Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

10. Sonntag nach Trinitatis
Exodus 19, 1-6 (neu)

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Der heutige Sonntag ist im Ablauf des Kirchenjahres Israel gewidmet. Damit sollen wir immer wieder an die Wurzeln unseres Glaubens erinnert werden, uns bewusst sein, dass der Herr der Kirche, Jesus Christus, Jude war und dem Volk Israel zugehörte. Viel Leid haben weltweit in ihrer Geschichte Christen Juden zugefügt, Leidvolles fügt das politische Israel und verführte Juden im Staat Israel heute anderen zu. Da ist es gut, das Wort Gottes als Aufruf und Ermutigung zum Glauben an den gemeinsamen Gott neu zu hören, aufzubrechen mit einem neuen Geist und umzukehren zu den Wurzeln, die unseren Glauben überhaupt begründen.

Herr, zeige mir den richtigen Weg, damit ich in Treue zu dir mein Leben führe! Lass es meine einzige Sorge sein, dich zu ehren und dir zu gehorchen!

Gebet:

Herr, guter Gott! Viele Menschen unserer Gemeinde sind zur Zeit unterwegs, im Urlaub, in den Ferien. Sie sind unterwegs, in der Ferne, der Fremde. Wie oft müssen wir in unserem Leben aufbrechen, uns Wege suchen, sie finden, um eine Zukunft zu haben. Herr, ebenso musste Israel aufbrechen, ins Ungewisse hinein leben, doch gerade dort begegnete ihnen ihr und unser Gott. Lass auch uns auf unseren Wegen in die Zukunft Aufbrüche und Auszüge wagen, die unserem Leben Orientierung und Sinn geben. Herr, lass uns nicht bei irgendwelchen Göttern und Götzen ankommen, sondern bei immer wieder dir. Amen.

Text:

Am dritten Neumondstag nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten kamen sie in die Wüste Sinai. Sie waren von ihrem Lagerplatz bei Refidim dorthin aufgebrochen und schlugen nun ihr Lager vor dem Berg Sinai auf. Mose stieg zu Gott auf den Berg. Der HERR rief ihm vom Berg aus zu: »Sag dem Volk Israel, den Nachkommen Jakobs: `Ihr habt gesehen, wie ich an den Ägyptern meine Macht erwiesen habe. Und ihr habt erlebt, dass ich euch getragen habe wie ein Adler seine Jungen; ich habe euch wohlbehalten hierher zu mir gebracht. Wenn ihr mir nun treu bleibt und auf mich hört, sollt ihr mein ganz persönliches Eigentum sein unter allen Völkern. Die ganze Erde gehört mir; aber ihr sollt ein Volk von Priestern sein, das mir ganz zur Verfügung steht und mir ungeteilt dient.’ Das sollst du den Leuten von Israel sagen.«

Liebe Gemeinde!

Die Sommerferien sind da, unsere Gemeinde zieht es in die Ferne. Aufbrüche und Auszüge begleiten unser ganzes Leben, sie sind keine biblische Erfindung, sondern eine ganz und gar menschliche Erfahrung. Seit dem Auszug Israels aus Ägypten sind viele Menschen, oft ganze Völker irgendwohin aufgebrochen, mal freiwillig, ein anderes Mal irgendwelchen äußeren Zwängen folgend. Auch in unserer Gemeinde wissen Menschen darum, wie es ist, nicht eben mal in den Urlaub zu fahren, mit fast garantiertem Heimkehrrecht, sondern unter innerem oder sogar äußerem Zwang seine Heimat verlassen zu müssen, um sich irgendwo eine neue zu suchen. Solche Aufbrüche haben neben allen Schattenseiten aber immer auch etwas Verheißungsvolles. Mir fällt da die Geschichte "Der Aufbruch" von Franz Kafka ein:

Ich befahl, mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen. Ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte:

"Wohin reitest du, Herr?" "Ich weiß es nicht", sagte ich, "nur weg von hier, nur weg von hier. Immer fort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen."

"Du kennst also dein Ziel?" fragte er. "Ja", antwortete ich, "ich sagte es doch! Weg von hier, das ist mein Ziel!" "Du hast keinen Essvorrat mit", sagte er. "Ich brauche keinen", sagte ich, "die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise." [1]

Ist es nicht eine verwunderliche, ja verrückte Geschichte, ein merkwürdiger Aufbruch in eine so unbekannte ungesicherte Zukunft? Was soll das, einfach wegzureiten, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen soll? Den Reiter kümmert das alles nicht. Das Ziel seines Weges ist "nur weg von hier!" Ein anderer kann diesen fast grund- und ziellos scheinenden Aufbruch nicht nachvollziehen.

Wie oft finden wir uns darin wieder: Menschen folgen einem Traum, der von anderen nicht verstanden wird. Das ist für viele, die das nicht nachempfinden können, zu viel für den Kopf und zu wenig für das Leben. Es bedeutet ja einerseits den Mut aufzubringen mit Unsicherheit und Ungeborgenheit leben und fertig werden zu müssen, andererseits eine schier beängstigende Freiheit: "Weg von hier, das ist mein Ziel!" So geht ein Mensch seinen Weg, macht seinen Weg, zielstrebig, doch "nur weg von hier". Sieht das nicht wie eine Flucht aus der Gegenwart in die offene Zukunft aus, was die grundsätzliche Frage aufwirft, woher und wohin sich ein Mensch orientiert und ob er Orientierungen für sein Leben, seine Zukunft überhaupt braucht? Wie planen wir unseren Lebensweg, womit rechnen wir - und wie erleben wir Überraschungen?

So ist auch Israel einmal aufgebrochen, fluchtartig und ohne ein Ziel zu kennen. Die Geschichte vom Auszug, längst in großen Filmen nacherzählt, ist und bleibt als eine Menschheitsgeschichte einfach spannend und greift tiefer in unser Leben ein, als uns bewusst ist.
Zwischen Israels Aufbruch und Auszug aus Ägypten und seinem Einzug in dem von Gott zugesagten Land liegen tiefgreifende Erfahrungen, Erfahrungen, die weit über ein Einzelschicksal hinausweisen. Es ist die, eines langen mühevollen Weges aus der Unterdrückung in die Freiheit, eine ebenso aufrührerische wie vertrauensvolle Erfahrung des Menschen mit seinem Gott.

Nicht Israel sucht sich diesen Gott, sondern dieser Gott sucht sich Israel. Er kommt dem Volk auf seinem Weg, in seiner Geschichte entgegen und er findet es in den Tiefen menschlicher Grenzerfahrungen: wirtschaftlich abhängig, sozial unfrei, in seiner Arbeitskraft ausgebeutet, von seinen religiösen Wurzeln getrennt. Dennoch geht nichts in dieser Beziehung glatt und einfach, Gott wird gegen die Götter ausgespielt, als er den Menschen fraglich wird. Viel, wie modern, lässt man sich seine goldenen Götter kosten - und doch ist gerade dieser Exodus, dieser Auszug zu dem prägenden Ereignis in der Geschichte Israels geworden, bis auf den heutigen Tag. Man erzählt davon seinen Kindern und Kindeskindern.

Das Buch Exodus, wie das 2. Buch Mose genannt wird, ist also nicht einfach nur die Schilderung jüdischer Geschichte, es ist sehr viel mehr. Es ist das einschneidende Dokument einer ganz besonderen existentiellen Gotteserfahrung. Israel kann diese Texte gar nicht anders erzählen, als eine Geschichte der Befreiung aus seiner ursprünglichen Gottesferne, die verbunden war mit Not, Unterdrückung und Knechtschaft. Wer von der Freiheit Israels redet, wird es als Jude immer in einem engen geistlichen Zusammenhang mit dem Gott Israels tun.

"`Jeder einzelne Jude in jeder Generation muss sich selbst so verstehen, als ob er dort gewesen wäre - dort bei den Generationen, den Stätten und den Ereignissen, die lange vor seiner Zeit liegen ( ...). Mit König David zog ich in Jerusalem ein, und mit Zedekia wurde ich von dort ins Exil geführt. Ich habe Jerusalem an den Wassern von Babel nicht vergessen, und als der Herr Zion heimführte, war ich unter den Träumenden, die Jerusalems Mauern errichteten ...’

In einer bewegenden Rede vor dem Deutschen Bundestag hat im Januar 1996 der damalige israelische Staatspräsident Ezer Weizman sehr persönlich seine jüdische Geschichte erzählt. Vergangenheit - so die jüdische Überlieferung - ist kein abgeschlossenes und distanziert zu betrachtendes Geschehen, sondern wird als ein "Geichzeitigwerden" mit der Gegenwart erfahren. Beteiligt am Früheren und betroffen von ihm wird für den heute Lebenden seine Geschichte zu einem unverzichtbaren Teil seiner Identität. `Wie ich sie dort und in jenen Tagen begleite, so begleiten mich meine Väter und stehen hier und heute neben mir’ (Weizman). So bleibt Geschichte lebendig, aktuell und wahrt die Kontinuität in den Zeiten. Auf diese Weise helfen "Erinnerung" und "Gedenken", die Gegenwart zu sehen und sich der Zukunft zu nähern ..." [2]

Das ist auch der Grund dafür, warum es heute so erschreckend ist, wie sehr sich das politische Israel seinen Wurzeln entfremdet hat. Vergessen ist die Not Israels in der Fremde, der Gefangenschaft, der Abhängigkeit und Unterdrückung, vergessen sind die Mahnungen der Propheten, sich nicht auf seine militärische Kraft allein zu verlassen, sie führten Israel in seiner Geschichte immer in neue weitere Katastrophen und leidvolle Erfahrungen hinein. Vermutlich wird auch der derzeitige Weg scheitern, weil es eine Auseinandersetzung ist, die ohne den Gott Israels geführt wird.
Der Gott Israels ist ja unteilbar auch der Gott der Palästinenser. Dass Israel seine eigene Geschichte so aus dem Blick verliert, ist ebenso bitter, wie wir unser Christsein aus dem Blick verloren haben. Juden, Christen und Moslems werden daher ganz neu aufzubrechen haben, ihren Gott in der Gegenwart und unter den sich ständig verändernden Bedingungen der Gegenwart jeden Tag neu zu finden und eine entsprechende Ethik des Zusammenlebens formulieren zu lernen.

Unsere Wüsten sehen heute anders aus, als die, durch die das murrende Volk Israel auf dem Weg in seine Freiheit zog, doch sie sind für uns ja in gleicher Weise Herausforderung, wie Verführung. Gott stellt sich mitten in der Wüste seinem Volk, also ganz und gar in den Niederungen des Lebens, nicht etwa in Glanz und Gloria. Das ist ein Bild von unendlicher Bedeutung, denn gerade hier in der Tiefe menschlicher Existenz erfährt dieses Volk seinen Gott. Gerade also in der Unfreiheit, Bedrängnis, den unsäglichen Bindungen und Gefährdungen des Lebens.

Der Gott Israels ist kein Schönwettergott, doch eben dadurch hört das Volk nun durch den Mund des Mose, was Gott erwartet: "ihr sollt ein Volk von Priestern sein, das mir ganz und gar zur Verfügung steht und mir ungeteilt dient ..." Weit hat sich das moderne Israel von dieser Erwartung entfernt, doch hüten wir uns, vorschnell mit dem Finger auf andere zu zeigen, denn mit dem von uns so gern herausposaunten protestantischen "Priestertum aller Gläubigen" ist es ja auch nicht weit her.

Der "Israelsonntag" erinnert uns Christen also in ganz besonderer Weise an unsere Wurzeln im Judentum, an unsere ganz natürlichen unlösbaren Bindungen an Israel. Wir sind eingeladen, das Angebot Gottes, sein Volk zu werden, zu bedenken und frei zu entscheiden, wohin wir aufbrechen möchten, in was für eine Zukunft hinein wir heute leben und dann einmal sterben wollen. So, wie Gott Mose angesprochen hat, und Mose sich dem Volk stellte, so hat später Jesus von Nazareth die Menschen seiner Zeit angesprochen, um sie aus den Wüsten ihres Lebens hinauszuführen. So sinnvoll und hilfreich die Gebote, die Israel damals erfuhr für die Menschheit, für Gott und Welt, auch sein mögen, viel entscheidender waren auf diesem Weg die Begegnungen, die Erfahrungen mit eben diesem Gott.

Was uns als befreiende Botschaft heute zu bedenken angeboten ist, ist dass Gott niemanden von uns in die Wüste schickt, sondern gerade umgekehrt, uns selbst dort findet und anspricht, wo wir scheinbar von allen guten Geistern verlassen sind. Hier, gerade in den Tiefen unserer Existenz, in den Höhen und der Lebensfreude ja ohnehin, dürfen auch wir uns zuversichtlich und getröstet angesprochen fühlen und mit Israel zusammen hören wenn Gott uns allen sagt: "... Ihr habt erlebt, dass ich euch getragen habe wie ein Adler seine Jungen ...", das aber gilt auch für die Zukunft, darauf dürfen wir vertrauen.
Amen.


Literatur:

  1. Kafka, F., Sämtliche Erzählungen, Hrsg. Paul Raabe, Frankfurt, 19702, S. 321
  2. Ittmann, N., Calwer Predigthilfen, 2001/2002, 2. Halbband, Stuttgart 2002, S. 103
außerdem: Letzte Änderung: 04.08.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider