Was ist der Mensch, von einer Frau geboren? Sein Leben ist nur kurz, doch voller Unrast. Wie eine Blume blüht er und verwelkt, so wie ein Schatten ist er plötzlich fort. Und trotzdem lässt du ihn nicht aus den Augen, du ziehst ihn vor Gericht, verurteilst ihn! Du musst doch wissen, daß er unrein ist, daß niemals etwas Reines von ihm ausgeht! Im voraus setzt du fest, wie alt er wird, auf Tag und Monat hast du es beschlossen. Du selbst bestimmst die Grenzen seines Lebens, er kann und darf sie niemals überschreiten. Darum blick weg von ihm, lass ihn in Ruhe, und gönne ihm sein bisschen Lebensfreude!
Gebet:
Herr, wie oft verstehen wir das Leben nicht, all das, was wir als Schicksalsschläge ansehen? Wie oft fühlen wir uns in einem Leben bedrängt, in dem wir uns fremd vorkommen, heimatlos und ausgegrenzt, - wir können uns selbst, ja das uns einmal geschenkte Leben nicht annehmen, wir fragen: warum? Gerade dann bleibe Du, Gott, in unserem Bewusstsein, und schenke unserem Fragen Antworten, unserem Zweifel Vertrauen, unserer Angst Zuversicht. Herr, zu dir kommen wir und bitten um deine Nähe: heute, morgen und für alle Zeit und alle Lebenssituationen.
"Ein guter Mann, der redlich handelt, traut anderen gern. Doch wird er scharf betrogen, dann gehen die Augen plötzlich und sehr weit auf. Hiob fühlt sich in dieser Lage, er bezweifelt, ja verneint Gott als einen Gerechten. Der Schlechte blüht, der Fromme kann verdorren, dies sieht Hiob an sich selber. Er leidet unsagbar und klagt Jachwe an, das ist: er sucht die Schuld seines Unglücks nicht mehr, nicht mehr nur in eigener Schwäche oder Schuld. Er träumt außer, über sich ein anderes Leben, ein besseres Schalten und Walten als das sichtbare, er versteht die elende Welt nicht mehr. Hiobs Frage ist die seitdem nicht mehr verstummte: wo bleibt da Gott? Das Leiden machte hier vielleicht weniger edel, doch es machte aufrecht und fragend. Er verlernte nun ganz und gar das Murren nicht und der Verstand stand nicht still" [1], mit diesen Worten führt der große Philosoph, Marxist und Atheist Ernst Bloch in seine wirklich beachtliche Auseinandersetzung mit Hiob ein.
Das Buch Hiob ist das Buch der Bibel, das immer weiter in das Leben der Menschen hineingedichtet wurde und aus dem Leben heraus. Wir erinnern uns: Goethe greift in seinem großen Faust mit dem "Prolog im Himmel" auf Hiob zurück, Samuel Beckett in seinem Werk "Warten auf Godot" oder als Lektüre in der Oberstufe des Gymnasiums: Joseph Roth in seinem Roman "Hiob", um nur einige bekanntere Werke zu nennen. Mit dem Buch Hiob legte ich mein alttestamentliches Examen nach dem Studium ab, die Fragen Hiobs wurden im Laufe des Lebens oft auch meine eigenen. Seine Auseinandersetzung, sein Streiten mit Gott, oft wenig demütig, aber dennoch so vertrauensvoll, stellt gerade ihn mir an die Seite. Vermutlich habe ich mich durch diese gedankliche Nähe gescheut, bisher über "Hiob" zu predigen.
Doch führen wir uns das Bild dieses biblischen Menschen noch einmal kurz vor Augen: Gott und Satan machen modern gesprochen eine Art Wette, dass "Hiob", wohlhabend und mit allen irdischen Gütern versehen, fromm und gottesfürchtig, Gott sofort ins Angesicht widerstehen wird, wenn er all das verliert, was ihm geschenkt ist. Der Satan meint, dass Hiob allein darum an Gott hängt, weil es ihm gut geht. Die Abmachung, von der Hiob nicht einmal etwas ahnt, gilt, und Hiob wird nun allen erdenklichen Prüfungen unterzogen, in denen er all das verliert, was ihm wichtig und vertraut ist.
Hiobs Frau und seine Freunde bringen sein Geschick damit in Verbindung, dass er sich gegen Gott verfehlt haben muss. Sein Unglück sehen sie als Strafe an, während Hiob selbst sich keiner Schuld bewusst ist und sich nun gegen diese Theologie auflehnt, sogar gegen Gott, dessen Handeln er nicht verstehen kann. In immer neuen Gesprächsrunden wird so um die Wahrheit gerungen. Die Freunde vertreten ihre klassische Theologie von Tun und Ergehen, von Schuld und Sühne: Dem Menschen wird sein Leben so vergolten, wie er an seinem Gott hängt und an diesen unerschütterlich glaubt. Hiob ringt mit Gott und seinen Freunden, denn er weiß, dass diese Theologie nicht stimmen kann, weil davon ja sein Glaube und sein Leben Zeugnis ablegen und jeder um seine Frömmigkeit weiß, mit dem er sein Leben teil. Im Hintergrund agiert seine Frau, die ihm entnervt zuruft: "Sage Gott ab und stirb" (Hiob 2, 9!).
Der große Hiob ist allein, er sitzt angeschlagen in der Asche
und klagt, klagt Gott an, hart und unerbittlich: warum, warum
nur, so fragt er, und inmitten dieser existentiellen Auseinandersetzung
findet sich unser kleiner Text mit der Kernaussage:
Was ist der Mensch? ... Sein Leben ist nur kurz, doch voller Unrast.
Wie eine Blume blüht er und verwelkt ... Du ziehst ihn vor Gericht,
verurteilst ihn! Du musst doch wissen, daß er unrein ist ...
Du selbst bestimmst die Grenzen seines Lebens ... Blick weg von
ihm, lass ihn in Ruhe, und gönne ihm sein bisschen Lebensfreude!
Das ist heute - wir spüren es alle - kein Text für die Fun-Generation,
die Spaß-Gesellschaft, denn es geht nun zum Jahresende hin um
die Vergänglichkeit des Lebens, um Resignation und Trauer angesichts
eines Lebens, in dem oft so vieles offen und unbeantwortbar
bleibt, hier hat Big Brother ausgespielt, weil Anderes, Wesentlicheres,
ansteht.
Erinnern wir uns: in der vergangenen Woche, am 9. November, dachten wir gerade nicht nur an den Fall der Berliner Mauer von 1989, sondern eben auch an die Revolution von 1918, an Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München 1923, an die berüchtigte "Reichskristallnacht" 1938. Dunkle Tage im Leben unserer Nation, die bei der heftigen Diskussion um die "Leitkultur" in unserem Land aus unserem Bewusstsein nicht ausgeklammert bleiben können. Geschichte lässt sich nicht spalten, aufteilen in das, wie wir uns gerne sehen und das, was wir ebenso gerne verdrängen.
Die jüdische Schriftstellerin Margarete Susman schreibt 1946 unmittelbar nach dem Krieg und dem Terror gegen die Juden in Europa: "Das Buch Hiob, das Schicksalsbuch unseres Volkes, ist, wenn irgend etwas, das je auf Erden geschrieben wurde, ein Buch des Lebens und des Vertrauens zum Leben, jenseits der eisernen Klammern von Leid und Lust, jenseits von allem Gut und Böse, das dem Menschen fester Besitz ist ... Es ist ein Buch jüdischer Selbstvergewisserung nach dem Holocaust, eine Meditation über Hiob und die Frage, ob nicht in diesem `Augenblick der Weltkatastrophe auch der Gott Israels verbrannt ist. Margarete Susman stellt noch einmal die Frage Hiobs an einen Gott, der sich entzieht. Hiob hockt in der Asche seines Lebens und verzweifelt an der Ordnung der Dinge. Diese Verzweiflung, nicht mehr und nicht weniger, ist (...) der unverzichtbare Rest der Treue zu einem Gott, der ins Dunkle zurückgetreten ist und zu einer Weltordnung, die sich verwirrt hat ..." [2]
Wie schauen Menschen denn zurück in eine Geschichte, die ihre eigene Lebensgeschichte ist, wenn es um die verschiedenen Staatsformen geht, unter denen man im vergangenen Jahrhundert zu leben, oft eben aber auch zu leiden hatte, - den unseligen Krieg, der so vielen Menschen - weltweit - das Leben, die Gesundheit kostete und den Verlust von Besitz und Heimat? Wie schauen Menschen zurück in eine Geschichte, in der man durch den eigenen Glauben angegriffen und verfolgt wurde, mit eingebrannten Nummern auf dem Arm verschleppt und millionenfach getötet?
Wie schauen Menschen auf ein Leben zurück, in dem es unsagbares, unerklärliches Leid gab und jederzeit wieder gibt, wo der Schrei nach dem "Warum": wer hat so etwas wie dieses Lebensschicksal so gewollt, so gerichtet, kaum zum Schweigen gebracht werden kann? Wie ist das mit einem Gott zu denken und zu glauben, wie er uns aus dem biblischen Wort entgegentritt?
Darum klagt Hiob, klagt er Gott an, er verzweifelt an Gott, doch
ohne an ihm zu zweifeln. "Man kann verzweifeln, ohne zu zweifeln.
Das erfüllt den Tatbestand der Leidenschaft. Es ist eine Leidenschaft,
die Hiob mit seinem Gott verbindet; eine Leidenschaft, die tatsächlich
Leiden schafft ..." und so ist Hiobs Frömmigkeit "eine vollkommene
Entsprechung zum unergründlichen Gott, denn sie ist grundlos ...
Hiob hält an Gott fest, weil er sich selbst - seine Leidenschaft
für Gott - nicht aufgeben will ..." [3]
Ist es denn nicht so, wie bei einem kleinen Kind, das sich fest an die Beine seiner Eltern klammert, trotz dessen, dass es gerade die Leviten gelesen bekommt? Es klammert sich auch im Konflikt an seine Eltern, denn es ist die Liebe, die Leiden schafft, weil es aus elterlicher Verantwortung heraus um diesen Konflikt geht und alle wirklich geliebten Kinder dies letztendlich auch spüren. Und doch bleiben die Zumutungen bestehen, die Hiob durch diesen Deal zwischen Gott und Satan ertragen muss und womit er in seinem Leid neben allem Leid der Welt steht. In Hiob, seiner Not, seiner Klage, seiner Verzweiflung an Gott finden sich ja alle Menschen wieder, die aus einer Lebenssituation heraus nach dem "Warum", dem Grund ihres Leidens fragen und nach dem Gott, der sich diesem Leben so scheinbar entzogen hat.
Wie oft höre ich, dass Menschen ihr Leid und Elend, ihre Krankheit oder Not mit Schuld und Versgagen in Verbindung bringen, eine theologische Vorstellung, die schon bei den Freunden Hiobs als fraglich, ja falsch erkannt ist. Ihre Theologie rechnet mit einem Gott, den sie nicht kennen, über den sie aber in ihrem Reden Hiob gegenüber nur allzu gern verfügen möchten, während Hiob in all seiner Verzweiflung, in seiner Klage und Anklage dennoch "feierlich an Gott gegen Gott appelliert" (E. Bloch), denn dieser Gott seiner Freunde ist nicht sein Gott! So kann Gott nicht sein, und so ist er auch nicht.
Wir können nicht wissen, warum Gott etwas zulässt oder verhindert, warum er uns manchmal im Leben fern und fremd erscheint, denn wir sind Menschen und nicht Gott. Doch nur allzu oft machen wir Gott für etwas verantwortlich, wofür er uns verantwortlich gemacht hat, was zur Gestaltungsfreiheit des Menschen, seiner Autonomie gehört. Damit schieben wir eine Verantwortung ab, die uns offensichtlich überfordert und suchen - oft aus gedanklicher Bequemlichkeit - einen Schuldigen außerhalb unseres Lebens, denn können wir letztlich wirklich Gott für die Brandkatastrophe von Kaprun verantwortlich machen, bei der gestern 150 Menschen auf dem Weg in den Wintersport ums Leben kamen, auch wenn die Betroffenen verzweifelt fragen: warum nur - wie konnte das geschehen? Versagt hat hier ja die Technik des Menschen, nicht aber Gott!
Dennoch dürfen aus jeder, auch der dunkelsten Lebenssituation heraus eine Antwort suchen auf die Frage nach dem wozu, wozu mir jetzt diese oder jene Erfahrung dient, denn wir werden durch dieses Suchen und Fragen buchstäblich lebenserfahren. Am Beispiel Hiobs dürfen wir lernen, dass es besser ist, mit Gott einmal zu streiten, als gar nicht mit ihm zu rechnen.
Hiob wird darum seinen Freunden gegenüber gerecht gesprochen,
weil er an diesem, ihm in seiner leidvollen Situation fremden,
dunklen, rätselhaften Gott dennoch und trotz allem festgehalten
hat. Ein solches Gottvertrauen wünsche ich uns allen - auch,
wenn uns selbst Gott einmal fern und fremd erscheint. Ist es
nicht vor allem anderen das, was wir auch unseren Kindern schuldig
sind und allen, denen ihr Gott abhanden gekommen ist? Sind wir
nicht gerade dieses Zeugnis einer Welt schuldig, die Gott immer
mehr aus dem Blick verliert, weil sie ihren eigenen Göttern
folgt, dann aber dasteht und keine Antworten mehr auf die Fragen
findet, die das Leben aufwirft? Setzen wir uns also ruhig einmal
in die Asche - neben Hiob - es wird unserem Leben, unseren Lebensentwürfen
gut tun.
Amen.
Letzte Änderung: 13.11.2000
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider