Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Judika, 17.03.2002
Hebräer 13, 12-14

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Was erwartet uns, was erwarten wir eigentlich "draußen vor der Tür"? Ja, vor der Kirchentür oder umgekehrt, je nach Perspektive hinter ihr? Was erwarten Menschen von uns, die darum wissen, dass wir hier sonntags Gottesdienst feiern? Wer steht "draußen", wer gehört dazu, wer von uns ist "in" oder "out" - und warum ist er es? Hören wir das Wort Gottes gerade in dieser Passionszeit so, dass es uns hineinnimmt in unsere Verantwortung für die Welt, damit niemand mehr "draußen vor der Tür" bleibt, ausgegrenzt und abgeschoben. Herr, weise mir deinen Weg und leite mich auf rechter Bahn

Gebet:

Herr, unser Gott!

Ohne deine Augen sehe ich nur die Hälfte
ohne deine Ohren höre ich schlecht
ohne deinen Mund komme ich ins Stottern
ohne deine Hände begreife ich nicht viel
ohne deine Füße verlaufe ich mich
ohne deine Liebe wird es wüst in mir

Deshalb bleibe doch, bleibe doch -
nicht "draußen vor der Tür"
komm und bleibe da
Noch ist es Zeit
gegen alle Ausgrenzung die Tür zu öffnen
gegen die Armut zu träumen
gegen den Ungeist etwas zu sagen
gegen Gewalten zu handeln
gegen den Tod zu lieben

Noch ist es Zeit
für uns
zu leben
für diese Welt

deshalb -
öffne die Tür -
und bleibe da.
Amen.

Predigttext:

So ist auch Jesus außerhalb der Stadt gestorben, um durch sein Blut das Volk von aller Schuld zu reinigen. Also lasst uns zu ihm vor das Lager hinausgehen und die Schande mit ihm teilen. Denn auf der Erde gibt es keine Stadt, in der wir bleiben können. Wir sind unterwegs zu der Stadt, die kommen wird.

Hebräer 13, 12-14


Liebe Gemeinde!

Damit ist unsere volkskirchliche Situation auf den Punkt gebracht. Der uns unbekannte Briefschreiber erinnert mit bewegenden Worten an den Tod Jesu außerhalb der Stadt, außerhalb jeder Zivilisation. Er setzt uns mit wenigen Worten in Bewegung, denn wo teilen wir in unserem Leben diese Erfahrung der Kreuzigung Jesu für uns selbst? Was geht uns das an, wie steht es um unseren Glauben - heute? Sind wir denn wirklich noch unterwegs: kennen wir den Weg, ahnen wir etwas von diesem Ziel, für das es zu leben, zu lieben, zu arbeiten, zu kämpfen lohnt, diese uns unbekannte Stadt, den Ort in dunkler Zukunft, wo wir dennoch einmal ankommen möchten? Gibt es diesen Traum für uns, diese Erwartung, ja Hoffnung?

Der Schreiber des Hebräerbriefes hat Menschen im Blick, deren Erfahrungen unseren eigenen ähneln. Es ist schon eine Weile her, dass man Christ wurde, die begeisternde Frische des Anfangs ist vorüber. Der Glaube der Väter und Mütter hat Patina angesetzt, der Gottesdienst, die Gemeinschaft, selbst die guten Werke werden vernachlässigt. Es geht gar nicht mehr so sehr um die Auseinandersetzung mit Irrlehren und dem Heidentum der Umwelt, als um eine gewisse Glaubensmüdigkeit. Wie oft werde ich in meinem Leben gehört haben, ach, Herr Pfarrer, sonntags, da möchte ich einmal ausschlafen ..., ich glaube ja schon an Gott - aber? Eben diese Art von Glaube, nämlich Unglaube, bringt Jesus ans Kreuz und tötet Gott täglich in uns neu.

Jesus ist außerhalb der Stadt gestorben, entrechtet, ausgestoßen. Solche Leute will man in der Stadt nicht haben, nicht einmal hinrichten, wir kennen das von mittelalterlichen Galgen in unseren Städten, die immer außerhalb der Stadtmauern aufgerichtet wurden. Jesus von Nazareth, dieser menschliche Brückenschlag zwischen Gott und der Welt, stirbt zur Versöhnung für uns. Wir haben ja gerade die öffentlichen Diskussionen um die Opferriten der Moslems, angesichts ihres Versöhnungsfestes, mitbekommen. Im Judentum war es üblich, einmal im Jahr in einer großartigen Prozession, angeführt von den geistlichen Führern des Volkes, einen Schafsbock an die Grenze zur Wüste zu führen. Diesem wurde dann vom Hohenpriester die Hand aufgelegt und feierlich die Schuld des ganzen Volkes stellvertretend übertragen. Danach wurde er in die Wüste gejagt - also dem Tod überliefert.

Jesus stirbt nicht einfach so, er stirbt nicht akademisch, sondern er stirbt den qualvollen Tod eines Menschen, der damit eine Aufgabe erfüllt. Es ist wie so oft im Leben, dass sich einer für einen anderen stark macht, sich einsetzt und dann die ganze Gegnerschaft, den Hass zu spüren bekommt. Jesus stirbt stellvertretend. Das Kreuz mit seinen Querbalken wird zu einem sinnbildlichen Wegweiser aus der Welt zu Gott und umgekehrt in die Welt hinein. Darum soll die Christengemeinde hinausgehen und die "Schande" mit ihm teilen, zeigen, zu wem sie gehört und wer und was der Grund ihres Glaubens ist.

Wolfgang Borchert, mit 26 Jahren 1947 gestorben, berichtet in seinem Stück: "Draußen vor der Tür" von einen Mann, "der nach Hause kommt. Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür ..." [1] Dieser Mann heißt Beckmann. Und Beckmann fragt:

"Hat auch Gott Theologie studiert? ... Wir haben dich gerufen. Gott! Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht! Wo warst du da, lieber Gott? Wo bist du heute Abend? Hast du dich von uns gewandt? Hast du dich in deine schönen alten Kirchen eingemauert, Gott? Hörst du unser Geschrei nicht durch die zerklirrten Fenster, Gott? Wo bist du? ... Oder bist du zu leise, Gott? Hast du zuviel Tinte im Blut, Gott, zuviel dünne Theologentinte? Geh alter Mann, sie haben dich in den Kirchen eingemauert, wir hören einander nicht mehr. Geh ... [2]
"Draußen vor der Tür"!? Wie viele Menschen erleben das in ihrem Leben ohne damit den Weg Jesu zu gehen, den Weg eines Gerechten unter den Menschen? Und doch geht es darum, dass immer wieder neu Menschen "draußen vor der Tür stehen". Ich denke z.B. an Arbeitslose, die sich an anonymen Automaten Nummern ziehen, um dann nach langer unsinniger Wartezeit, mehr oder weniger schlecht beraten, dennoch keine Arbeit zu bekommen. Wir kennen das Problem.

Ich sehe Sportler vor mir, die eine erwartete Leistung nicht erbringen oder, noch viel schlimmer, die erwünschten Hochglanzfotos verweigern, denken nur wir an die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein. Sie lief in der Beliebtheitsskala ihrer Konkurrentin Anni Friesinger immer hinterher, weil sie sich weigerte, sich wie jene öffentlich vermarkten zu lassen. Dabei war sie sportlich gesehen erfolgreicher. Die eine ist "in", die andere "out". Doch "draußen vor der Tür" gibt es eben keine lukrativen Sponsorenverträge. Schlagen wir die entsprechenden Zeitschriften auf oder die Fernsehkanäle ein, so erfahren wir sehr bald, wer "in" oder out" ist, wer dazu gehört und wer nicht.

Ich sehe Menschen mit Behinderungen vor mir, mit anderen Religionen, Fremde, die ihr Leben mit unserem teilen, ältere,kranke oder auch nur leistungsschwächere Menschen. Stehen sie alle in unserer Leistungsgesellschaft nicht "draußen vor der Tür ...?" Können sie nicht mit einigem Recht danach fragen, warum gerade sie da "draußen vor der Tür" stehen - und Gott anklagen? Ausgerechnet Gott, der damit ja nun wirklich gar nichts zu tun hat. Warum nur ist es so schwer, uns verständlich zu machen, dass wir nicht Gott dafür in Haftung nehmen können, wenn wir Menschen Kriege vom Zaun brechen, - beim Sport oder einem Verkehrsunfall umkommen, - ungerecht, friedlos und engherzig leben? Sind nicht gerade wir es, die in solchen Augenblicken gern die Verantwortung von uns weisen, diejenigen, die sonst aber in ihrem Leben, wenn alles glatt und gut läuft, Gott nur allzu schnell vor die Tür schicken?

So denke ich an uns selbst, an unser Christsein. Wo müssten wir stehen, wie unseren Glauben leben, damit er glaubwürdig wäre? Wie oft sagen wir "Ja" und leben dann allen guten Absichten zum Trotz dennoch ein lautstarkes "Nein", denken wir doch nur an unsere Konfirmation, die kirchliche Trauung, die Taufe unserer Kinder. Immer war es ein "Ja", das wir sagten, und viel zu oft lebten wir uns in ein "Nein", die Verweigerung hinein.

Der Schreiber des Hebräerbriefes weiß um dieses Innerhalb und Außerhalb. Wir werden kaum, wie er es erwartet, die Schande des Kreuzestodes mit Jesus teilen können. Um seines Glaubens wird unter uns keiner mehr getötet - und doch, was er erwartet, ist ja der Einsatz all derer, die sich Christen nennen. Sie sollen den, der für sie starb, nicht "draußen vor der Tür" allein lassen. Wir sind diejenigen, die den Glauben der Kirche so leben sollen, dass wir in diese Stellvertretung Jesu auf unsere je eigene Weise eintreten, Verantwortung dafür übernehmen, wie der Glaube in unserer Mitte gelebt wird.

Erst so werden wir unterwegs bleiben zu der Stadt, die kommen wird, die noch in der Zukunft liegt. Für fromme Juden war Jerusalem diese hochgebaute Stadt der geglaubten Gegenwart Gottes. Jerusalem blieb und bleibt für alle Zeit als eine solche Stadt in Erinnerung. Den alten wunderschönen Legenden nach soll Gott hier, auf dem alten Tempelberg, die Erschaffung der Welt begonnen haben. Hier am "Goldenen Tor" der alten Stadtmauer, unterhalb des Tempelberges, wird der Messias und damit das Ende der Weltzeit erwartet.

Wir müssen keine frommen Juden sein, um unsere Endlichkeit, die Endlichkeit aller Zeit zu begreifen - denn: "wir haben hier keine bleibende Stadt!" Das Tröstliche daran aber ist, dass auch der Hebräerbrief nicht mit dem dunklen Tod Jesu endet, sondern auf das Zukünftige hinweist. Erst, wenn wir es auf einem langen Lebensweg gelernt haben, Gott nicht mehr "draußen vor der Tür" stehen zu lassen, werden wir mit ihm und in der Nachfolge Jesu Christi dieser angedeuteten zukünftigen Stadt entgegengehen, entgegenleben. Sie ist ein grandioses Bild unserer Zukunft an der Seite, ja in der Gegenwart Gottes. Halten wir diesen Traum in uns wach, denn "draußen vor der Tür" erwartet uns diesbezüglich höchstens das Nichts, was sonst?

So, liebe Gemeinde, können wir Menschen sprechen, das scheint mit richtiger Theologentinte sauber geschrieben - und doch reicht meine Hoffnung weiter. Denke ich an Gott, selbst an den Gott, den wir ganz gern aus unserem Leben ausklammern, so glaube ich dennoch, dass er der Gott ist, der gerade auch"draußen vor der Tür" steht, bei all jenen, die wir so gern übersehen, ausgrenzen, nicht wahrhaben wollen, verurteilen, auch bei all jenen, deren Glaube anders aussieht als unser eigener. Gott reicht weiter als unser menschlicher Verstand. Der Traum bleibt, der Traum von dieser anderen zukünftigen Stadt, von dem Gott, der sich uns geschwisterlich an die Seite stellt, von Menschen, die schon jetzt begreifen, dass wir alle Bürger dieser einen Welt sind und nichts und niemanden "draußen vor der Tür" stehen lassen dürfen.
Amen.


Literatur:

  1. Borchert, W., Draußen vor der Tür, Rowohlt, Hamburg, 195910, S. 8
  2. Borchert, W., a.a.O., S. 46/47
Letzte Änderung: 25.03.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider