750 Jahre Stadt Kenzingen

Ökumenischer Gottesdienst
18. Juli 1999, St. Laurentius Kenzingen

Suchet der Stadt Bestes, ...

Jeremia 29, 1, 4-7:

Jeremias Brief an die Weggeführten in Babel

Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte.

So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:

Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und eßt ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, daß sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, daß ihr nicht weniger werdet.

Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr gut geht, so wird es euch auch wohl ergehen.


Liebe ökumenische Gemeinde!

Sehr geehrter Herr Epstein *), ganz besonders herzlich begrüße ich Sie in dieser ökumenischen Gemeinschaft. Wir sind ja einander verbunden im gemeinsamen Glauben am Abraham, Isaak und Jakob!

750 Jahre "Stadt Kenzingen", das ist ein Grund zur Freude, zur Dankbarkeit, ein Anlaß zu Fest und Feier. 750 Jahre "Stadt Kenzingen", das macht nachdenklich und fordert uns, sich unserer Stadtgeschichte noch einmal bewußt zu werden, darüber hinaus aber auch die Gegenwart zu bedenken, um dann die Zukunft in den Blick zu nehmen. 750 Jahre "Stadt Kenzingen", das ermutigt, diesen Gottesdienst hier in unserer ehrwürdigen St. Laurentiuskirche gerade in dieser Gemeinschaft "ökumenisch" zu feiern. Auf diese Weise danken und gedenken wir nicht allein uns und unseren Vorfahren, die diese Stadt gründeten und Generationen hindurch belebten, sondern zu allererst einmal Gott.

Kenzingen hat eine bewegte Geschichte, seit Rudolf II. von Üsenberg 1249 aus der Siedlung Altenkenzingen die Stadt gründete: Kriege und Zerstörungen, Belagerung und Besetzung, Feuersbrünste und die radikale Reduzierung der Bevölkerung mußten erlebt, ja erlitten und dann als Aufgabe für die Zukunft begriffen werden. Das strategisch gelegene Kenzingen konnte sich nicht hinter Bergen verstecken, was auch dazu beitrug, dieser Stadt ihre historische Bedeutung zu geben.

Die Bürger unserer Stadt dürfen in diesen Tagen auf eine lebendige, reiche, durchaus aber auch leidvolle Geschichte zurückschauen, die nicht einfach eine tote Vergangenheit ist. Ein solches Jubiläum wäre vielleicht heiter, aber eben doch nur oberflächlich gefeiert, wenn wir nicht auch darüber nachdenken wollten, was einerseits war und was uns andererseits für die Zukunft wichtig sein muß. So schauen wir mit diesem Gottesdienst voller Dankbarkeit auf eine lange Epoche des Friedens in unserer Stadt zurück und fragen doch als Christen auch nach unserem Auftrag für die Gegenwart und Zukunft? Wer Gott auf diese Weise dankt, denkt nach, der nimmt die Möglichkeiten eines solchen Jubiläums zugleich als Herausforderung für sich an. Und das ist gut so!

Der Prophet Jeremia schreibt den Vertriebenen und Gefangenen Juden nach Babylon einen Brief, in dem sich die Worte finden, die wir heute in ganz besonderer Weise auch für uns hören wollen:

"Suchet der Stadt Bestes, ..., betet für sie zum Herrn;
denn wenn’s ihr gut geht, so wird es euch auch wohl ergehen!"

Gerade in einer bedrängenden Situation in Gefangenschaft und in jeder Hinsicht entwurzelt, werden die Menschen von ihrem Gott durch den Propheten aufgefordert, dennoch und trotz allem, selbst der feindlichen Stadt "Bestes zu suchen" und für ihre Bürger zu "beten".

Wir alle leben in dieser Stadt, einige Familien seit vielen Generationen, andere kriegsbedingt als Flüchtlinge und wieder andere durch die interessante Lage unserer Stadt, die Nähe zu Freiburg. Wir arbeiten hier, wir erfahren die Fülle und den Reichtum unseres Lebens, wie aber auch die Krankheit, den Tod und den Verlust von Menschen und Dingen, die uns wichtig sind. Kein Leben ist erlebbar ohne Höhen und Tiefen, und darum kann es auch keine Stadtgeschichte ohne diese geben.

In diese Dynamik unseres Lebens von Werden und Vergehen, von Gelingen und Versagen ist unsere Stadt als ein soziales Gebilde hinein genommen. Das Wort Gottes wird so zu einem Wort an uns.

Als Thomas Mann gebeten wurde, eine Festansprache zur 700 Jahrfeier seiner Heimatstadt Lübeck zu halten, überraschte er seine Zuhörer mit dem merkwürdigen Titel "Lübeck als geistige Lebensform". Mit seinen Ausführungen legte er dann dar, in wie weit gerade seine Geburtsstadt sein Werk bewußt oder unbewußt beeinflußt hat: "Lübeck als geistige Lebensform"!

Diesen merkwürdig klingenden, aber faszinierenden Gedanken aufgreifend, frage ich uns: Kenzingen als geistige Lebensform, was könnte das sein? Was macht für uns diese Stadt zu einer "geistigen Lebensform? In wie weit prägt Kenzingen unser eigenes Leben, unsere ganz persönlichen Vorstellungen von Werten, von Sinn und Glück? Was macht eine Stadt, unsere Stadt, lebens-, ja vielleicht sogar liebenswert?

Unser Zusammenleben ist bestimmt durch drei benennbare Lebensräume: Intimität - Gemeinschaft und Öffentlichkeit, sie werden belebt durch Alltäglichkeit und Feste (Frederic Debuyst). Wir alle sind in unseren eigenen vier Wänden zu Hause, haben vor allem dort in unseren Familien eine Heimat. Heim und Heimat haben einiges miteinander zu tun, es sind Lebensbereiche, die auch das Intime, nicht Öffentliche, nicht Kontollierbare wahren und davon leben, daß nicht jeder hinter meine Haustür schauen kann.

Es gibt Lebensräume über den "intimen" Bereich hinaus, die etwas mit der "Gemeinschaft" zu tun haben, wo wir unser "Heim", das Geheime ein stückweit öffnen: Wir erleben uns ja in Freund- und Nachbarschaften, in selbst gewählten Vereinen und Organisationen, in denen wir unsere Freizeit verbringen und gestalten. Hier erweitern wir unser Leben auf andere Menschen hin, durchbrechen die Isolation und das Alleinsein, was ja für ein sehr eingeschränktes Leben stehen würde.

Über Intimität und Gemeinschaft hinaus erleben wir uns dann in der "Öffentlichkeit": Wir gehen zur Arbeit in den Betrieb, wir brauchen kommunalpolitische Verantwortungsträger, eine Verwaltung, Geschäfte, um einkaufen zu können. Wir sind auf Kindergärten und Schulen angewiesen, auf Straßen und Orte, die ein Zusammenleben über unsere engeren Lebensräume hinaus möglich machen, wo sich zudem auch die Freizeit durch Sport oder kulturelle Möglichkeiten vielfältig gestalten läßt. All das gehört zum Gefühl von "Heimat", von "Daheimsein" dazu. Hier bin ich in vielfältiger Weise zu Hause. Aber das wäre noch zu wenig, zu allgemein, um Kenzingen als "geistige Lebensform" zu bezeichnen.

 

Wir finden Kenzingen als die "Perle im Breisgau" beschrieben! Wein und Tabak werden angebaut, die Stadt besitzt große Wälder, wir leben am Rande des Schwarzwaldes, die Elz schafft auch für Gäste unserer Stadt ein Bild der Heimeligkeit. Die Brunnen fallen auf, die engen Gassen der Altstadt. Die B3 erinnert uns fast täglich daran, wie notwendig eine Umgehungsstraße ist. Viele Neubürger haben die Nähe zu Freiburg gesucht und nutzen die ausgezeichnete Infrastruktur. Neubaugebiete zeigen, daß Menschen sich hier wohl fühlen, hier zu Hause sein möchten. Industrie und Geschäfte geben Arbeit und schaffen Möglichkeiten, sich umfassend zu versorgen. Kenzingen wurde zu einem Mittelzentrum. Dieses Umfeld ist prägend.

Kenzingen hat ein reiches Vereinsleben, von den Sportverbänden bis hin zu kulturellen Angeboten, gesunde und aktive Organisationen, von der Feuerwehr über die Bürgerhilfe bis hin zum Roten Kreuz. Ich denke, daß viele Kenzinger in allen Generationen gerade im Freizeitbereich sehr viel finden, was mit dieser "geistigen Lebensform" gemeint sein könnte, etwas, was Sinn stiftet, was dem Alltag seinen Wert gibt, was dazu beiträgt, Kenzingen als Heimatstadt in einem ganz aufgeschlossenen Sinne zu verstehen.

"Suchet der Stadt Bestes, ..., betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr gut geht, so wird es euch auch wohl ergehen..."

Eine "geistige Lebensform" bleibt immer ein Auftrag, sie kann nie zu Ende kommen und will in allen Bereichen des Zusammenlebens erlebt werden. Wir alle, die wir uns diese Stadt teilen, haben also von Gott her den Auftrag, "ihr Bestes zu suchen". Das Beste einer Stadt geht über eine gesunde Wirtschaft, über Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten hinaus. Es ist der Geist, der unser Zusammenleben bestimmt. Hierzu gehört gerade in diesem Jahr nun auch das Wahrnehmen politischer Verantwortung für unsere Stadt, die Bereitschaft, sich zur Verfügung zu stellen zur Mitwirkung in den demokratischen Strukturen, denen wir so unendlich viel verdanken.

Hier haben nun auch die Kirchen ihren Ort und ihre Aufgabe: Sie haben Gott jederzeit neu ins Gespräch, ins Bewußtsein einer Stadt einzubringen. Die Souveränität Gottes läßt es ja nicht zu, daß wir ihn wie eine alte Fahne zu einem Jubiläum aus dem Schrank holen, um ihn dann später dort wieder zu verstauen. Und die Kirchen haben bei aller Jubiläumsfreude wenigstens die Frage anklingen zu lassen, was wir uns in der Vergangenheit im Umgang miteinander schuldig blieben, was uns nicht gelang, was anders und besser hätte gestaltet werden können?

"Suchet der Stadt Bestes und betet für sie!" Klingt das heute, in einer säkularisierten Gesellschaft, einfach nur überholt - oder wäre vielleicht doch etwas dran, so füreinander einzustehen? Die Frage muß erlaubt sein, ob uns in der Vergangenheit nicht manche Mühe erspart geblieben wäre, wenn wir die innere Kraft aufgebracht hätten, ein wenig mehr füreinander auch zu beten und so vor Gott füreinander einzustehen z.B.: Gemeinderäte für die erkrankte Bürgermeisterin und umgekehrt, wir alle für den Gemeinderat, die Verwaltung für Industrie und Wirtschaft, diese für alle Arbeitnehmer, Lehrer für ihre Schüler, die Vereine und Organisationen für die Konkurrenzvereine und Organisationen, wenn wir alle also gegenseitig ein wenig mehr füreinander vor Gott eingetreten wären.

Beten, das ist ja nicht allein Ausdruck meiner persönlichen Frömmigkeit, sondern unser Beten - und das wird doch durch das Prophetenwort sehr deutlich - ist einerseits unser Eintreten für uns selbst, wie dann andererseits auch für andere Menschen vor Gott. Beten ist das Wahrnehmen unserer Verantwortung, daß die Welt vor Gott gebracht wird und zwar so, wie sie ist, mit aller Schuld und allem Versagen, mit dem, was uns gelingt oder mißlingt. Im Gebet höre ich auf, der Welt gleichgültig gegenüberzustehen - und darum gehört das Gebet als eine geistige Lebensform in unser Zusammenleben hinein, weil es der Geist ist, auf den es in einer Gemeinschaft ankommt.

Daran zu arbeiten ist unser gemeinschaftlicher Auftrag für diese Stadt und ihre Zukunft. Ein Jubiläum weiter in 50 Jahren werden dann andere beurteilen, ob wir die Kraft hatten, diesem Auftrag gerecht zu werden.

Wo wir unser Zusammenleben so gestalten, daß wir auch vor Gott füreinander einstehen, werden wir zu einer geistigen Lebensform finden, die unser Zusammenleben konstruktiv und hoffnungsvoll prägt, eine Stadt, die auch von Fremden und Gästen immer wieder gern besucht wird. Schenke uns Gott mit diesem Jubiläum, daß wir unserer Stadt Bestes suchen, ein jeder an seinem Ort, das ist für uns Christen ein bleibender Auftrag für die Zukunft über dieses Jubiläumsfest hinaus. Darum:

Suchet der Stadt Bestes, ..., betet für sie zum Herrn;
denn wenn’s ihr gut geht, so wird es euch auch wohl ergehen
Gott segne unsere Stadt Kenzingen.

Amen.

*) Herr Leo Epstein lebte bis in die Zeit des Dritten Reiches hier in Kenzingen, dann mußte er seine Heimatstadt aus politischen Gründen verlassen und kam nun zu diesem Jubliäum noch einmal nach Kenzingen zurück.

Pfr. Hanns-Heinrich Schneider
Letzte Änderung: 06.09.2000