Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

11. Sonntag nach Trinitatis 2000

Galater 2, 16-21:

Aber wir wissen, daß kein Mensch deshalb vor Gott als gerecht bestehen kann, weil er das Gesetz befolgt. Nur die finden bei Gott Anerkennung, die in vertrauendem Glauben annehmen, was Gott durch Jesus Christus für uns getan hat. Deshalb haben auch wir unser Vertrauen auf Jesus Christus gesetzt, um durch das Vertrauen auf ihn bei Gott Anerkennung zu finden und nicht durch Erfüllung des Gesetzes; denn mit Taten, wie sie das Gesetz verlangt, kann kein Mensch vor Gott als gerecht bestehen.

Auch wir als Juden suchen also durch Christus vor Gott als gerecht zu bestehen, und damit geben wir zu, daß wir genauso Sünder sind wie die Menschen der anderen Völker. Soll das heißen, daß es nicht mehr auf gut und böse ankommt und demnach Christus ein Diener der Sünde ist? Auf keinen Fall! Vielmehr mache ich mich selbst zum Sünder, nämlich zum Übertreter des Gesetzes, wenn ich durch mein Verhalten das Gesetz zuerst für ungültig erkläre und dann doch wieder in Geltung setze. In Wirklichkeit hat das Gesetz von mir nichts mehr zu fordern: Ich bin tot für das Gesetz, das Gesetz selbst hat mich dahin gebracht, und jetzt lebe ich für Gott. Ich bin mit Christus am Kreuz gestorben. (Nämlich weil es den Sündern den Tod bringt, der aber für die »mit Christus« Gestorbenen die Tür zum Leben ist.)

Darum lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Das Leben, das ich jetzt noch in diesem vergänglichen Körper lebe, lebe ich im Vertrauen auf den Sohn Gottes, der mir seine Liebe erwiesen und sein Leben für mich gegeben hat. Ich weise die Gnade Gottes nicht zurück. Wenn wir vor Gott damit bestehen könnten, daß wir das Gesetz erfüllen, dann wäre ja Christus vergeblich gestorben!

Gebet:

Herr, guter Gott! Mit diesem Gottesdienst sind wir gefragt, was für ein Geist aus uns spricht, was uns im Leben bedeutsam, wichtig, ja letztlich lebensentscheidend ist für den Sinn unserer Existenz - und wo du, Herr, deinen Platz in unserem Leben hast? Unsere Grenzen erkennend, können wir nur um Deine Gegenwart bitten.

Wir danken dir für dein Wort, auch wenn es uns einmal nachdenklich macht, herausfordert, vielleicht sogar stört. Hilf uns, dass unser Glaube verbindlicher wird und unser Tun als Christen in dieser Welt glaubwürdiger.

Herr, was ist uns nicht alles wichtig und bedeutsam im Leben und wie sehr tritt bei uns heute der Glaube an Dich, unseren Gott, in den Hintergrund. Wir schaffen uns unsere zeitlichen Götter und Götzen und verteidigen unser kleines Christentum als Rückversicherung. Lass uns ehrlich erkennen, dass nicht die fromme Form, unser volkskirchliches Christentum, gute Traditionen uns dir näher bringen, sondern allein unser verbindlicher Glaube an dich. Herr, zu dir kommen wir und bitten um deinen guten Geist. Amen.


Liebe Gemeinde,

Die Handlung spielt in Spanien in der schrecklichsten Zeit der Inquisition. Plötzlich ist er da: "In unermesslichem Erbarmen kommt Er zu ihnen noch einmal in derselben menschlichen Gestalt, in der er einst dreiunddreißig Jahre lang unter den Menschen gewandelt, vor anderthalb Jahrtausenden ... Er ist ganz still und unbemerkt erschienen, aber alle - sonderbar ist das -, alle erkennen Ihn ... Eine unwiderstehliche Macht zieht das Volk zu Ihm hin; es umringt Ihn, wächst mehr und mehr um Ihn an und folgt Ihm, wohin er geht. Er aber wandelt stumm unter ihnen mit einem stillen Lächeln unendlichen Mitgefühls ... Er streckt ihnen die Hände entgegen, er segnet sie ... 'Das ist Er, Er selbst' raunt sich das Volk immer lauter und lauter zu...", so beginnt F.M. Dostojewski seine großartige Erzählung vom Großinquisitor aus dem Roman "Die Gebrüder Karamasoff";.

Und dann erscheint dieser. "Er ist ein fast neunzigjähriger Greis, groß und aufrecht, mit vertrocknetem Gesicht, eingesunkenen Augen, in denen aber noch ein Glanz blinkt wie ein Feuerfunke ... Ihm folgen in angemessenem Abstand seine finsteren Gehilfen und Diener und die 'heilige' Wache ..." Nicht für die Botschaft des Glaubens lebt und tritt er auf, sondern für die Autorität der Kirche seiner Zeit. Sofort lässt er Jesus verhaften, als er bemerkt, dass dieser - wie damals - seine Wunder vollbringt.

Im Dunkel der tiefen Nacht besucht der Großinquisitor seinen Gefangenen, womit die mittelalterliche Kirche mit allen Insignien der Macht in einer gespenstischen Situation noch einmal vor dem menschgewordenen Gott steht. Er sagt: "Und ich sage Dir nochmals: morgen noch wirst Du diese gehorsame Herde sehen, die auf meinen ersten Wink zu Deinem Scheiterhaufen stürzen wird, um das Feuer zu schüren. Denn auf den Scheiterhaufen bringe ich Dich dafür, dass Du uns stören gekommen bist. Und wahrlich, wenn es einen gegeben hat, der vor allen anderen den Scheiterhaufen verdient, so bist Du es. Morgen werde ich Dich verbrennen! ..."

Still hört Jesus zu und schaut dem Großinquisitor, ohne etwas sagen zu wollen, in die Augen. Dann geht er auf diesen zu und küsst ihn schweigend, "das ist Seine ganze Antwort... Der Greis zuckt zusammen, ... er geht zur Tür des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zu Ihm: "Geh und komme nie wieder ... komme überhaupt nicht mehr ... nie wieder, nie wieder!" Und er lässt ihn hinaus auf die dunklen Gassen der Stadt. Und der Gefangene geht hinaus ..."

Warum heute zu unserem Predigttext diese Geschichte der Weltliteratur? Lange habe ich darüber nachgedacht, wie dieser gewaltige Text mit seiner Fülle von schwerwiegenden Aussagen für uns selbst Bedeutung erlangen kann, zielt er doch auf die Frage ab, ob wir es Paulus so nachsprechen könnten, dass "nun nicht mehr ich selbst lebe, sondern Christus lebt in mir?"

Dostojewskis großartige Geschichte vom Großinquisitor schildert uns, wie ein Kirchenfürst etwas zum Ausdruck bringt, was viel mit seiner Vorstellung von Kirche und ihrem mittelalterlichen Selbstverständnis zu tun hat, sich über die Jahrtausende hinweg aber weit von dem entfernte, was Jesus selbst lehrte und tat. Denn wie kann man den auf den Scheiterhaufen bringen wollen, der doch gerade aus unserem Glauben heraus öffentlich gelebt werden sollte? Der Vorwurf des Kardinals ist, dass der menschgewordene, menschenfreundliche Gott die etablierte Kirche stört.

An diesem Beispiel können wir überprüfen, was in uns selbst lebt, was uns wichtig und so bedeutsam ist, dass also nicht mehr wir selbst, sondern Christus in uns lebt. Wenn ich meine eigenen Gedanken und Gefühle hierzu überprüfe, so fällt mir einiges ein, was mich in meinem Leben erfüllt: meine Familie bewegt mich, unsere Freunde sind mir wichtig, mein Beruf macht mich glücklich. Ich lese gern, liebe Bücher, gute Musik, eine abendliche Pfeife und ein Glas Wein. Ja, ich fühle mich irgendwie reich, auch reich beschenkt, weil nun sicher nicht alles mein Verdienst ist, was ich habe, was zu mir gehört, was mein Leben prägt.

Und wo ist da der für mich menschgewordene Gott? An welcher Stelle wird er mir bedeutsam, mein Leben entscheidend prägend, so dass im Grunde gar nichts anderes aus mir sprechen könnte als Er allein: sein Geist aus meinem Geist, sein Wort durch mein Wort? Ich spüre, wie weit ich davon entfernt bin, wie Paulus denken zu können und wie nah mir der selbstgerechte Großinquisitor ist, dem Gott zur Störung wird. Paulus spricht über das "Gesetz", er sagt: "Aber wir wissen, daß kein Mensch deshalb vor Gott als gerecht bestehen kann, weil er das Gesetz befolgt. Nur die finden bei Gott Anerkennung, die in vertrauendem Glauben annehmen, was Gott durch Jesus Christus für uns getan hat."

Was uns in diesen Worten begegnet, ist die ganz persönliche Auseinandersetzung des Apostels mit seinen jüdischen Wurzeln. Unmissverständlich, ja fast radikal grenzt er den Glauben an Christus vom Glauben seiner jüdischen Mütter und Väter ab. Er weiß, dass kein Gesetz, weder die genaue Einhaltung der Thora, noch Reinheitsgebote oder die wichtigen Regeln für den Sabbat wesentlich für die Gottesbeziehung sind. Entscheidend ist für ihn nicht das Verhalten des Menschen, sondern das, was Gott selbst für einen jeden Menschen getan hat und tut, in dem er sich dem Menschen schenkt.

Übertragen wir das auf unsere Situation heute, so bleibt die Frage nach dem Grund unserer Christusbeziehung: reicht es, getauft zu sein, sich konfirmieren zu lassen, Kirchensteuern zu zahlen, Weihnachten und Karfreitag in die Kirche zu gehen, vielleicht sogar ein guter Mensch zu sein? Nein, ganz entschieden Nein würde Paulus sagen, das alles hilft dir gar nichts, weil das auf die Seite des Gesetzes gehört, volkskirchliche Regeln werden beachtet, die religiöse Form hier und da noch gewahrt: man lässt sich halt taufen, konfirmieren, zahlt - wenn auch ungern - seine Kirchensteuern, geht gelegentlich zur Kirche und bemüht sich um ein anständiges Leben. Das alles kann aber auch mit guten und sinnvollen Traditionen begründet werden, sozialen oder psychologischen Zwängen, es muss nicht zwingend etwas mit meinem ganz persönlichen Gottesverhältnis zu tun haben.

Es kommt Paulus also nicht darauf an, mit dem Glauben die Form zu wahren, eine Pflicht zu erledigen, sondern darauf, sich so für Gott, sein Wort und seinen Geist zu öffnen, dass wir davon ganz und gar erfüllt werden. Wir spüren, hier stoßen wir an die Grenzen unserer menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten, und das einzusehen, hilft uns schon weiter, weil wir dann erst verstehen lernen, dass es auf Gott selbst ankommt, uns zu "rechtfertigen", uns anzunehmen, wie wir es heute sagen würden. Weil wir Menschen sind, machen wir Fehler, wir verhalten uns falsch, wir werden unseren Glauben kaum so leben können, wie wir es uns wohl manchmal sogar wünschten. Was wir wieder und wieder in unserer Gottesbeziehung zu lernen haben, ist, auf diesen Gott zu vertrauen, ihm eine Chance in unserem Leben zu geben, ihn für uns wirklich wieder ganz neu bedeutsam werden zu lassen.

Der Geschichte von diesem unendlich mächtigen, rechtmeinenden, aber hartherzigen Großinquisitor möchte ich eine kleine Presseinformation entgegenstellen, die unsere Fragestellung von einer ganz anderen Seite her aufgreift: Im SPIEGEL war dieser Tage unter der Überschrift "Ein Mythos versinkt" zu lesen:

"Wenn ein Atheist und Stabsoffizier erklärt, die Situation sei so ernst, dass nur noch beten helfe, dann muss man davon ausgehen, dass die Lage hoffnungslos ist. Es war in der abendlichen Nachrichtensendung des offiziösen russischen TV-Senders ORT am Mittwochabend um acht Uhr. Jekaterina Andrejewa, 35, Russlands beliebteste TV-Journalistin, fragte Igor Dygalo, den Sprecher der Russischen Flotte, wie lange der Sauerstoff für die Mannschaft der "Kursk" noch reiche. Statt eine Antwort zu geben, hielt Stabsoffizier Dygalo eine Ikone in die Kamera und bat Zuschauer und Interviewerin mit bebender Stimme, für die auf Grund gelaufenen Kameraden ein Gebet zu sprechen. Da ahnten alle: es ist vorbei" (DER SPEGEL, 34/2000).
Kann es das geben, dass ein Mensch, der gar nicht an Gott glaubt, plötzlich etwas von der Liebe Gottes öffentlich vermittelt und damit glaubwürdiger erscheint, als manch einer, der längst aus seinem Glauben ein Gesetz, eine formale Hülle gemacht hat, jedoch weit davon entfernt ist, Gott selbst zu lieben und dieser Liebe dann durch die Taufe, seine Konfirmation, den Gottesdienst, ein entsprechendes Leben Ausdruck zu verleihen? Was wir durch diese Fernsehbotschaft vermittelt bekommen, ist, dass Gott selbst sich zum Ausdruck bringt, wo und wie immer er es für richtig hält und will, dann lässt sich sogar für einen Atheisten spontan eine Ikone finden.

Dieser wirklich schwer zugängliche, herausfordernde Text ermutigt uns dennoch, uns wieder einmal mehr und wirklich ernsthafter nach dem entscheidenden Grund unseres Glaubens zu fragen und jeden Tag neu darum zu bitten, dass Gott unser Tun und unser Lassen begleitet. Keine Selbstrechtfertigungen, keine Entschuldigungen rechtfertigen, wie wir mit Gott und unserem Glauben an ihn in unserem Leben umgehen, darum bleiben wir auf die Zuwendung (die Gnade) Gottes angewiesen.

Ich weiß, dass ich Paulus diesen Satz: Darum lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir, so einfach und wirklich glaubwürdig nicht nachsprechen kann, was ich aber tun möchte, ist darum zu bitten, dass es mir besser und besser gelingen möge. Wo das geschieht, wird all das, was zu meiner Lebensfreude und zum Sinn meines Lebens gehört, noch einmal so wertvoll für mich werden, weil es von der Liebe unseres Gottes begleitet ist, ein Geschenk, dem dann als kleiner Dank auch mein Tun folgen wird. Vielleicht sind es gar nicht die ganz großen spektakulären Werke des Glaubens, doch die ersten kleinen Schritte.

Martin Luther sagte einmal: "Gerecht macht der Glaube, ..., wo der ist, ist Christus." Nun, fragen wir uns doch einmal: wo ist Er denn, gerade auch in meinem, in unserem Leben?

Ich wünsche uns allen einen Christus, wie dem von Don Camillos Hochaltar, einen Christus, der mit uns streitet, gelegentlich den Kopf über uns schüttelt, aber dann auch wieder über uns lächelt, der uns also auf seine Weise hautnah verbunden ist. Wo wir diese Nähe in uns zulassen, lebt unser Gott dann wirklich auch aus uns heraus.
Amen.


Pfr. Hanns-Heinrich Schneider
Letzte Änderung: 06.09.2000