14. Sonntag nach Trinitatis, Römer 8, 14-17, Hecklingen
Begrüßung;
Liebe Gemeinde! Es ist schön, dass wir jetzt wieder gemeinsam einen Gottesdienst feiern dürfen. Am Ende der diesjährigen Sommerferien werden wir in diesem Gottesdienst danach gefragt, was uns in unserem Leben eigentlich geistig und geistlich antreibt und bewegt? Wir sind auf dem Weg in eine „vaterlose Gesellschaft“ eingeladen, wieder einmal nach dem väterlichen und mütterlichen Gott zu fragen. „Ich will den Herrn loben, solange ich lebe, und meinem Gott singen, solange ich bin...“
Gebet:
Wie kamst du gerade auf mich?
Auch heute wieder
frage ich mich,
wer Du warst oder bist,
was Du willst
Viele
wissen das besser,
einige
folgen Dir nach.
Wie aber kamst Du
auch noch auf mich?
bin doch nicht der,
den Du brauchst!
Dennoch, dennoch
komm ich nicht los
von Dir.
(Kurt Marti)
Alle, die sich in dieser Weise vom Geist Gottes führen lassen, die sind Gottes Söhne und Töchter. Der Geist, den Gott euch gegeben hat, ist ja nicht ein Sklavengeist, so dass ihr wie früher in Angst leben müsstet. Es ist der Geist, den ihr als seine Söhne und Töchter habt. Von diesem Geist erfüllt rufen wir zu Gott: »Abba! Vater!« So macht sein Geist uns im Innersten gewiss, dass wir Kinder Gottes sind. Wenn wir aber Kinder sind, dann sind wir auch Erben, und das heißt: wir bekommen teil am unvergänglichen Leben des Vaters, genauso wie Christus und zusammen mit ihm. Wie wir mit Christus leiden, sollen wir auch seine Herrlichkeit mit ihm teilen.
Liebe Gemeinde!
Niemand von uns verliert gern einen vertrauten Menschen, jemanden, dem man nahe stand, den man liebte, aber jeder und jede von uns würde doch gern einmal so richtig etwas erben, oder? „Wenn wir aber Kinder sind, dann sind wir auch Erben“, so heißt es in unserem Text aus dem Römerbrief und nun malen Sie sich das einmal anhand Ihres eigenen Testamentes aus, das könnte dann so zu lesen sein:
Wir, die Eheleute Meier oder Müller setzen uns hiermit zu alleinigen und ausschließlichen Erben ein. Der überlebende Teil wird in keiner Weise beschränkt oder beschwert. Er kann über das beiderseitige Vermögen in jeder Weise frei verfügen. Für den Fall des Todes des überlebenden Teils oder für den Fall des gleichzeitigen Versterbens bestimmen wir hiermit als unsere Schluss-Erben: Unsere Abkömmlinge nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge... Wir ordnen folgende Vermächtnisse an ....“ So lautet ein Testament handschriftlich korrekt ausgefüllt, und nun würden Sie als persönliche Vermächtnisse einsetzen:
Unsere Kinder erben unseren Glauben, unser lebenslanges Vertrauen, unsere Liebe, - unser Haus erhält die Kirchengemeinde, die Grundstücke die Stadt und das vorhandene Kapital Amnesty International. Wir können uns vorstellen, dass die Kirchengemeinde, die Stadt und Amnesty begeistert wären, doch Ihre Kinder? Da stellt sich die Frage, was treibt uns an, was bewegt uns in unserem Denken, Fühlen und Wollen was so bedeutsam ist, dass es sich lohnt, von Generation zu Generation weiterzugeben?
„Alle, die sich in dieser Weise vom Geist Gottes führen lassen, die sind Gottes Söhne und Töchter...“, so haben wir es eben gehört, aber sind wir es? Woran wird unsere Kindschaft denn deutlich. Jedes Kind trägt den Namen seiner Eltern, in Deutschland den Nachnamen. Mit unserer Taufe tragen wir den Namen „Christen“, doch sind wir – so wie jedes Kind sein Elternhaus hat - in unserem Glauben überhaupt noch beheimatet oder haben wir unsere Haustürschlüssel nicht längst verloren? Schon 1969 schrieb der Psychotherapeut Alexander Mitscherlich ein Buch mit dem Titel „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft.“ Um dieses Buch kam man damals kaum herum, weil es eine markante Trendwende beschrieb.
Er sagt: „Unzweifelhaft vollzieht sich hier ein Fortschritt zu einer vaterlosen Gesellschaft; nicht zu einer, die den Vater töten muss, um sich selbst zu bestätigen, sondern zu einer, die erwachsen wird, die von ihm Abschied zu nehmen weiß, um auf eigenen Füßen zu stehen...“ [1] Das war ja wohl die Erfahrung jener Zeit, dass durchaus sinnstiftende Traditionen, alte Ordnungen und vor allem auch jede Art von Hierarchie hinterfragt wurde. Mit einer veränderten Arbeits- und Berufswelt musste sich auch das traditionelle Familienbild ändern, und nachdem die Kinder durch die zunehmende Industrialisierung kaum noch sehen und miterleben können, was der Vater in seiner Abwesenheit von der Familie tut, musste es zwangsläufig zu einer Entfremdung kommen. Die Kinder müssen mündig werden, weil sie vaterlos geworden sind. Wir können uns ausmalen, wie ein solches Buch heute geschrieben würde, nachdem nun auch die Mütter zunehmend berufstätig sind.
So hat der Mensch schließlich seinen konkreten Vater aus dem Blick verloren, über dem ja als Über-Väter dann eine ganze Reihe weiterer unhinterfragter Autoritäten standen, Mitscherlich spricht von einer „Hierarchie der Vaterrollen, die zerfällt...“ [2]: Hierzu gehörten der Pfarrer, der Lehrer, der Bürgermeister und auf alle Fälle der Landesherr, wer immer es war, dem aber auf alle Fälle Gehorsam geschuldet wurde. Mit dem Zusammenbrechen dieser wohlgeordneten Hierarchie brachen nach und nach auch bestimmte Gottesbilder in sich zusammen. Die Entfremdung von den Vätern und Über-Vätern führte so auch zwangsläufig zu einer Entfremdung von Gott.
„Alle, die sich in dieser Weise vom Geist Gottes führen lassen, die sind Gottes Söhne und Töchter...“ wenn wir aber Kinder sind, dann sind wir auch Erben...“, so sagt es Paulus, dabei zeigt unser Leben, ja das Zusammenleben in unserer Gesellschaft in ganz und gar veränderten Strukturen, dass wir einen solchen Gedanken heute nicht mehr einfach nur abnicken können. Wir alle haben uns von Übervätern und Übermüttern befreit, wir suchen auf einem langen Weg unsere Autonomie, unsere Freiheit, unsere Eigenständigkeit und Selbständigkeit, unsere Selbstbestimmung und Souveränität. Gesellschaftlich wurde dieser Weg bei uns in der Wandlung von einer monarchistischen Staatsform über die Diktatur bis hin zu einer Demokratie deutlich.
So richtig Mitscherlichs Beschreibung sozialpsychologisch ist, wir erleben ja, dass der Mensch der Gegenwart in vielerlei Hinsicht freier geworden ist, letztendlich aber unfrei lebt. Was raubt uns nicht alles den Atem, was den Schlaf an Sorgen und Ängsten, und man wird wohl sagen können, dass der moderne Mensch eben doch sehr viel abhängiger lebt, als es ihm oft selbst bewusst ist: Krankheit, Alter oder der Verlust der Arbeitskraft machen ebenso Angst, wie Gesetze, die unser Sozialsystem für die Zukunft sichern wollen. Das weite Spektrum unseres Lebens fordert uns so, dass wir in vielfacher Weise funktionieren müssen. Zusätzliche Abhängigkeiten ergeben sich einerseits durch eine fortschrittliche Technik, vieles im Leben vom Beruf über unsere Kommunikationsfähigkeit bis hin zu den vielen elektrischen Geräten, sogar in der Küche, ist einfacher geworden, doch andererseits leben wir gerade dadurch auch sehr viel abhängiger. Wir sehen, wie viele Menschen diesem Druck und Zwang ausgesetzt sind, bis hin zur Existenzangst.
Paulus spricht sehr nachdrücklich davon, dass diejenigen, die Gottes Kinder sind, von einem angstmachenden „Sklavengeist“ frei sein dürfen. Als Kinder Gottes leben wir aus dem Bewusstsein heraus, dass uns als Erben dieses Vaters ganz andere Hoffnungen geschenkt sind. Das ist absolut keine Weltflucht, denn hier in unserem Leben leben, arbeiten, lieben, leiden oder trauern wir - all das lässt sich nicht einfach vom Tisch wischen, ohne die Angst der Menschen nicht ernst zu nehmen.
Doch es gilt zu erkennen, so, wie das Leiden Jesu nicht das letzte Wort war, so ist es das auch nicht angesichts unserer Welterfahrung, denn es kommt auf den Geist an, mit dem wir das Leben leben. Dann mag es zwar sein, dass wir an der einen oder anderen Stelle auch weiterhin besorgt sein werden, denn der Glaube zaubert uns ja nicht das Paradies vor Augen, aber wir dürfen dennoch wissen, dass es mehr gibt als unsere Sorgen, ja, dass uns eine Hoffnung geschenkt ist, die Grenzen sprengt. Paulus spricht ja „alle“ an, die sich vom „Geist Gottes führen“ lassen und seine „Kinder“ und „Erben“ sind. Damit sind wir darauf verwiesen, dass wir mit verantwortlich dafür sind, was in dieser geistlichen Erbengemeinschaft geschieht.
Verweigern wir das Erbe nicht, sondern nehmen wir es an, das ist die gute Botschaft dieses Tages, denn damit lässt es sich leben – und dann auch einmal, wenn es so weit ist, sterben. Ja, so realistisch wir uns der Welt zu stellen haben, ohne sie aufzugeben, so sehr reicht unsere Hoffnung dann auch über jene Schwelle hinweg, die der Tod uns setzt.
Mit unserem Glauben sind wir jenseits aller pathetischen Worte gefragt, in wiefern er uns denn wirklich frei macht? Lassen wir uns einmal an die Situation des Paulus in Athen erinnern. Da sitzen die Gebildeten diskutierend um den Gerichtsplatz herum, als er sich zu ihnen gesellt und ihnen eine große Rede hält. Er sagt:
„Ihr Männer von Athen! Ich sehe, dass es euch mit der Religion sehr ernst ist. Ich bin durch eure Stadt gegangen und habe mir eure heiligen Stätten angesehen. Dabei habe ich auch einen Altar entdeckt mit der Inschrift: `Für einen unbekannten Gott´. Was ihr da verehrt, ohne es zu kennen, das mache ich euch bekannt. Es ist der Gott, der die Welt geschaffen hat und alles, was darin lebt...“ (Apg 17,22-24).
Er verkündigt ihnen Jesus Christus und wird natürlich ausgelacht, denn was soll das schon, ein gekreuzigter Gott? Doch die Götter Griechenlands gingen unter, wie andere auch, aber gerade der Glaube an diesen Herrn und Gott setzte sich durch, weil er den Menschen menschenfreundlich begegnet ist und gerade nicht in fraglichen Herrschaftsformen. Dort, wo es anders war, wurde ein falsches Gottesbild gepredigt. Ich denke, dass wir daran sehen können, welch eine Kraft von diesem Glauben ausgeht. Denn natürlich hatten die Menschen daher einen vollen Götterhimmel, weil sie angst hatten, angst vor allem und jedem, und so leben viele Menschen auch heute unendlich angstvoll, weil sie ihren Glauben längst verloren haben und darum über keinen tragenden Halt im Leben mehr verfügen.
Wir haben – recht verstanden - ein ganz anderes Verhältnis zu unserem Gott, jenseits von Macht und Autoritätsstrukturen, weil er Ja zu uns sagt und uns mit seinem Vertrauen und seiner Treue begegnet und begleitet. Ja, liebe Gemeinde, liebe Mitchristen, „was treibt uns in unserem Leben an, was bewegt uns in unserem Denken, Fühlen und Wollen, was so bedeutsam wäre, dass es sich weiterzugeben lohnen würde, Generation um Generation?“ Was also würden wir gern erben oder aber auch vererben, was mehr sein würde und mehr sein könnte, als ein Haus, einige Grundstücke oder finanzielles Kapital, so schön das schon wäre?
Aber – und darauf weist Paulus uns hin – es gibt eben mehr als das und das sollten wir bedenken. Indem wir um unser Gottesverhältnis wissen, werden wir den falschen Göttern und Götzen auch unserer Zeit den Abschied geben – und endlich auch im Glauben erwachsen werden, im Glauben an unseren ebenso väterlichen, wie mütterlichen Gott, ja, seine Kinder und Erben dürfen wir sein! Amen.
Literatur:
1) Mitscherlich, A., Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München, 1969, S. 318
2) Mitscherlich, a.a.O., Umschlagseite
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