Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

1. Sonntag nach Trinitatis, 2.6.2002
5. Mose 6, 4-9
Abendmahl, St. Andeas Hecklingen

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Bekenntnisse begleiten uns auf unserem Lebensweg: wir bekennen uns zu unserer Frau, dem Mann, der Familie, zu dem Betrieb, in dem wir arbeiten, zu einer Konfession oder Religion. Wir bekennen uns manchmal sogar zu bestimmten Überzeugungen und Werten. Heute wird uns in diesem Gottesdienst das zentrale Bekenntnis des Glaubens Israels, das Sch’ma Israel, begegnen. Es ist das Bekenntnis, auf dem sich ja auch der Glaube Jesu und damit der Glaube aller Christen weltweit begründet.

Gebet:

Gott, wie einfach machen wir es uns heute mit unseren Bekenntnissen, und wie schnell sind sie in Frage gestellt, vergessen oder verleugnet, wenn sie uns etwas an Zeit, an Zuwendung, an Glaubwürdigkeit kosten. So beklagen wir oft lautstark den Zustand in unserer Gesellschaft, anstatt selbst damit anzufangen, die Zustände dort zu verändern, wo wir selbst es tun könnten. Herr, schenke es unseren Mitmenschen, dass wir ihnen mit unserer Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit begegnen. So bringe du dich mit diesem Gottesdienst wieder in unserem Leben und für das Leben anderer in Erinnerung. Schenke uns "Merkzeichen", welche uns jeden Tag neu darauf aufmerksam machen, wes guten Geistes Kinder wir sind, so, wie es uns auch Jesus Christus vorgelebt hat.
Amen. 5. Mose 6, Vers 4-9

Liebe Gemeinde!

Die Tiefe und Bedeutung unseres heutigen Predigttextes gerade für den jüdischen Glauben können wir Christen nur erahnen. Das "Höre Israel" ist im Grunde kein Gebet, es ist das "Herzstück des Judentums, sein Glaubensbekenntnis" (Ben Chorin), doch mit einer viel tieferen Bedeutung, als wir Christen unser Glaubensbekenntnis sprechen und nachdenken. Deshalb ist dieses betende Bekenntnis zu dem einzigen, unteilbaren Gott Israels allen Kindern von frühester Kindheit einzuschärfen, deshalb soll man es sich zum Beten am Morgen und am Abend an den Arm und auf die Stirn (Tefillin) binden, deshalb an die Pfosten des Hauses (Mesusa) befestigen.

Jeder Tag soll so mit diesem Gott beginnen und enden, darf sich der Mensch der Liebe Gottes erinnern, die ihm mit seinem Leben und der ganzen Schöpfung geschenkt ist und auf die er nun mit seiner Liebe zu Gott antwortet: "Höre Israel: ER unser Gott, ER (ist) Einer! Liebe denn IHN, deinen Gott, mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele, mit all deiner Macht ...", so übersetzt Martin Buber, der große jüdische Religionsgelehrte diesen Text.

Der ganze Mensch ist, mit seinem Gefühl und Verstand, mit dem, was ihn als Mensch vor Gott ausmacht, von Gott angesprochen und gemeint, und eben dieser Mensch ist es, der nun Gott schenkt, was er geben kann: das Bekenntnis seines Glaubens, - Zeit, sich zu erinnern, sich Gott gegenwärtig zu bitten auf den Weg in den Tag, - auf den Weg in die Nacht, - auf den Weg aus dem Haus, - auf den Weg, wenn es möglich ist, sogar in den Tod - und dann erst recht. Nicht umsonst greift Jesus im Gespräch gerade darauf zurück, bestätigt es seinen Hörern und macht unmissverständlich deutlich, dass wirklich in einer tieferen Bedeutung leben wird, wer so handelt und danach lebt (Lukas 10, 25-27).

Die Gebetsriemen (die Tefillin) und die Pfostenanschrift (die Mesusa) an Haus- und Wohnungstüren sind Merkzeichen, sind wie ein Stück biblischer Pädagogik. In den Kapseln befindet sich das "Sch’ma" Israel, das "Höre Israel", wie dieses Bekenntnis kurz nach seinen Anfangsworten genannt wird, handschriftlich abgeschrieben und amtlich autorisiert bis auf den heutigen Tag. Das Wort ist begreifbar, spürbar, es begleitet das ganze Leben.

Wie können Christen heute begreifen, was dieses gebetete Bekenntnis in seiner Tiefe für einen Juden, der seinen Gott liebt, existentiell bedeutet? Wir können es letztendlich nur ahnen. So gilt, dass man beim Sprechen dieses Bekenntnisses die Hand auf die Augen legen soll und aller Märtyrer gedenke, all jener, die für ihren Glauben an Gott, für ihr Judesein sterben mussten.

Elie Wiesel, der Birkenau, Buchenwald und Auschwitz überlebte, erzählt in seinem Buch "Der Bettler von Jerusalem" von einem Zaddik (einem Gerechten), der sich in sein Gemach einschließt, den Kopf in seinen Händen vergräbt und zu Gott betet:

"Ich habe Deine Gerechtigkeit und Deine Güte niemals in Zweifel gezogen, obwohl ihre Wege mir oft entgangen sind. Ich habe alles erduldet, alles mit Liebe und Dankbarkeit, nicht mit Resignation auf mich genommen. Ich habe die Strafen, das Absurde und das Blutbad angenommen, ich habe schweigend sogar den Tod einer Million Kinder übergangen. Im Schatten des unerträglichen Geheimnisses von Auschwitz habe ich den Wutschrei in mir unterdrückt und das Verlangen, ein für allemal Schluss zu machen, abgetötet ... Ich habe mich gezwungen, den Dolch, den Du so oft in mein unterwürfiges Herz gesenkt hast, in einen Gesang zu verwandeln. Ich bin nicht mit dem Kopf gegen die Wand gerannt, und ich habe mir nicht die Augen ausgekratzt, um nichts mehr zu sehen, und nicht die Zunge ausgerissen, um nicht mehr zu sprechen. Ich sagte mir: Es ist leicht, für Dich zu sterben, leichter als mit Dir und für Dich in Deinem gesegneten und verdammten Weltall zu leben, in dem der Fluch wie alles andere Dein Siegel trägt ...

Aber das ist vorüber, sag ich Dir! Ich bin am Ende, ich kann nicht mehr. Wenn Du auch diesmal Dein Volk verlässt, wenn Du auch diesmal dem Mörder erlaubst, Deine Kinder zu morden, ... dann wisse, o Herr von allem, was atmet, dass Du die Liebe Deines Volkes nicht mehr verdienst und nicht seine Leidenschaft, Dich zu heiligen und Dich gegen alles und gegen Dich selbst zu rechtfertigen; wenn auch diesmal die Überlebenden niedergemetzelt werden und ihr Tod ins Lächerliche gezogen wird, so wisse, ..., ich werde mich auf den Boden werfen und, die Stirn mit Staub und Asche bestreut, weinen, wie ich noch nie in meinem Leben geweint habe, ich werde schreien ...; und wisse, dass jede meiner Tränen und jeder meiner Schreie Deinen Ruhm beflecken werden, dass jede meiner Gesten Dich verleugnen wird und mich verleugnen wird, wie Du mich verleugnet haben wirst, wie Du Deine Diener bis in ihre leuchtende und vergängliche Wahrheit hinein verleugnet haben wirst." [1]

In diesen Worten erahnen wir etwas von dem Ernst, der Tiefe einer Gottesbeziehung, die gerade auch im Leiden durchhält und dennoch auf diesen Gott vertraut. Wir wissen, dass viele Juden in die Gaskammern von Auschwitz gingen und das Sch’ma Israel beteten. Und dieses Wissen macht uns Mut, denn wenn dort in den tiefsten Tiefen menschlicher Existenz so vertraut gebetet und der Gott Israels bekannt werden konnte, dann dürfen wir es angesichts unserer Tiefen, unserer Schuld, unseres Versagens auch tun, obgleich hier eigentlich nur geschwiegen werden kann. Es gilt: "Wir können nach Auschwitz beten, weil auch in Auschwitz gebetet wurde ..." [2]

Aber wenn es dort heißt: "Liebe denn IHN, deinen Gott, ...", so ist ja sofort zu fragen, ob Liebe denn befohlen werden kann? "Liebe soll den Umgang mit den Worten des nachfolgenden Gesetzes bestimmen - Gehorsam, der aus der Liebe erwächst. Das Gesetz soll nicht als eine drückende Last empfunden werden, sondern als Lebensermöglichung." [3] So hört man - jedenfalls im praktizierenden Judentum - das Gesetz ganz anders als wir es hören. Das "Gesetz" verbindet den Einzelnen mit Gott und mit dem Volk der Väter und Mütter im Glauben, es ist eine Wegweisung Gottes für den eigenen Lebensweg, es macht den Menschen frei in seinem Glauben an eben diesen Gott, der einzigartig und einmalig ist unter den geglaubten Göttern der Welt. Wir dagegen hören im Gesetz immer nur das Einengende, Bedrohliche. Doch wie kann dieses Kernstück jüdischen Glaubens für uns ein wenig fasslicher werden, dass es nicht ein frommer Lehrsatz aus alter Zeit bleibt, weltfern und nicht in unser Leben übersetzbar?

Es gibt kein Wort des Alten Testamentes, das durch den Juden Jesus nicht auch uns gelten würde. Sein Bekenntnis und das aller Juden weltweit ist Teil auch unseres eigenen Bekenntnisses. Das weist uns den Weg:

Mit großem Ernst erleben wir zur Zeit die Diskussion zwischen dem FDP-Politiker Jürgen Möllemann und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Michael Friedmann, so wie die Auseinandersetzung um das neue, noch nicht einmal veröffentlichte Buch von Martin Walser "Tod eines Kritikers". In beiden Fällen geht es um den Vorwurf des Antisemitismusses. Worum geht es dabei? Hin und her werden Begriffe verwechselt und verwaschen, die Geschichte je so gedeutet, wie sie der eigenen Biografie entspricht, was ja nur zu verständlich ist.

Es muss klar sein - und das gilt eben nicht nur für uns Deutsche - dass sich jede Art von Antisemitismus, also Judenfeindlichkeit, verbietet, weil sie rein gar nichts mit dem Staat Israel oder gar kritischen Rückfragen an die Politik Israels Palästina gegenüber zu tun hat. Jede Judenfeindlichkeit verbietet sich, weil sie der Achtung und Ehrfurcht vor den Wurzeln unseres eigenen Glaubens widerspricht. In gleicher Weise aber haben Juden andere Denk- und Glaubensüberzeugungen zu akzeptieren. Jede Kritik an der Politik Israels, so sie begründet werden kann, ist legitim, weil Kritik unter Freunden möglich sein muss, sonst ist es keine Freundschaft. Jeder Staat der Welt darf auf seine Politik hin befragt werden, so wie die Gläubigen einer jeden Religion nach ihrem Glauben. Das ethische Tun wird zeigen, wozu ein Glaube, ein Bekenntnis dienen - oder ob sie doch nur leere Lippenbekenntnisse sind, welche eigenen Interessen folgen. Alle Beteiligten sollten sich daher fragen lassen, ob nicht zu vorschnell und übersensibel aufeinander eingeschlagen worden ist. Und noch ein Wort zur Klarstellung: Das Gerede der Nazionalsozialisten von der jüdischenRasse ist von daher dümmlich gewesen, weil das Judentum eine Religion und keine Rasse ist, wodurch verständlich wird, dass es weltweit Juden geben kann, die keine Israelis sind.

So, wie Israel "hören" und seinen Gott bekennen soll, so sollen auch wir es tun. Die Merkzeichen sind eine ständige Hilfe auf dem Weg, Gott nicht aus dem Gedächtnis, aus dem Blick zu verlieren. Natürlich haben auch wir solche Merkzeichen: Kirchtürme, die uns zeigen, dass hier ein Ort ist, an dem eine Gemeinde Gottesdienst feiert; -Glocken, die zum Gottesdienst rufen; - oder Kruzifixe und Kreuze, die wir uns umhängen, die uns am Wegrand begegnen und an das erinnern, was der Mensch Jesus von Nazareth an einem Kreuz für uns getan hat.

Diese Merkzeichen rufen einen jeden Menschen dazu auf, seine Prioritäten zu setzen, sich zu entscheiden, was nun für das eigene Leben gelten, was wichtig und letztendlich existentiell sinnstiftend ist? Wir können diese Merkzeichen wahrnehmen, uns durch sie erinnern und zum Glauben ermutigen lassen, um Gott damit auch auf unseren Lebensweg zu nehmen oder wir können an ihnen vorbei sehen. Das "Höre Israel" fußt auf dem ersten Gebot: "Ich bin der Herr, dein Gott, du wirst keine anderen Götter haben neben mir ...", dann nämlich nicht, wenn ich Gott, wirklich dein Gott bin. Mit diesen Merkzeichen sind wir an die Liebe Gottes erinnert, und wo immer sie uns nun im eigenen Leben begegnen, sind wir gefragt, ob auch wir Gott lieben? Dort aber, wo wir es tun, dürfen wir uns dazu ermutigen lassen, betend zu bekennen: "Der HERR ist unser Gott, der HERR und sonst keiner ..." Hören also auch wir, damit wir die Gottheit unseres Gottes recht bekennen können.
Amen.


Literatur:

  1. Wiesel, E., Der Bettler von Jerusalem, Frankfurt/ M., Berlin, 1987, S. 115f
  2. Krabbe, D., Freut euch mit Jerusalem,
    jüdisches Leben, Denken und Gedenken, eine Einführung, München, 1995, S. 124
  3. Eichholz, G., hören und fragen, Eine Predigthilfe, Neukirchen/Vluyn 1983, S. 403
außerdem: Das Deckblatt wurde von Pfarrer Armin Bauer, Elzach/Baden, erstellt.

Letzte Änderung: 19.06.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider