Jeremia klagt Gott sein LeidDu hast mich verführt, HERR, und ich habe mich verführen lassen; du hast mich gepackt und mir Gewalt angetan. Nun spotten sie immerzu über mich, alle lachen mich aus. Denn sooft ich in deinem Auftrag rede, muss ich Unrecht anprangern. »Verbrechen!« muss ich rufen, »Unterdrückung!« Und das bringt mir nichts als Spott und Hohn ein, Tag für Tag. Aber wenn ich mir sage: »Ich will nicht mehr an Gott denken und nicht mehr in seinem Auftrag reden«, dann brennt dein Wort in meinem Innern wie ein Feuer. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um es zurückzuhalten - ich kann es nicht. Viele höre ich tuscheln, sie nennen mich schon »Schrecken überall«. Die einen fordern: »Verklagt ihn!« Die anderen sagen: »Ja, wir wollen ihn anzeigen!« Sogar meine besten Freunde warten darauf, dass ich mir eine Blöße gebe. »Vielleicht bringen wir ihn dazu, dass er etwas Unvorsichtiges sagt«, flüstern sie, »dann können wir uns an ihm rächen!« Doch du, HERR, stehst mir bei, du bist mein mächtiger Beschützer!
Der Kreis schließt sich, wie so oft im Leben, wenn wir auf unsere eigene Biografie aufmerksam gemacht werden. Als ich unseren Predigttext in meiner Bibel nachlas, fand sich dort eine Markierung, die zeigte, dass er schon mindestens einmal in meinem Berufsleben von mir gepredigt worden ist: es war meine Vorstellungspredigt hier in Kenzingen vor sechs Jahren. Ein Gottesdienst, dem dann die vorgeschriebene Gemeindeversammlung folgte und darauf hin meine Wahl zu Ihrem neuen Pfarrer, dem sechzehnten Pfarrer dieser Gemeinde seit 1895 und dem neunten seit 1909 ihrer Selbständigkeit. Lassen Sie mich nur einen Gedanken aus der damaligen Predigt zitieren:
Als ich dieses Predigtwort las, erschrak ich, denn ich muss mich Ihnen ja mit diesem Wort vorstellen. Sie werden denken, vielleicht sogar sagen: Das hat er gut gemacht, lebendig, überzeugend; - oder: Diese Predigt hat mich nun gar nicht überzeugt, und wie deckt der Prediger das, was er zu sagen hat, mit seinem Leben, seinem privaten oder öffentlichen Tun ab?Eben das frage ich mich auch. Ich bin ja kein Prophet, der unter der Verkündigung des Gotteswortes zu leiden hat. Natürlich erlebe ich es, kritisch hinterfragt zu werden, aber ich erlebe hier und da ja auch die unendliche Dankbarkeit. Nie aber bin ich in meinem Leben um des Wortes Willen bedroht gewesen ... [1]
Nein, wir können uns heute wirklich nicht - um des Wortes Willen - mit einem Mann wie Jeremia vergleichen, schon eher die Frauen und Männer der Bekennenden Kirche im Dritten Reich, die historisch vielfach noch in unsere Existenz hineinragten. Sie sagten den Machthabern ihr kritisches Wort, vom Wort Gottes her und mussten dafür mit Verfolgung, Vertreibung, Gefängnis, Krieg, Gefangenschaft, manche sogar mit dem Tod rechnen und mit dem Leben bezahlen. Doch was ist uns zu sagen, wenn wir ja eine so ganz andere kirchliche Situation erleben?
Die Kirche lebt heute in diesem Staat in einer durchweg anerkannten Situation, so anerkannt, dass vielfach schon gar nicht mehr mit ihr gerechnet wird, ja bestimmte politische Kreise sie ganz einfach unter die zahllosen Vereine und Organisationen einreihen, die das gesellschaftliche Leben bestimmen. Die Kirche wird der Beliebigkeit ausgesetzt, was aber ihrem Auftrag und ihrem Selbstverständnis widerspricht.
In der Zeitung war dieser Tage unter der Überschrift zu lesen: "Der Heilige Vater ist verstimmt. Der Ton ist schroff ..." Und weiter: "Ein anderer (Aspekt seiner Besorgnis) und auch das sollte man nicht unterschätzen, liegt in der Beunruhigung über die Zukunft der Gläubigen oder der nicht mehr so recht Gläubigen in Deutschland. Der Heilige Vater fürchtet, dass hier die Zahl der Menschen größer wird, die keinen Halt mehr in der Kirche finden, weil die Kirche in Deutschland ihnen keinen Halt mehr gibt. Weil vielleicht der eine oder andere Bischof, weil etliche Priester nicht mehr wissen, wie sie den Menschen Halt im Glauben geben können ..." [2]
Dabei griff Johannes Paul II auch auf das zurück, was schon in der Schrift "Dominus Jesus" von Kardinal Ratzinger vorgetragen worden war und zu einer tiefen Verstimmung zwischen den Kirchen sorgte.
So bleibt bei aller Kritik im Detail anzuerkennen, dass der Papst Position bezieht, dass er sagt, was er aus seiner Sicht zu sagen hat. Das mag für uns unbequem sein, vielleicht sogar ärgerlich, aber es führt immerhin dazu, verstärkt darüber nachzudenken, worum es dem Glauben geht. Gerade wer die Ökumene will und für wichtig hält, muss sich um sein persönliches Profil sorgen, möchte er in der Auseinandersetzung bestehen können, er muss einfach um Grundpositionen seines eigenen, persönlichen Glaubens wissen, und das geht nach christlicher Überzeugung nur im eigenen und gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes und im Gespräch miteinander.
Gleichmacherei, nach dem bewährten, aber unhaltbaren Motto, wir glauben ja alle an den gleichen Gott, ist Ausdruck eher einer gedankenlosen Bequemlichkeit. Ihr fehlt das Mühen um inhaltliche Klärung des eigenen Glaubens, der eigenen Kirche, der eigenen Konfession. Im Gespräch mit anderen Religionen und Konfessionen, doch heute erst recht mit einer Gesellschaft, die sich teilweise dem christlichen Glauben entfremdet hat, ist es notwendig, unsere Überzeugungen klar und auch mutig zum Ausdruck zu bringen. Das kann dann auch einmal bedeuten, so in eine Auseinandersetzung hineingeführt zu werden, dass wir allein stehen, anecken, ärgerliche Reaktionen, ja vielleicht sogar Spott ernten oder eine gewisse Abwehr hervorrufen. Für den Glauben sterben wird vermutlich keiner von uns.
Jeremia ist eine beeindruckende Persönlichkeit der Bibel. Seine Menschlichkeit macht betroffen, sein Wort ist klar, unmissverständlich und kantig, so dass es ihn in ein abgrundtiefes Leiden hinein führt. Er wirft Israel vor, den Bund mit Gott gebrochen zu haben, sie seien Diebe, Mörder, Ehebrecher und Meineidige und würden fremden Göttern nachfolgen (Jer. 7, 9). Kein Wunder also, dass er durch solch anklagende Worte zunehmend selbst verachtet und verfolgt wird. Was wir in unserem Predigtwort hören, ist ein Gebet; angesichts seiner tiefen Verzweiflung ein Gebet, bedrängend dicht, voller Glaube, voller Klage und Anklage.
Er ist so weit unten in seinem Leid, dass er, wie Hiob, Gott kaum noch erkennen kann, den Gott, der ihm einmal zugesagt hat, ihm beizustehen. Doch was Gott ihm nie versprochen hat, ist, dass er bei seinem Auftrag, für den Glauben öffentlich einzustehen, nichts zu leiden haben werde. Die Leidenschaft Jeremias, mit der er für Gott dem Volk Israel gegenüber eintritt, führt ihn ins tiefste Leiden, bis hin zur Flucht ins Exil nach Ägypten, wo sich seine Spuren verlieren.
Natürlich sind wir heute in einer ganz anderen Situation als Christen, und doch können wir hier etwas hören, was auch uns nachdenklich stimmen muss. Denn wie ernsthaft und glaubwürdig leben wir eigentlich unseren Glauben, der es eben nicht zulässt, dass wir zulassen, dass jeder nach seiner Facon selig wird. Niemand von uns wird je "selig" werden, wo wir nicht klarer zu unterscheiden lernen, was wichtig oder unbedeutend ist. Das gilt für den Umgang mit der Presse, dem Rundfunk oder dem Fernsehen, der Kunst und Kultur, dem Lebensalltag mit seinem Herausforderungen und dem Wort Gottes mit seinem Anspruch an unser Leben und Tun.
Was wir aus unserem Text heraus hören und zugemutet bekommen,
ist, dass unsere Glaubwürdigkeit als Christen zur Disposition
steht, wenn wir es nicht mehr wagen, uns mit unserem Glauben
anderen auch wieder einmal zuzumuten. So, wie Israel sich seine
Götter sucht, so tun wir es doch auch.
Dabei wäre es bei den zahllosen offenen Fragen unserer Zeit sinnvoller
denn je, Gott aus dem Vielerlei in den Vordergrund zu denken.
Eine Mitarbeiterin schrieb mir jetzt in der Auseinandersetzung
um unseren Text: "Das Problem liegt ja heute nicht nur in der
allgemeinen Niveaulosigkeit (darüber gibt es schon im Alten
Testament Klagen), sondern darin, dass eine Begegnung mit Gott
keinen hohen Stellenwert bei uns hat, dass die Frage nach dem
Glauben eben nicht mehr so in uns brennt und drängt, dass wir
um eine Antwort nicht herum kommen. Wir verzweifeln nicht an
Gott, er langweilt uns, deshalb halten wir für unseren Glauben
und unser Bekenntnis auch den Kopf nicht mehr hin ..."
Was mir in manchen Tauf-, Trau- oder Kondolenzgesprächen auffällt, ist, wie schnell Menschen heute manchmal dabei sind, ihre eigenen Maßstäbe zum Maßstab des christlichen Glaubens zu machen, dabei aber oft nicht einmal eine eigene Bibel im Haus haben. Es fehlt die Erkenntnis, dass dieser Glaube nicht durch uns definiert wird, sondern durch das biblische Wort bestimmt ist, und es keinen christlichen Glauben gibt, ohne sich auf diesen intensiv einzulassen. Es gibt ihn aber ebenso wenig, ohne die Gemeinschaft im Glauben, das Gespräch, den Gottesdienst. Wer meint, sich davon distanzieren zu können, betrügt sich selbst, weil es letztlich an der Liebe zu Gott mangelt und an einem Gefühl dafür, wie notwendig wir uns gegenseitig in Glaubensfragen brauchen.
Zur "Freiheit eines Christenmenschen", wie es Martin Luther einmal formulierte, gehörte es, dass man die Bibel in die Hand nahm, sie las und zu verstehen versuchte und sich gerade nicht scheute, öffentlich für dieses Wort mit seinem Glauben, seinen Überzeugungen einzustehen, auch dann noch, wenn es Widerstand gab. Wäre es sonst wohl zur Reformation gekommen? Zu dieser Freiheit müssen wir zurück finden, um für uns selbst, wie für die Welt, Lebensperspektiven zu erhalten, Perspektiven einer tiefgreifenden Hoffnung.
Jeremia leidet, er steht allein, er fühlt, wie die Leute sich von ihm abwenden. Und er leidet doppelt darunter, Gott nicht mehr zu erkennen, den Gott, der ihn dazu verführt hat, das Prophetenamt auszuüben. Doch dieser Jeremia wird zum Propheten eines umfassenden Neuanfanges. "Aus diesem Grund herrscht auch kein Widerspruch zwischen der Leidenschaft, mit der Jeremia Gott angeht und dem Vertrauen, dass er am Ende äußert ..." [3] "Doch Du, Herr, stehst mir bei, du bist mein mächtiger Beschützer ..." Das ist die Botschaft an uns: aufzuhören mit dem scheinbar frommen Trallala, unserem Selbstbetrug, mit dem wir die Preisgabe Gottes an die Götter der Welt rechtfertigen und aus dem verbindlichen Glauben eine verwaschene Pseudoreligion machen.
Eugen Drewermann schreibt zu unserem Text: "Hört man die Musik von Bach oder Händel, so wird es zu einer sicheren Erwartung, gerade so müsse Religion klingen; gerade das hervorzubringen sei ihr Zweck: den Menschen ins Gleichgewicht mit sich und seiner Zeit zu setzen ..." [4]
In einem Gottesdienst mit der Kantorei
und dem Posaunenchor dürfen wir uns zu einem vielfältigen Lob
Gottes einladen lassen, zu dem auch Jeremia aufruft, denn letztendlich
sind nicht wir das Thema, sondern Gott, der auf seine oft unerklärliche
und unverständliche Weise dennoch zu uns steht. Darum fangen
wir ruhig wieder einmal mit ihm an, auch wenn es uns etwas kostet.
Das Leben wird es uns nicht kosten, ganz im Gegenteil, denn
was wir gewinnen, ist die Kostbarkeit eines tiefgründigen Lebens.
Amen.
Münkner, D., in: Calwer Predigthilfen 2000/20001, 1. Halbband,
Stuttgart 2000, S:154f
Ebeling, G., Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520),
in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Band I, Frankfurt 1982
Letzte Änderung: 19.03.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider