Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen


5. Mai 1996, Sonntag "Kantate"
St. Laurentius Kenzingen

Ökumenischer Gottesdienst
zur Eröffnung der Aktion Menschenrechte 1996


"... Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, daß ein Christen Mensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe ... Sieh, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, die alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Das gebe uns Gott recht zu verstehen und zu behalten. Amen.

Martin Luther,
Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520


Liebe ökumenische Gemeinde!


Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beginnt in seiner Präambel mit den Worten: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ..." Noch vor den "Grundrechten", in denen es ja um die Grundwerte unserer menschli- chen Existenz geht, wird bereits auf Gott verwiesen. Historisch war dies durchaus umstritten. Der Bezug auf Gott sollte über das hinausweisen, was menschlich möglich ist, und somit einen `Verpflichtungshorizont’ schaffen (Mangold/Klein).

Damit war aber zugleich auch klar, daß Gott von niemandem allein für sich in Anspruch genommen werden konnte. Er gehört keiner Kirche, keiner religiösen Gruppe, keiner Partei. Gott erinnert uns an diesem Ort der Verfassung daran, daß wir Menschen immer aufeinanderbezogen und in vielfacher Weise auch begrenzt leben. Steht Gott am Anfang unseres Grundgesetzes, so soll er erst recht am An- fang unserer "Aktion Menschenrechte" stehen. Darum beginnen wir heute mit einem ökumenischen Gottesdienst unser Nachdenken über die Menschenrechte, dem dann eine ganze Serie von Veranstaltungen folgen werden.

Der Text, über den wir miteinander als ökumenische Gemeinde nachdenken und uns auf unser großes Thema einstimmen lassen wollen, stammt von Martin Luther. Längst steht gerade er ja nicht mehr für das, was uns trennt, sondern für das, was uns eint, nämlich sein Fragen nach der Rechtfertigung des Menschen durch den Gott, der seinem Geschöpf - uns - dennoch die Treue hält . Er schloss 1520 seine große Schrift: " Von der Freiheit eines Christenmenschen " mit den Worten:

Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, daß ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe ... Sieh, das ist die rechte geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, die alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Das gebe uns Gott recht zu verstehen und zu behalten. Amen.

So sind wir nun in sehr verschiedener Weise herausgefordert, unser Thema anzu- denken. Die Menschenrechte, die bei uns im Grundgesetz garantiert sind, stellen gerade auch uns Christen vor Fragen: Was ist denn eigentlich des Menschen Recht? Wer oder was gibt dem Menschen sein Recht? Woher nehmen wir uns unser Recht? Und bei der Berufung auf die Menschenrechte und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (§1,1 GG) höre ich die Anfragen von Asylanten, Spätaussiedlern, Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen oder alleingelassenen Müttern mit Kindern, und ich frage mich, wie es da um die Würde des Menschen steht? Wie erfahren sich Homosexuelle oder Aids-Kranke in unserer Gesellschaft?

Wir spüren bei diesen Fragestellungen auch die Schuld, das Versagen unserer Kirchen, denn selbst die Menschenrechte wurden ja zunächst nicht im Raum der Kirche erkämpft, so daß gerade hier Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander- klafften.
Ja selbst heute - eingebunden in einen modernen Rechtsstaat - werden wir als Kirchen nicht schuldfrei leben können, weil wir eben nicht tun, was uns das Evangelium vorgibt. Oft fehlt die Kraft, manchmal die Einsicht, vielfach aber auch die Macht, entsprechend auf Gesetze einzuwirken.

Doch hüten wir uns davor, nun allzu schnell und einfach mit dem Finger nach Rom oder Genf, nach Freiburg oder Karlsruhe zu zeigen, weil ja die Fehler immer bei den anderen, denen "da oben" gemacht werden. Wir hier sind die katholischen und evangelischen Christen, die zusammen Kirche sind. Uns sieht man und mit uns lebt man zusammen. Mit uns werden unsere Kirchen als glaubwürdig oder unglaubwür- dig erfahren. Da auch das Grundgesetz Randgruppen und Minderheiten nicht immer vor Machtmissbrauch schützen kann, sind wir dazu aufgerufen, hellwach und so konkret als möglich unser Wort zu sagen. Denn nur allzu oft spüren wir ja, daß die- jenigen, die in einer Demokratie gerade die Macht besitzen, damit noch nicht selbst- verständlich immer Recht haben und das Rechte tun.

Sehr bewusst wollen wir daher zunächst von unserem Erfahrungshorizont ausgehen, denn zu schnell weichen auch wir Christen aus und beklagen Menschenrechtsverletzungen in der weiten Welt, sehen aber das nicht, was ganz konkret um uns herum geschieht.

Martin Luther sagt: Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten. Das markiert den Denkansatz, mit dem wir Christen in der Welt leben. Der Glaube bindet uns an Gott, an Christus, die Liebe an den Nächsten. Das ist nach Luther unsere Freiheit. Recht hat also nicht automatisch der Stärkere, die Regierenden, die schweigende Mehrheit, die Habenden zu denen die meisten von uns gehören - gerade Einzelne und Minderheiten haben uns gelehrt, daß vielfach die Nächstenliebe, aber auch das Recht oft ganz woanders zu finden waren.

Immer wieder erfahren wir uns in Situationen, wo es zu entscheiden gilt, in wie weit wir unserem christlichen Glauben nun auch Gestalt geben wollen, denn wozu benutzen wir unseren Verstand, unsere Gefühle, Augen und Ohren, wenn nicht dazu, uns entscheidungsfähig zu machen. Wozu haben wir Hände und Füße, wenn nicht dazu, sie füreinander und nicht gegeneinander einzusetzen. Wozu einen Mund, wenn nicht dazu, ein Wort zu wagen, das den Mitmenschen leben hilft. Jede Situation stellt uns in die Freiheit der Entscheidung.

Wir sehen zurück auf die alten Propheten der Bibel, einsame und verfolgte Men- schen, die Gottes Recht anzusagen hatten, wenn Menschen Unrecht taten und die mit ihrem Wort auf wenig Gegenliebe stießen. Da war dieser Mensch Jesus von Nazareth, dem wenige glaubten, als er die Gegenwart Gottes hier und heute verkündigte und dessen Worte und Taten etwas von einem neuen Himmel und einer neuen Erde aufleuchten ließen. Da sehen wir auf die Märtyrer der Kirche, die ihren Glauben lebten und für ihn starben, auch Laurentius, dessen Name diese Kirche trägt und der uns seinem Geist verpflichtet. Wir hören einen so bedrängten und vielfach angefochtenen Mann wie Martin Luther, der sein Leben lang auf Gott verwies. Wir sehen Martin Luther King, der sich gegen heftigsten Widerstand für die Farbigen in den USA einsetze oder Frauen und Männer aus dem Kirchenkampf, die Nein zu sagen wagten, wo andere verführt ihr Heil schrieen.

Nein, es waren selten die Mehrheiten, die Recht hatten. Es waren immer einige wenige, die auf dem Boden ihres Glaubens lebten, arbeiteten, redeten. Sie sind uns von Gott aus Orientierung für ein sinnstiftendes Leben, für ein Leben, das mit Gott konkret rechnet und sich daher der Welt stellt. Von Gott aus wird des Menschen Recht gerade durch die Liebe bestimmt, und das hat eine besondere Qualität.

Wir alle spüren es, daß der Mensch ja nicht von sich aus einfach gut ist. Er würde es wohl ganz gern sein, aber im Zusammenleben der Menschen, in den Weltbezügen, in seinen geistigen Voraussetzungen und sozialen Rahmenbedingungen ist der Mensch vielfach gebundener, festgelegter, als ihm bewusst ist. Oft würde man wohl gern das Gute tun, wozu man dann aber die Kraft nicht aufbringt. Daher die großen und kleinen Verletzungen der Menschenrechte, vielfach aus purer Gedankenlosig- keit geboren, manchmal sicher auch aus Angst, selbst zu kurz zu kommen, denn ein anderer könnte uns ja nehmen, was vermeintlich uns allein gehört. Oft geschehen sie aber auch sehr bewusst, um Menschen abhängig und gefügig zu halten, Macht und Herrschaft über andere auszuüben. Und so kommt oft genug der Wolf im Schafspelz daher.

Hier sind wir Christen gefragt. Wer Gottesdienst, ja Eucharistie feiert, kann nicht unbedacht in den Tag hinein leben. Der Glaube bedingt Nachdenklichkeit, ja er fordert sie geradezu heraus. Denn wer Gott sagt und dem anderen sein Recht auf Leben und Würde nimmt, meint nicht den Gott, der hier in unseren Kirchen verkündigt wird. Sicher leben wir Christen kaum besser als andere Menschen, aber wir wissen aus unseren Gottesdiensten wenigstens um unsere Schuld und unser Versagen. Wir müssen uns und anderen da nichts vormachen. Das Wort Gottes schärft unseren Glauben, macht uns nachdenklich, aufmerksam und empfindsam. Und: Es lässt uns keine Möglichkeit, uns billig herauszureden, denn Gott macht uns verantwortlich für das Gesicht der Welt, in der wir leben, für das Zusammenleben hier in Kenzingen, Bombach, Hecklingen und Nordweil. Wir sind verantwortlich, weil unser Glaube uns an Christus und die Liebe uns an den Mitmenschen bindet. Das aber immer in einer freien Entscheidung.

Die Menschlichkeit Gottes bedingt die Menschlichkeit des Menschen. Weil wir uns von Gott aus bejaht, uns angenommen wissen, darum dürfen wir auch einander bejahen und annehmen. Unser Glaube wäre doch wie der Weihrauch vom vergangenen Sonntag oder die verwelkten Blumen vom Altar, wäre doch nicht mehr als fromme Beschaulichkeit, wenn wir ihn nicht mit aus unseren Kirchen heraus neh- men würden auf die Straßen unserer Stadt, in die Stadtteile, in die Geschäfte und Betriebe, in unsere Schulen und Familien.

Als Christen bleiben wir aufeinander verwiesen, uns von Gott aus immer wieder neue und andere Wege zu zeigen, die wir gehen können, um jedem Menschen, der uns in den Lebensweg hinein gestellt ist, das an Würde und Recht zukommen zu lassen, was wir gern für uns selbst in Anspruch nehmen. Dabei bleiben wir auf die Hoffnung angewiesen, die jeder Resignation wehrt und jeden Mut nimmt. Große, pathetische Worte verführen zu schneller Begeisterung, die dann im Alltag aber ebenso schnell vergessen sind. Jeden Tag wird es so auf den ersten kleinen Schritt ankommen, den wir tun oder einander versagen. Hier entscheidet sich Himmel und Hölle, Gott oder das Böse, Leben und Tod.

Es wurde einmal sehr zutreffend gesagt: `Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen'. Kein Mensch kann leben, arbeiten, lieben, handeln ohne Zukunft und ohne eine Hoffnung für diese Zukunft zu entwickeln. Sie ist immer ein Spielfeld mensch- licher Wünsche, Sehnsüchte, Träume und Spekulationen gewesen. Hat uns die Vergangenheit in bestimmter Weise auf die Gegenwart festgelegt, so ist die Zukunft offen, da ist fast alles noch möglich. Daher ist das Entscheidende, wie wir die Erfahrungen unserer Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft nutzen.
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In der Dreigroschenoper von Bert Brecht wird am Schluss gesungen:

Denn die einen sind im Dunkel
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Gerade sie, die man nicht so gern sieht, sind und bleiben unsere Aufgabe, unser Auftrag in der Schöpfung Gottes. Und wo uns der Geist Gottes in unseren Lebensbezügen und Entscheidungen begleitet, da werden wir das Gesicht der Welt verändern, das Gesicht der Welt, die hier bei uns beginnt. Es liegt an uns, wie wir unsere Freiheit, die Freiheit eines Christenmenschen leben.

"... Das gebe uns Gott recht zu verstehen und zu behalten. Amen."


Letzte Änderung: 20.06.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider