Estomihi, Lukas 18, 31-43
Begrüßung :
Liebe Gemeinde! Mitten in der Kenzinger Fasnet feiern wir unseren Gottesdienst voller Dank und Freude für diesen Sonntag, doch in dem Wissen auch darum, dass wir nun auf die Passionszeit zugehen. Wie oft sind Menschen blind und taub für die wirklich wichtigen Dinge im Leben, leichtfertig lebt man an ihnen vorbei. So leben wir als Menschen, die sehen könnten, doch oft einfach nur blind sind. Lassen wir uns mit diesem Gottesdienst die Augen öffnen für all das, was Gott uns tagtäglich schenkt, für all seine Wunder, mit denen auch unser Leben erfüllt ist.
Du gibst mir Halt, du bietest mir Schutz. Geh mit mir und führe mich, denn du bist mein Gott! (Psalm 31,4).
Gebet:
Herr, guter Gott! Hab Dank für dein wegweisendes Wort, das wir auch heute wieder hören dürfen, das uns die Augen öffnet und uns auf unserem Lebensweg begleitet durch alles hindurch, was wir an Freude und Leid, an Höhen und Tiefen, an Gelingen und Misslingen erfahren. So bitten wir dich um deinen guten Geist für unsere Zukunft. Hilf allen Menschen, die leiden, die Angst und Not erfahren, die mit einer Krankheit, dem Alter, dem Tod nicht fertig werden. Begleite sie – auch durch uns und unsere Nähe, die wir ihnen schenken.
So danken wir dir für alle Menschen unter uns, die uns mit ihrem Glauben ein Vorbild sind und die sich in unserer Gemeinde und Kirche mit ihrem Engagement einbringen. Vor dir bringen wir nun auch voller Dankbarkeit alle Menschen in Erinnerung, die uns den Weg zu dir vorangegangen sind – und beten für uns, unsere Gemeinde, für unsere katholischen Mitchristen, unsere kleine Stadt und für die ganze Welt.
Jesus nahm die Zwölf beiseite und sagte zu ihnen: »Hört zu! Wir gehen nach Jerusalem. Dort wird alles in Erfüllung gehen, was die Propheten über den Menschensohn geschrieben haben: Er wird den Fremden ausgeliefert werden, die Gott nicht kennen. Sie werden ihn auspeitschen und töten, doch am dritten Tag wird er auferstehen.« Die Zwölf verstanden kein Wort. Was Jesus sagte, blieb ihnen verborgen; sie wussten nicht, wovon er sprach.
Als Jesus in die Nähe von Jericho kam, saß dort ein Blinder am Straßenrand und bettelte. Er hörte die Menge vorbeiziehen und fragte, was da los sei. Er erfuhr, dass Jesus aus Nazareth vorbeikomme. Da rief er laut: »Jesus, Sohn Davids! Hab Erbarmen mit mir!« Die Leute, die Jesus vorausgingen, fuhren ihn an, er solle still sein; aber er schrie nur noch lauter: »Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!« Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich holen. Als er herangekommen war, fragte ihn Jesus: »Was soll ich für dich tun?« Er antwortete: »Herr, ich möchte wieder sehen können!« Jesus sagte: »Du sollst sehen können! Dein Vertrauen hat dich gerettet.« Sofort konnte der Blinde sehen. Er pries Gott und folgte Jesus. Und das ganze Volk, das dabei war, rühmte Gott.
Liebe Gemeinde!
Der bekannte Heidelberger Theologe Klaus Berger fragt in seinem Buch „Jesus“ in einer Kapitelüberschrift: „Ist der Gott Jesu ein Zyniker?“ und er führt dazu aus: „Ja, darf man so fragen. Wenn Jesus einen Gott der Liebe verkündet und weiterhin so viel Leid geschieht, wird da Jesus nicht im Kern seiner Botschaft widerlegt? Und zwar jeden Tag, in den Nachrichten, in der persönlichen Lebenserfahrung, den Millionen von menschlichen Leidensgeschichten, die ganz ohne Sinn und Erklärung bleiben. Ist Gott nicht, wie man sagt, spätestens in Auschwitz gestorben? Was ist von einem Gott zu halten, der so wenig ändern will oder ändern kann? Ist er am Ende ein Zyniker? Und was ist von diesem Jesus zu halten, der Wunder wirken kann, aber seine Macht an so scheinbar sinnlose Dinge verschwendet wie auf dem Meer zu gehen? Hätte Jesus nicht lieber einen einzigen Krieg verhindern sollen? ... Nicht ob es Gott gibt, ist das Kernproblem, sondern dass da Menschen im Angesicht von so viel Leid immer noch behaupten, es gäbe ihn – und zwar als einen Liebenden...“ [1]
Gott, das wissen wir, kann nur als der ganz und gar persönliche Gott geglaubt und erfahren werden. Natürlich erleben wir hier und da den Glauben anderer Menschen, doch es ist ihr Glaube, natürlich hören wir die Bekenntnisse anderer, doch es ist ihr Bekenntnis. In jeder einzelnen unserer Lebenserfahrungen müssen wir selbst uns auf das Eis wagen und schauen, ob es trägt. Je größer der erlebte Schmerz, das erfahrene Leid, desto mehr stehen wir mit unseren Fragen allein da und bleiben auf uns selbst verwiesen oder wir konfrontieren uns mit dem, was uns in der Tiefe unserer Existenz angeht, mit Gott.
Jesus redet mit seinen Jüngern. Er mutet ihnen zu, sich mit dem auseinander zu setzen, was nun bald geschehen wird, mit seinem Leiden, seinem Tod. Hellsichtig sieht er, was auf ihn zukommt, doch seine Jünger können ihn nicht verstehen, sie sind taub und blind für eine Wirklichkeit, die sich längst abgezeichnet hat. Die, die ihm am nächsten stehen, verstehen ihn überhaupt nicht. Auch wir kennen das, dass wir eine Wahrheit einfach nicht wahrhaben oder sie verdrängen wollen: Eine schwere Krankheit, einen tragischen Unfall, eine folgenreiche Hiobsbotschaft. In solchen Momenten unseres Lebens stellen auch wir uns gern taub und blind. Nur nichts hören, nur nichts sehen, vielleicht stimmt das alles ja gar nicht, vielleicht bin ich ja gar nicht gemeint.
Das Gegenstück dazu ist der Blinde aus unserem Text. Wir wissen ja wie wichtig unsere Augen sind, nicht umsonst sprechen wir vom Blickkontakt oder davon, dass die Augen sprechen können, so dass wir oft Freude und Leid aus ihnen heraus lesen, eine gewisse Menschenfreundlichkeit, aber auch Hass und Wut. Der Blinde gehört zu der Randgruppe von Menschen, die am Straßenrand sitzen, deren Leben scheinbar keinen vernünftigen Sinn und Zweck mehr hat in den Augen all jener, die gesund und fröhlich durch ihr Leben ziehen. Er sieht nichts und ist damit von unendlich vielen Informationen abgeschnitten, weil er sich ja so gut wie gar nicht durch sein Leben bewegen kann. Sein Bewegungsradius ist radikal und schmerzhaft eingeengt. Er ist auf die Hilfe, die Barmherzigkeit anderer angewiesen. Sicher hat auch er sich tausendmal gefragt, warum Gott das Leiden zulassen kann und wo denn da die Liebe Gottes spürbar wird, wenn doch Gott, der Gott seiner guten Schöpfung ist? Warum dann ein Leben in Blindheit und in dieser scheinbaren Gottverlassenheit?
Doch heute ist einmal alles anders. Er sieht. Und so spricht er – als er den Trubel der Straße vernimmt und sich informiert hat, was denn hier los ist – Jesus als „Sohn Davids“ an. Er schreit seine Klage in die Dunkelheit seiner Tage, er schreit so laut, dass man ihn auffordert, doch endlich den Mund zu halten. Mit seinem Schrei in die vermutete Richtung Jesu zeigt er, dass er ihn als den langersehnten Messias erkennt und anerkennt. Er sieht in seiner offensichtlichen Blindheit, was andere aus der Umwelt Jesu nicht sehen können oder auch nicht sehen wollen. So blind wie er ist, wird er zu einem Augenzeugen des langersehnten Messias, wo sie, die Sehenden noch lange seelisch erblindet bleiben: „Die Zwölf verstanden kein Wort. Was Jesus sagte, blieb ihnen verborgen, sie wussten nicht wovon er sprach...“
Jedes Wunder, das uns die Bibel überliefert, lässt uns nach Gott fragen, wenn wir nicht taub und blind am biblischen Wort und ihrer Wahrheit für uns vorbei gehen wollen. Denn es sind ja immer nur wenige, die eine körperliche Heilung erfahren. Und so hat man immer wieder darüber nachgedacht, was uns mit den biblischen Wundern gesagt werden soll, was sie uns über Gott selbst und über Jesus von Nazareth zu sagen haben. Denn Gott muss ja wirklich von all jenen als zynisch angesehen werden, die an sich selbst oder als Angehörige keine Heilung in ihrem Leben erfahren haben. Wir könnten ja zu recht fragen, wo Gott da mit seiner Liebe ist und war? Denn auch Jesus ging ja an vielen Menschen vorüber, die ein Gebrechen hatten, deren Leben voller Not war. Und so verweisen uns die Wunder Jesu auf viel mehr, auf eine tiefere Wahrheit.
Der letzte Satz der ersten Schöpfungsgeschichte: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut...“ meint ja noch nicht die Welt, die wir erleben.
Es ist die Welt Gottes, die hier beschrieben ist, eine Welt ohne Leid, ohne Krankheit, ohne Unrecht, ohne Verzweiflung und sogar ohne den Tod. Von dieser Welt Gottes spricht die Bibel in Bildern des Paradieses. Doch wir leben heute ja jenseits dieser Welt Gottes, weil wir in der uns geschenkten Freiheit das Gesicht der Welt verändert haben. Und all das, was es in der Gegenwart Gottes eben nicht gab und dann auch einmal nicht mehr geben wird, das haben wir jetzt noch zu erleben, zu erfahren, zu erleiden. Wir leben jenseits des Paradieses, doch wir haben traumhafte Bilder davon, wie dieses ganz andere Leben in der Gegenwart Gottes aussehen wird. So bleibt „die Unbegreiflichkeit des Leids ein Stück der Unbegreiflichkeit Gottes“ [2], denn Gott sieht anders als wir.
Und gerade davon erzählen uns die Wundergeschichten in immer neuen Varianten. Mit jedem Wunder das uns von Jesus erzählt wird, weist er uns auf diese Welt Gottes hin, die so ganz anders ist, als wir unsere Welt erfahren. Mit jedem Wunder spricht Jesus seine Zuhörer darauf an, dass auch über unsere Welt noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Zugleich aber sind wir aufgefordert, die Wunder zu sehen, die tagtäglich um uns herum geschehen und an denen wir oft achtlos vorüber gehen, weil wir kein Auge und kein Ohr für sie haben. So wird dann deutlich, dass es Blinde gibt, die sehen, ja, viel mehr sehen können als viele andere Menschen, und dass es umgekehrt Menschen gibt, die sehr gut sehen, denen aber der Durchblick in jeder Weise fehlt. Sie sind so blind, dass sie sich in ihrem Leben verlaufen. Nein, Gott ist wahrhaftig kein Zyniker, auch dann nicht, wenn wir ihn einmal nicht verstehen.
Der Blinde darf sehen, weil er gegen allen Augenschein vertraut. Da, wo andere noch sehenden Auges blind durch ihr Leben gehen, sieht er in dem vorüber ziehenden Jesus ein Stück der neuen Welt Gottes, einen Lichtschein der Hoffnung, das Aufleuchten eines anderen Lebens, das dem geschenkt ist, der Gott vertrauen lernt. So können auch wir blind und taub bleiben oder aus der Wirklichkeit unseres Lebens den Gott erkennen, dem wir das Wunder unseres Lebens verdanken; die Liebe eines anderen Menschen; das Geschenk eines gedeckten Tisches; das Wunder, dass wir selbst die Welt durch Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur gestalten können; das Wunder der Geschwisterlichkeit, wo Menschen, die einander brauchen, auch füreinander da sind. Wunder geschehen tagtäglich um uns herum, nur müssen auch wir lernen, sie zu erkennen, dann wäre auch das ein Wunder, weil uns ganz neu die Augen und Ohren für Gott und damit auch für unsere Welt geöffnet wären.
So kann der geheilte Blinde auch gar nicht anders, als Jesus zu folgen. Und es fällt gar nicht so schwer zu glauben, dass er die Passion Jesu miterlebte, sein Leiden und Sterben und dass er zu denen gehörte, die ihm treu blieben bis in den Tod hinein. Er, der an sich selbst ein Wunder erlebte, muss erkennen, das ihm diese Erfahrung ein neues und anderes Leid nicht abnimmt, denn er bleibt ja ein Kind seiner Welt. Darum sind alle Wunder, wo und wie immer sie erlebt werden, ein Hinweis auf den Gott, der sich in seiner Liebe der bedrängten Welt hoffnungsvoll zur Seite stellt und damit auf diese ganz andere, neue Welt hinweist. Sie ist auch unsere Zukunft. Amen.
Literatur:
1) Berger, K., Jesus, München, 2004,, S. 269
2) Berger, K., Jesus, a.a.O., S. 280
Kautzsch, A., Estomihi, Deutsches Pfarrerblatt, Heft 1/2007 in:
http://www.deutsches-pfarrerblatt.de/
Drewermann, E., Und legte ihnen die Hände auf, Düsseldorf, 1963
Früchtel, U., Mit der Bibel Symbole entdecken, Göttingen, 1991, S. 185ff
Schäfer, A., Estomihi, in: Calwer Predigthilfen, 2000/2001, Reihe V/1,
Stuttgart, 2000, S. 134
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