christen, und wo einer auftritt, gerät die Welt in Erstaunen. Ich weiß: die Geschichte der Kirchen ist voller Greuel; Mord, Unterdrückung, Terror wurden ausgeübt und vollzogen, aber es gab auch Franziskus, Vincent, Katharina -... Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: Für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie Liebe, für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.“ [2]
Michas Verheißung hat sich erfüllt, doch wieder ganz anders, als ursprünglich erwartet. In der Nachfolge Jesu hat sich die Welt verändert und wir wissen, dass der Glaube hier und da die Welt verändern hilft, die Welt, die bei uns, in unseren Familien, Kirchengemeinden und Städten beginnt. Hier wird es sich zeigen, ob unser Glaube trägt oder wir eben doch nur unseren eigenen Göttern folgen - und wohin sie uns führen, das sehen wir.
Wir feiern Weihnachten, weil damals in Bethlehem etwas begann, von dem schon der Prophet Micha zumindest eine Ahnung hatte. Ausgerechnet Bethlehem, ausgerechnet eine Futterkrippe in einem Stall, aber gerade dort wird Gott Mensch, er kommt in die Tiefe unserer Existenz, er stellt sich uns zur Seite. Ja, feiern wir Weihnachten voller Dankbarkeit - und lassen auch wir uns mit unserem Glauben, unserer Hoffnung und unserer Liebe noch einmal an den Anfang stellen. Wir werden sehen, die Welt wird sich für uns verändern, vielleicht nicht so spürbar bei denen da oben, dafür aber hier unten bei uns. Amen.
Literatur:
1) Reckziegel, I., in: Rack, R., Gottes Wort im Kirchenjahr 1999, Mainz, 1998, S. 55
2) Böll, H., Was halten Sie vom Christentum,
List Bücher, Nr. 105, München 1961, S.22
Bräsen, F., Calwer Predigthilfen, 1998/1999, Reihe III/1, Stuttgart, 1998, S. 47f
Drewermann, E., Der offene Himmel, Düsseldorf, 1990, S. 114f
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