Begrüßung:
Es reden und träumen die Menschen viel
Von bessern künftigen Tagen,
Nach einem glücklichen goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen;
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.
Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein...,
so sagt es Friedrich Schiller in seinem Gedicht „Hoffnung“.
Liebe Gemeinde! Mit was für Erwartungen, Wünschen oder aber auch Gefühlen sind wir in diesen Gottesdienst hineingekommen? In kaum einem Gottesdienst des Jahreskreises treffen wir auf so unterschiedliche Voraussetzungen, wie gerade an diesem Abend im Jahr, dem Altjahrsabend, Sylvester.
Bitten wir Gott, dass ein jeder von uns mit diesem Gottesdienst dankbar oder ein wenig getröstet aus dem vergehenden Jahr heraus und hoffnungsvoll in ein neues Jahr hinein gehen kann. „Die Hoffnung führt uns ins Leben ein...“ Darum dürfen auch wir voller Vertrauen sagen:
Herr, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde
und die Welt geschaffen wurden, bist du Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit...
(Psalm 90)
In einem Labor in Bonn befindet sich ein U-Boot-förmiger Metallzylinder. Er ist etwa drei Meter lang und liegt fest in einem von Drähten, Rohren und Messgeräten umgebenen Gestell. In Wirklichkeit ist es eine Uhr – oder besser gesagt die Uhr. Der Apparat in Bonn stellt, zusammen mit einigen ähnlichen, über die ganze Welt verteilten Instrumenten, „die Standarduhr“ dar... Wenn wir also unserer täglichen Arbeit nachgehen, nimmt die Bonner Cäsiumuhr die Zeit. Sie ist gewissermaßen ein Wächter der Zeit auf Erden... Aber wessen Zeit zeigt die Bonner Uhr eigentlich an? Ihre Zeit? Meine Zeit? Gottes Zeit? [1]
Im Jakobusbrief heißt es:
Nun aber zu euch, die ihr sagt: »Heute oder morgen werden wir in die und die Stadt reisen! Dort werden wir ein Jahr lang Geschäfte machen und viel Geld verdienen.« Woher wisst ihr denn, was morgen sein wird? Was ist euer Leben? Es gleicht einem Dampfwölkchen, das aufsteigt und sich sogleich wieder auflöst. Sagt lieber: »Wenn der Herr es will, werden wir noch leben und dies oder jenes tun.«
Predigt:
Liebe Gemeinde!
Schön, dass Sie sich Zeit genommen haben! Doch „Zeit“ wofür eigentlich, für eine ruhige Stunde vor dem Lärm der kommenden Nacht? Eine Aus-Zeit für Sie vor dem Übergang aus einem vergehenden Jahr in ein kommendes Jahr? Zeit für Gott angesichts dieser Schwelle eines Jahreswechsels mitten in der geschenkten Lebenszeit? Niemand von uns wäre heute hier ohne dass ihm nicht auch Zeit geschenkt wäre. Doch können wir uns eigentlich „Zeit“ „nehmen“, einfach so? Woher oder woraus sollten wir sie uns denn nehmen – und vor allem: Zeit wofür? Haben sich nicht Generationen von Philosophen und Naturwissenschaftlern darüber den Kopf zerbrochen, was die Zeit eigentlich ist?
Diese Stunde am Ende eines Jahres lässt viele von uns ja sehr nachdenklich in diesen Gottesdienst kommen. Da bringen wir die Erfahrungen des vergangenen Jahres mit: Erinnerungen an bestimmte Ereignisse; Sorgen, angesichts von Problemen, die wir lösen konnten oder die (noch) ungelöst sind; missglückte Gelegenheiten; Trauer, weil wir an Menschen denken, deren Lebenszeit zu Ende gegangen ist und die wir nicht vergessen. Eine tiefe, immer noch unerfüllte Sehnsucht nach einem unfassenden Frieden, der bis in mein Leben hinein reicht. Wir schauen zurück auf ein durchaus fragliches oder aber auch erfülltes Jahr unseres Lebens.
Doch gerade in dieser Stunde denken wir ja auch an das, was auf uns zukommen mag: Heute Nacht beginnt ein neuer Tag, wie viele neue Tage werden wir noch erleben dürfen, wie viele Wochen, Monate oder Jahre im Leben? Und ein jeder Tag wird gefüllt sein mit Herausforderungen, Arbeit, Freude, Sorgen oder Ärger. Manche von uns haben angst vor der Zukunft, vor dem, was kommen mag und was wir heute Abend noch gar nicht genau erkennen können. Angst vor Krankheiten, dem Tod, vielleicht plagt die Sorge um den Arbeitsplatz, vielen in unserer Mitte erscheint die Zukunft verdunkelt. Aber es gibt ja „Gott sei Dank!“ auch die ganz anderen Erwartungen an die Zukunft: da erwartet ein Ehepaar die Geburt eines Kindes, die einen beenden ihre Schule und freuen sich auf die Ausbildung oder das Studium, andere planen ein großes Fest, ein Jubiläum vielleicht, einen runden Geburtstag, eine Hochzeit.
Alles was wir tagtäglich erleben geschieht in einer ganz bestimmten Zeit und Stunde. Vieles im Leben können wir planen und organisieren, wir können zupacken und etwas leisten, aber alles was wir tun und erleben bleibt abhängig von dem unverfügbaren Geschenk der Zeit. Das ist der Kernsatz, ja das Evangelium dieses Abends: „Wenn der Herr es will, werden wir noch leben und dies oder jenes tun...“ In diesem Satz wird die ganze Unverfügbarkeit der Zeit für uns deutlich – und damit zugleich auch unsere menschliche Grenze.
Natürlich können wir unseren Geschäften nachgehen und Geld verdienen, aber ist die Frage denn nicht Abend für Abend berechtigt: „Woher wisst ihr denn, was morgen sein wird?“ Und dann die andere Überlegung: „Was ist euer Leben?“ Haben wir darauf eine tragfähige Antwort? Was macht unser Leben aus, wofür leben wir, was ist der Sinn, das Ziel meines Lebens? Gewaltige Fragen von deren Beantwortung es abhängen wird, wie wir mit dem Geschenk der Zeit in unserem Leben umgehen.
Der Schreiber unseres Textes, Jakobus, könnte dahingehend missverstanden werden, dass er zu einer frommen Weltflucht rät, so nach dem Motto: Der Herr wird´s schon richten. Gerade das will er nicht. Er kennt die Welt in der er lebt und er nimmt wahr, wie sehr die Christen sich in ihr einrichten, ihren Geschäften nachgehen, sich von ihren Terminen durch den Tag hetzen lassen und Geld verdienen. Das eigene Handeln wird inzwischen weniger vom Glauben, als von den alltäglichen Herausforderungen bestimmt. Gerade hier, mitten im Leben, im Alltag, soll sich auch ein Christ, die noch relativ junge Christengemeinde bewähren, denn, so fragt Jakobus: „Woher wisst ihr denn, was morgen sein wird? Was ist Euer Leben?“ Es geht darum, sich nicht einfach blind und gedankenlos durch die Zeit, ja das eigene Leben, treiben zu lassen, ohne sie überhaupt noch wahrzunehmen. Wer so in den Tag hinein lebt, gleicht einem „Dampfwölkchen“, das sich spurenlos in Nichts auflöst.
Christen sind ermutigt in ihrer Zeit zu leben, zu arbeiten, die Welt, wie das eigene Leben zu gestalten, doch das alles in dem Bewusstsein, dass die Lebenszeit eine geschenkte, uns unverfügbare Zeit ist. Das macht sie so unendlich wertvoll. Wo wir sie von Gott her qualifizieren, ihr einen Grund, Sinn und eine Richtung geben, werden wir uns ihrer Möglichkeiten, wie aber auch Grenzen bewusst sein. Wo wir selbst das nicht begreifen, ich selbst, bleibt doch alles Gerede darüber billige Rhetorik oder moralischer Qualm. Ich bin gefragt, denn es ist doch allein meine Zeit, mit der ich als einer wirklich gefüllten Zeit lebe oder die ich vertue.
Erst darin unterscheiden sich Menschen, die Gott in ihr Leben hineindenken und glauben von jenen, die gleichgültig in den Tag hinein leben, die sich der Herausforderung des Denkens gar nicht erst stellen und so auch kaum je einen fundierten Glauben erhalten werden. Von Gott her zu leben, heißt ja gerade auch zukünftig zu leben. Da mag der Traum vom verlorenen Paradies gelegentlich schmerzen, doch die Hoffnung darauf wird wachgehalten. Hier wird die Welt nicht sich selbst überlassen und fraglichen Kräften, sondern der Glaube gestaltet aus der Gegenwart heraus auch die Zukunft.
Schaue ich in meinen Terminkalender für das neue Jahr, so finde ich kaum noch eine Seite, die nicht durch irgendein Ereignis, das zu bedenken ist, gefüllt wäre. Jede beschriebene Seite macht mir deutlich, wie festgelegt ich heute schon bin:
da finden sich die Feste der Familie, von Freunden und Mitarbeitern, Geburtstage, Jubiläen, Hochzeiten oder Taufen, Gottesdienste, Gemeindeveranstaltungen, Wochenenden, die ökumenische Studienreise nach Assisi, Sitzungen. Es sind Termine, die sehr unterschiedlich qualifiziert sind und dementsprechend auch empfunden werden. Da kann eine Minute, eine Stunde oder ein Tag, eben die Zeit, eine Ewigkeit dauern oder viel zu kurz sein. Es kommt darauf an, was wir in der Zeit erleben, wie wertvoll, oder zerstörerisch wir sie empfinden, wie gleichgültig oder selbstverständlich wir mit ihr leben.
In einer Predigt las ich einmal folgenden kleinen Text von „Herrn Zett, der sich einen Knoten ins Taschentuch machte, der ihn daran erinnern sollte, dass er am Abend mal früh ins Bett gehen wollte. Am Abend fand Herr Zett den Knoten in seinem Taschentuch, wusste aber nicht mehr, woran er ihn erinnern sollte. Er grübelte den ganzen Abend darüber nach, bis ihm kurz nach Mitternacht einfiel, dass er eigentlich an diesem Abend einmal früh schlafen gehen wollte...“ [2] Vergeudete Zeit! Die Vision von leeren Blättern im Terminkalender, die sich nun nach und nach füllen, ist eine Illusion, weil wir in der Welt und (noch) nicht im Paradies leben. – Aber? Aber – und das ist das Entscheidende: wir werden gar keinen Termin mehr wahrnehmen können, wenn Gott es nicht will. „So Gott will und wir leben, werden wir dieses oder jenes tun...“
Viele von uns haben diese unverfügbaren Grenzen in ihrem Leben erfahren, deren wir uns oftmals gar nicht bewusst sind. Natürlich suche ich mir aus, welchen Weg ich gehen möchte, welchen Termin ich wahrnehme oder nicht, ich habe Entscheidungen zu treffen und Entschlüsse zu fassen, und dann kommt es doch ganz anders, als ich es plante und vorhatte. Das Gefühl gerade mit diesen Grenzen zu leben, Zeit also immer nur als begrenzte Zeit geschenkt zu bekommen, ermutigt uns, sie nun auch dankbar anzunehmen und verantwortungsbewusst zu füllen. Das Gefühl der Endlichkeit darf uns nicht lähmen, sondern muss uns – umgekehrt – anspornen, denn hier mitten in der Welt wird unser Glaube gelebt oder verweigert.
Hier erweist sich, ob unser Leben mehr als eine so gut wie leere Luftblase gewesen ist. Hier, im Leben, zeigt es sich, mit welchen Hoffnungen wir leben und all die unendlich vielen wichtigen und unwichtigen Dinge tun, die unsere Tage füllen. Hier entscheidet sich, wo wir einmal Ja sagen müssen oder uns zu verweigern haben, und in beidem kann sich unser Glaube an Gott, unsere Hoffnungen für die Welt und unsere Liebe zu Gott und zum Mitmenschen widerspiegeln. Wo unsere Zeit eine qualifizierte Zeit wird, bedacht und vom guten Geist unseres Gottes begleitet, da dürfen wir ganz ruhig in jeden neuen Tag hineinleben. Da wird uns selbst die kritische Frage des Jakobus: „Woher wisst ihr denn, was morgen sein wird? Was ist Euer Leben?“ nicht schrecken, sondern anspornen. „denn „jedem Anfang wohnt“ bekanntlich „ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben...“ [3]
Einen solchen Anfang wünsche ich uns, nachdem wir dieses Jahr dankbar in Gottes Hand zurückgeben dürfen. Die einen vielleicht ein wenig traurig und betroffen, ratlos vor ihrer Zukunft stehend, andere dagegen voller Tatendrang, Erwartungen, Wünschen und Hoffnungen. Wir alle gehen, „so Gott will und wir leben...“ in das neue Jahr hinein, mit allem, was es uns und unseren Familien bringen wird. So wünsche ich Ihnen allen aus diesem guten Geist heraus einen fröhlichen Sylvesterabend und ein glückendes neues Jahr. Denn:
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Amen.
Literatur:
Sie finden alle Predigten des vergangenen Jahres unter:
http://www.evang-kirche-kenzingen.de oder:
http://www.predigten.de/ („Powersearch“ anklicken, Text oder Name)
Letzte Änderung: 31.12.2003
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider