Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

3. Sonntag nach Trinitatis, 16.6.2002
Woche für das Leben,
Hesekiel 37,1-14

"Um Gottes Willen für den Menschen!"

Gott erweckt das tote Israel zu neuem Leben

Ich spürte, wie der HERR seine Hand auf mich legte. Er führte mich im Geist durch die Luft und setzte mich mitten in der Ebene nieder. Der ganze Boden war mit Totengebeinen bedeckt. Der HERR führte mich überall herum und zeigte mir die Gebeine. Es waren unzählige, und sie waren völlig ausgetrocknet. Dann fragte er mich: »Du Mensch, können diese Knochen wieder zu lebenden Menschen werden?« Ich antwortete: »HERR, das weißt nur du!«

Und er fuhr fort: »Rede als Prophet zu diesen Gebeinen! Ruf ihnen zu: `Ihr vertrockneten Knochen, hört das Wort des HERRN! So spricht der Herr, der mächtige Gott, zu euch: Gebt acht, ich bringe Lebensgeist in euch, und ihr werdet wieder lebendig! Ich lasse Sehnen und Fleisch auf euch wachsen und überziehe euch mit Haut. Und dann hauche ich euch meinen Lebensgeist ein, damit wieder Leben in euch kommt. Ihr sollt erkennen, dass ich der HERR bin!’«

Ich tat, was der HERR mir befohlen hatte. Während ich noch redete, hörte ich es rauschen. Die Knochen rückten zueinander, so wie sie zusammengehörten. Ich sah, wie Sehnen und Fleisch darauf wuchsen und sich eine Haut bildete. Aber es war noch kein Lebensgeist in ihnen. Da sagte der HERR zu mir: »Du Mensch, sprich als Prophet zum Lebensgeist, sag zu ihm: `So spricht der Herr, der mächtige Gott: Komm aus allen vier Himmelsrichtungen und hauche diese Toten an, damit wieder Leben in sie kommt!’«

Ich tat, was der HERR mir befohlen hatte. Da kam der Lebensgeist in sie, und sie wurden lebendig und standen auf. Es war eine riesige Menschenmenge. Dann sagte der HERR zu mir: »Du Mensch, diese Totengebeine sind das Volk Israel. Du hörst doch, wie sie sagen: `Unsere Gebeine sind vertrocknet, unsere Hoffnung ist dahin; wir haben keine Zukunft mehr!’ Darum rede als Prophet zu ihnen und sage: `So spricht der Herr, der mächtige Gott: Gebt acht, ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, heraus; ich führe euch heim ins Land Israel. Ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin, wenn ich das tue - wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus ihnen heraushole. Ich gebe meinen Geist in euch, damit wieder Leben in euch kommt, und bringe euch in euer Land zurück. Ihr sollt erkennen, dass ich das angekündigt habe und dass ich tue, was ich sage, ich, der HERR.’«

Liebe ökumenische Gemeinde!

"Um Gottes Willen für den Menschen!", so lautet das Leitthema der diesjährigen Woche für das Leben: "Um Gottes Willen für den Menschen!" So weit sind wir also schon gekommen, dass darum gefleht werden muss, sich "um Gottes Willen", für den Menschen stark zu machen. Die Kirchen erwarten von Wissenschaft und Forschung, von den politisch Verantwortlichen, angesichts der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes, der Stammzellenforschung und der Präimplantationsdiagnostik die Würde des Menschen unbedingt zu schützen und einen ethischen Rahmen für Wissenschaft und Forschung zu schaffen. So weit also, liebe Gemeinde, sind wir nun schon gekommen, dass überhaupt betont werden muss, sich für die Würde des Menschen einzusetzen, ja diese geradezu einzufordern.

Den Vätern des Grundgesetzes war sie unantastbar, und bei feierlichen Anlässen hören wir bis auf den heutigen Tag Reden, welche die oft und viel beschworenen Wurzeln unserer Kultur hervorheben und würdigen, sie waren einmal ein undiskutierbarer Bestandteil des Zusammenlebens in Deutschland, in Europa, das sich dem christlichen Abendland zugeordnet fühlt. Doch was nutzt das, wenn wirtschaftliche oder andere Interessen dagegen stehen? So gut wie niemals wird sich ein Forscher an irgendeine Leine legen lassen, wenn seine Forschung ihm Erfolg, Ruhm und Ehre verspricht.

Umgekehrt muss aber in gleicher Weise gelten, dass es ja ethisch gefordert sein kann, sich über die Grenzen hinaus zu forschen, um Krankheiten auf den Grund zu gehen, die durch gute Medikamente und vorbeugende Maßnahmen eingeschränkt, erleichtert oder sogar ganz aus der Welt geschafft werden könnten. Müssen bestimmte Krebserkrankungen, Parkinson oder Alzheimer sein, wenn wir durch eine verantwortbare Forschung, Mittel gegen sie finden könnten? Hierauf muss die Ethik Antworten versuchen, die angesichts unserer Möglichkeiten niemals einfach sein werden. Also nur in dieser unauflösbaren Spannung ist eine moderne Forschung heute möglich.

"Um Gottes Willen für den Menschen!" Doch was ist dieser Mensch, der so stark, wie verletzbar erscheint, human und doch so egoistisch fortschrittsgläubig, der sich durch die Möglichkeit seines Denkens auszeichnet, wie durch die des Mitfühlens? In jedem Fall ist er aber mehr als die Zusammensetzung seiner chemischen Bestandteile aus rund 68% Wasser, 20% Kohlenstoff, 6% Sauerstoff, 2% Stickstoff und 4% Aschenbestandteile, sein Marktwert, so berechnet, läge bei 5 - 10 Euro. [1]

Wohl fast jeder von uns spürt, wie gefährdet der moderne Mensch lebt, wie bedroht und versucht er durch die unendlich vielen Möglichkeiten von Wissenschaft und Forschung, von wirtschaftlicher Potenz ist und wie sehr seine gottgewollte Humanität dabei oft auf dem Spiel steht, denn fragen wir uns doch einmal: Wie gehen Menschen mit anderen Menschen um, - wie Gesunde mit Kranken, - wie die Stärkeren mit den Schwächeren? Wie die wohlhabenden Nationen der Welt mit dem Hunger und der Krankheit in der Dritten Welt? Wie - bei der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft - die Sieger mit den Verlierern? Wie erleben wir Politiker mit ihrer geliehenen Macht, - wie die Verantwortlichen in Israel mit den Palästinensern, - wie Palästinenser mit unbescholtenen Passanten in den Großstädten Israels? -

Wie wird in Deutschland der Diskurs über unsere Vergangenheit geführt und welche Meinung darf der Zentralrat der Juden in Deutschland öffentlich äußern und welche wir anderen Deutschen dem Zentralrat der Juden gegenüber? Was also darf persönlich gemeint oder öffentlich gesagt werden, und wo verlaufen die Grenzen des gegenseitigen Respektes und der Würde des Menschen - hier und anderswo in der zivilisierten Welt? "Um Gottes Willen für den Menschen!", bleibt das ein unüberhörbarer, doch unerhörter Appell für Sonntagsreden und die jährlichen "Wochen für das Leben"?

Wir haben eben einen furiosen, tiefgreifenden Text aus dem Alten Testament gehört. Mein Bruder, ein Chirurg, fragte einmal dazu: "was soll so eine alte Geschichte? Sie strotzt vor Unwissenschaftlichkeit". Versuchen wir eine Antwort:

Der Text ist nicht genau zu datieren, aber es wird eine katastrophale Situation Jerusalems vorausgesetzt, vermutlich die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar 587 v. Chr. Sie ist entstanden, weil die Geistlosigkeit Israels konsequent zu seiner Gottlosigkeit führt. Erst im Exil erkennen die Menschen diesen Zusammenhang. Das Exil wird zum Bild eines Grabes (Eichrodt), einem weiten Feld voller Totengebeine, so dass es nun einer Neubelebung Israels bedarf. Auf diese Weise wird das Bild dieser Vision zu einer unerhörten göttlichen Antwort auf die Klage Israels. Worauf es ankommt, ist der Geist, der hier dem biblischen Wort entspricht, wo der Mensch von Gott im Schöpfungsakt zu einer lebendigen Seele belebt wird. Es ist in unserem Text daher nicht an die Auferstehung einzelner Menschen gedacht, es geht hier zunächst um das Volk Israel, in der Folge aber um uns selbst.

Kein Mensch ist Gott! Gründlich würde er sich in seinem Menschenbild missverstehen und damit allen Vorurteilen Vorschub leisten, der Mensch könne und dürfe einfach grenzenlos alles tun. Er ist also keiner, der auf eigene Faust hin etwas tut, sondern sich geistvoll für den Menschen und das Leben in der Welt zu engagieren hat, der eben auch Krankheit und Un-Ordnung in seinem Leben erfährt und damit und darin seine gottgeschenkte und gewollte Humanität erlebt. Dennoch hat der Mensch großen Anteil an den Wundern der Schöpfung Gottes, weil er das Zerbrochene, Zerstörte, ver-rückte, kaputte wieder heilen hilft und damit ein Bild auf die gute, gelungene Schöpfung wirft, die der Absicht Gottes entspricht.

Die Vision erzählt, dass es möglich ist, dass das Tote lebendig werden kann. Daher sagt der Prophet im Auftrag Gottes: "Gebt acht, ich, Gott, öffne eure Gräber; ... ich gebe meinen Geist in euch, damit wieder Leben in euch kommt ..., ich der Herr!"

Was also ist auf dem Hintergrund dieses Prophetenwortes zu tun? Wir, die zivilisierten Länder der Welt, die wir so gern immer mit langen Fingern auf scheinbar unzivilisiertere Verhaltensweisen anderer verweisen, sollten aufhören, in Sonntagsreden Werte zu fordern, anstatt sie endlich selbst zu leben. Dazu aber gehört, man darf es ja kaum sagen, auch die Bereitschaft zur Selbstbegrenzung, die Einschätzung, dass ich selbst nicht immer und automatisch Recht habe: Nicht alles, was ich tun könnte, muss ich auch tun, - nicht alles, was ich unterlasse, macht mich gleich ärmer. Das gilt für Wissenschaft und Forschung, für die Wirtschaft, für das Zusammenleben in unseren Ehen und Familien, in unseren Berufen, den Schulen, zwischen Nachbarn und im Verein, doch auch zwischen Konfessionen, Religionen und anderen Rassen.

Wogegen unser biblischer Text Position bezieht, ist, dass der Mensch sich selbst übernimmt, sich überschätzt, die Möglichkeiten zu einem geistvollen Leben in ein Geistloses ummünzt, ein entseeltes Totenfeld wäre mitten unter den Lebenden die Folge: Werte werden zerstört, Menschen getötet oder müssen verhungern, Mensch und Kreatur zum Forschungszweck erniedrigt. Denken wir nur an die Forderung Friedrich Nietzsches aus seinem Werk: Also sprach Zarathustra. Er sagt dort:

Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll, - Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht und vieles ist in euch noch Wurm. Einst ward ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe als irgendein Affe ... - Der Übermensch ist der Sinn der Erde! Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde! Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. Verächter des Lebens sind es, Absterbende selber vergiftete, deren Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren. [2]

Dieser unsägliche Geist des vermeintlichen Übermenschen hat sich längst in unserem Bewusstsein eingenistet, er ist alltäglich geworden, wir begegnen dieser menschlichen Hybris auf Schritt und Tritt. Wo der Mensch sich zu einem Übermenschen und schließlich zu seinem eigenen Gott macht, setzt er selbst den Maßstab, was gedacht, gesagt, getan werden darf und jeder andere Mensch hat sich diesem Willen unterzuordnen. Genau das lehrt uns unsere eigene Geschichte, die des Dritten Reiches, mit einem Führer, der den Menschen ganz gut ohne Gott auskommen ließ, doch auch eine Forschung, die sich als losgelöst empfindet von allem Respekt dem Menschen (auch dem kranken Menschen), der Natur und der Kreatur gegenüber.

Juden, Christen und Moslems wissen sich ihrem Gott verantwortlich, zumindest theoretisch, doch das sollte sich nun (endlich) auch in ihrem Denken und Tun wiederspiegeln. Ja, natürlich dürfen wir alle Wissenschaft und Forschung betreiben, natürlich an der Wirtschaft und dem Welthandel teilhaben, wir dürfen uns sogar darüber freuen, in welcher Weise uns diese Lebensbereiche im eigenen Leben helfen, Perspektiven eröffnen und Möglichkeiten schaffen, das Leben lebenswerter und hoffnungsvoller zu gestalten. Worauf es für uns ankommt, ist, dass wir es nicht gedankenlos, nicht ohne das ethische Bedenken der Folgen für uns und andere tun.

Wir sind gefordert, wie Israel damals uns tagtäglich neu von Gott ansprechen zu lassen: "Gebt acht, ich, Gott, öffne eure Gräber; ... ich gebe meinen Geist in euch, damit wieder Leben in euch kommt ..., ich der Herr!" Nur in dieser tagtäglichen Rückbesinnung werden unsere Wertmaßstäbe tragfähig bleiben und die Gesetze der Welt eingebunden in einen Glauben, der nicht als ein moralisch überholtes Gesetz verstanden, sondern zum Evangelium wird, zu einem Wort, zu einer Tat, das Leben schafft und ermöglicht, anstatt es in Frage zu stellen und zu zerstören. Nur so werden auch wir nicht einmal sagen müssen: `Unsere Gebeine sind vertrocknet, unsere Hoffnung ist dahin; wir haben keine Zukunft mehr!’

Darum sind wir heute eingeladen, uns "um Gottes Willen für den Menschen" einzusetzen und so dem Leben und Zusammenleben überall zu dienen, wo Menschen leben. Worauf es ankommt? Auf uns selbst und einen Geist, der dem Leben dient!
Amen.


Literatur:

  1. Aschermann, H. u.a., Herausforderungen, Band I, Dortmund 1970, S. 6
  2. Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra, Vorrede Nr. 3, Kröner, Leipzig, 1918, S.13
außerdem: Letzte Änderung: 19.06.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider