Altjahrsabend 2005/2006, Josua 1,5, Jahreslosung 2006
Begrüßung:
Liebe Gemeinde! Diese Stunde in unserer Kirche schenkt uns noch einmal die Zeit, innerlich zur Ruhe zu kommen, vor dem Trubel und dem Lärm dieser Nacht; dieser Gottesdienst zum Jahreswechsel gibt uns die Möglichkeit unser Leben vor Gott und unserem Leben in der Welt zu bedenken. So wollen wir uns exemplarisch auch an Menschen erinnern, Menschen die in unserer Mitte getauft und konfirmiert wurden, Menschen, von denen Abschied genommen werden musste. Die Erinnerung lässt uns die Weite unseres Lebens spüren und seine Grenzen, sie wirft Fragen auf und schenkt uns, wo wir es zulassen die eine oder andere Antwort. So wollen wir das Wort mitnehmen, das Gott über Josua hinaus in der Jahrslosung für das kommende Jahr auch uns zuspricht:
Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht!
Gebet:
Herr, guter Gott! Wir danken dir für das Brot und den Wein als Zeichen deiner Gegenwart in unserer Mitte, als Möglichkeit aber auch, dir und den Mitmenschen unseren Glauben zu bekennen. Wir danken dir gerade heute Abend für die Zeit unseres Lebens, die du uns überlässt; Du schenkst uns unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und ein Stück Zukunft. Wir danken dir für dieses große, uns unverfügbare Geschenk unserer Lebenszeit. Wir bitten dich an diesem Jahrswechsel, lass uns bedacht mit unserer Zeit umgehen, uns Zeit finden für Dich und den Mitmenschen.
Begleite uns auf unserem Weg in ein neues Jahr unseres Lebens und lass uns dankbar auf das Vergangene zurückschauen. Schenke uns ein illusionsloses Hoffen und eine fröhliche Zuversicht für einen jeden neuen Tag und alle Lebenserfahrungen, die wir machen werden.
Wir danken dir für alle Menschen unter uns, die uns mit ihrem Glauben ein Vorbild sind und die sich in unserer Gemeinde und Kirche mit ihrem Engagement einbringen. Vor dir bringen wir nun auch voller Dankbarkeit alle Menschen in Erinnerung, die uns den Weg zu dir vorangegangen sind – und beten für uns, unsere Gemeinde, die St. Laurentiuspfarrei, unsere kleine Stadt und für die ganze Welt. Amen.
Gott spricht:
Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht!
Liebe Gemeinde!
Obgleich ja ein Tag dem anderen folgt, wie eine Stunde einer anderen, so ist dieser Abend im Ablauf eines Jahres doch anders. Dem Weihnachtsfest mit seinen Erwartungen, erfüllten und unerfüllten Wünschen, folgt Sylvester. Auch auf diesen Abend bereiten wir uns vor, planen den Übergang von einem Jahr zu einem anderen im Kreis der Familie und Freunden. Wie an einem Geburtstag werden wir mit dem Jahreswechsel daran erinnert, dass wir leben und gerade weil wir leben, in der uns geschenkten Zeit unterwegs sind.
Viele von uns erleben diesen Abend ein wenig nachdenklich. Man schaut zurück und denkt an die Ereignisse, die das vergangene Jahr prägten. Exemplarisch für dieses Unterwegssein im Leben haben wir die Namen aller Kinder und Jugendlichen verlesen, die im vergangenen Jahr getauft und konfirmiert wurden. Gern hätten wir auch die jungen Ehepaare noch einmal genannt, die den Bund für die Ehe geschlossen haben, doch es gab im zurückliegenden Jahr keine kirchliche Trauung in Kenzingen. Ganz bewusst haben wir noch einmal der Verstorbenen gedacht, von denen Gemeindeglieder Abschied nehmen mussten, deren Lebensweg zu Ende gegangen war.
Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Bestattungen sind Lebensstationen, Schwellenriten, die uns in besonderer Weise nach unserem Leben und gerade auch über die Grenzen unseres Lebens hinaus fragen lassen. Sie markieren unter anderen die zentralen Eckpunkte einer Biographie und stellen auch in der nachmodernen Gesellschaft die wesentlichen Übergangsriten dar. Dass wir gerade an solchen „Schwellen“ im Leben über unser Leben nachdenken, oft ja gerade auch mit einem Gottesdienst, macht Sinn, weil uns die veränderte Zukunft so offen scheint und das Vergangene danach verlangt, bedacht zu werden, soll es einen Sinn für die Zukunft geben.
Auch dieser Abend schenkt uns mit einem Gottesdienst die Möglichkeit, danach zu fragen, was denn nun eigentlich im vergangenen Jahr wichtig und bedeutsam für uns war, was uns gelungen oder aber auch misslungen ist, wo gab es Anfänge zu erleben und wo musste Abschied genommen werden? Wer so aus seinem Leben heraus zurück schaut und das Erlebte nachdenklich bedenkt, wird damit aber zugleich an seine Zukunft erinnert. Sie ist unabgeschlossen, offen, weshalb wir sie mit guten Wünschen angehen.
So wirft auch die Zukunft Fragen auf, weil wir uns dem Rätselhaften unseres Lebens ausgeliefert sehen. Was wird dieses vor uns liegende Jahr in unserem Leben bringen? Welche Erfahrungen dürfen wir machen oder müssen wir erleiden? Was wird uns in Schule und Beruf, in der Familie und den uns wichtigen Lebensbereichen gelingen oder misslingen? Und so stehen wir an diesem Abend an der Schwelle von einem Jahr zum anderen, je nach Alter, Lebenserfahrungen und der eigenen Biografie: Nachdenklich, vielleicht ein wenig traurig, und eben viele von uns doch auch voller Neugier, Erwartungen und Hoffnungen.
Josua steht an einer ganz bedeutsamen Schwelle seines Lebens. Die lange Wüstenzeit ist vorbei, das gelobte, von Gott selbst in Aussicht gestellte Land, ist greifbar. Moses ist verstorben, nicht einmal ein Grab ist vorhanden, an dem man seinen Erinnerungen nachhängen könnte. Josua weiß um all das, was war, die vielen Jahre in der Wüste: Entbehrungen, Hunger, Hitze und immer wieder die Auflehnung gegen Gott, dem man oft nicht zutraute, seinem Volk gangbare Wege zu weisen. Und so steht er an dieser Grenze in seinem Leben, aber er weiß nicht, was kommen wird. Das Land ist ihm unbekannt, er ahnt nicht einmal, wie die Menschen, die es seit jeher bewohnen, darauf reagieren werden, wenn andere hinzuziehen. Die Zukunft ist ihm offen, ein Rätsel.
Und in diese Situation hinein sagt Gott zu ihm: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht!“ Er hört ein Wort, doch wird es tragen? Wie oft erleben wir es, dass uns ein Wort gesagt wird, wobei dann erst die Zukunft zeigt, in wie weit es uns getragen hat. Oder, dass wir selbst ein Wort sagen, bei dem sich eben erst in der Zukunft erweist, in wie weit es trägt oder eben nicht, eine Bedeutung erhält oder ihm diese versagt ist: Das Ja bei der Taufe unserer Kinder; das Ja, bei unserer Konfirmation; das Ja bei unserer Hochzeit. Konnte das Wort trösten, das ich beim Abschied eines vertrauten Menschen zugesprochen bekam? Ohne Worte geht es nicht, wir wären dem Schweigen ausgeliefert, doch welche Bedeutung bekommen sie für uns an den Schwellen unseres Lebens?
Heute wünschen wir uns Glück für das neue Jahr, vielleicht sogar hier und da: Gottes Segen für die Zukunft, worin mehr deutlich würde, dass alles Glück und alles Unglück mit eingeschlossen wäre. Denn auch im Unglück ist und bleibt unser Gott immer der uns zugewandte, der väterlich oder mütterlich zu glaubende Gott. So erfährt Josua seinen Gott, er verlässt sich auf ihn, weil er Gott als den erfahren hat, der ihn eben nicht fallen lässt oder allein lassen wird – ganz gleich, was war, ganz gleich, was kommen wird: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht!“ Mit einem solchen Wort, dem Josua vertraut, kann er nun die weiteren Schwellen überschreiten, er kann der unbekannten Zukunft entgegen gehen.
Schaue ich mich hier in der Kirche um, so weiß ich von einigen, dass auch sie sich auf ein Wort oder auf das gute Wort Gottes verlassen, welches sie durch ihr Leben begleitet oder bei einem Abschiednehmen getröstet hat. Sie haben Gott im Wort erfahren, herausfordernd, ärgerlich, mahnend oder eben auch bestärkend, ermutigend, tröstend. Und eben so dürfen wir nun auch die neue Jahreslosung als ein Wort hören, das einem jeden von uns mit auf den Weg in das neue Jahr zugesagt wird. Ein Wort, das Gott uns für alle Erfahrungen, die Guten oder Belastenden schenkt.
Wir werden im kommenden Jahr immer wieder einmal von Dietrich Bonhoeffer hören, dessen 100. Geburtstag ansteht. Dietrich Bonhoeffer, an dessen Leben abzusehen war, was er glaubte, in dessen Leben deutlich wurde, was theologische Reflexion bewirken kann, soll der Glaube wirklich fundiert sein. In einem Aufsatz zu Bonhoeffer wurde gesagt: „Die Aufgabe jeder soliden Theologie lässt sich auch so beschreiben: Scharf, ja polemisch zu unterscheiden zwischen Hoffnung und Illusion – zumindest in einer Zeit, in der der Mensch keiner Hoffnung traut, die er nicht selber errichtet oder selber demontiert hat. Woran dürfen wir unsere Hoffnungen hängen? Und woran hängen wir sie tatsächlich? ...
Wenn mir nur zwei Worte blieben, um zu sagen, worin mir Dietrich Bonhoeffer als ein Vorbild auch für den heutigen und für den zukünftigen Protestantismus erscheint, dann wären diese beiden: illusionsloses Hoffen. Ein scharfes Unterscheiden also zwischen Illusion und Hoffnung. [1] Bis zum Ende hin hat ihn Theologie und Glaube illusionslos, aber voller Hoffnung getragen, ihn in die Nachfolge Jesu begleitet und in dieser Nachfolge gestützt.
Für Josua gibt es keine Zusage für eine materielle Sicherheit, nicht einmal für ein gewisses Maß an Glück im Leben, aber Gott steht dafür ein, dass Zukunft möglich ist. Und damit konnte er die Schwelle zwischen Gestern und Morgen überschreiten, er konnte endlich Grenzen überwinden, ankommen und Heimat finden. Dabei blieb auch ihm die Zukunft offen, so dass er, wie jeder andere Mensch auch, jeden neuen Tag als solchen angehen und meistern musste. Ein Bild für unsere eigene Existenz.
Für das kommende Jahr, für diese zahllosen und unendlichen Wege ins Unbekannte, offene hinein wünsche ich Ihnen allen illusionslos aber voller Hoffnung eine „fröhliche Zuversicht“.[2] Keine Illusionen werden uns helfen, den Alltag mit all seinen Herausforderungen durchstehen zu können, aber die Hoffnung vermag es, gerade die Hoffnung darauf, dass Gott auch uns anspricht und meint, wenn er sagt: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht!“ In diesem Vertrauen dürfen wir nun aus einem vergehenden Jahr unsers Lebens in ein neues hinein gehen.
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Amen.
Literatur:
1) Leicht, R., Über die Bedeutung Dietrich Bonhoeffers für den Protestantismus
heute, in: www.ekd.de/vortraege/bonhoeffer.html
2) Barth, K., Parrhesia, Karl Barth zum achtzigsten Geburtstag, Zürich, 1966, S. 8
Sylla, A., 1. Januar 2006, Josua 1, 1 - 9, http://www.deutsches-pfarrerblatt.de
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