Begrüßung:
Liebe Gemeinde!
Der vorletzte Sonntag im Kirchenjahr, der deutsche Volkstrauertag, lädt uns alle dazu ein, unser Leben angesichts von Unterdrückung, Verfolgung, Vertreibung, Leid und Tod zu reflektieren, gerade auch in Bezug auf die Tatsache, dass wir schon wieder von Kriegen umgeben und daran mitbeteiligt sind. Niemand von uns lebt so, dass er durchweg dem Frieden dienen würde. Daher ist es gut, uns mit dem Wort Gottes besinnen zu dürfen, uns einladen zu lassen, die kleinen Schritte zu gehen, die in unserer Mitte beginnen, ihre Kreise ziehen und zu einer umfassenden Humanität beitragen.
Hilf mir, nach deinem Willen zu leben; denn du bist mein Gott! Gib mir deinen guten Geist, dass er mich führe auf sicherem Grund! (Ps. 143,10)
Gebet:
Gott, wir bitten dich, sei uns zugewandt,
wenn wir in der Trauer und Betroffenheit
um Unfrieden, Terrorismus, Krieg, Verletzungen
und Vertreibungen nach einem tragfähigen
Frieden suchen. Wir haben allen Grund zu
trauern - nicht nur um die Toten und die
wie auch immer Betroffenen der weltweiten
Kriege, sondern auch über uns selbst, in
unserer den Frieden störenden Rechthaberei,
der unbedachten Streitsucht, unserer Unfähigkeit,
über die kleinen Fehler und Schwächen anderer
hinwegzusehen und großzügiger zu sein. Wir
haben allen Grund zu trauern, weil wir selbst
um unsere Grenzen wissen, die uns schuldig
aneinander machen. Darum bitten wir dich,
mach uns ehrlicher, weitblickender, mutiger
und fürsorglicher in unserem Zusammenleben,
damit wir dem Frieden dienen.
Amen.
»Sag zu ihnen: `So spricht der HERR: Wenn jemand hinfällt, steht er dann nicht schnell wieder auf? Wenn jemand vom Weg abkommt, kehrt er nicht gleich wieder um? Warum bleibt Jerusalem bei seinen falschen Göttern und weigert sich, zu mir zurückzukehren? Ich habe genau gehört, was sie reden. Sie haben ihren Irrtum nicht erkannt. Niemand bereut seine Schlechtigkeit, niemand fragt sich: Was habe ich getan? Alle rennen auf ihrem Irrweg weiter wie Pferde, die sich in die Schlacht stürzen. Alle Zugvögel kennen ihre Ordnung und gehen und kommen zu der Zeit, die ich ihnen bestimmt habe: der Storch, die Taube, die Schwalbe, die Drossel. Nur mein Volk hält sich nicht an die Ordnungen, die ich ihm gegeben habe.«Jeremia 8,4-7
Ist uns Menschen noch zu helfen, wenn Gott selbst nach dem "Warum" fragt, nach dem "Warum" der Gottesentfremdung, der Gottesferne in der Welt? Die Gottesklage damals richtet sich gegen einen fragwürdigen Gottesdienst in der Auseinandersetzung Gott - und die Götter jener Zeit. Heute hören wir sie sachlich kaum anders im Spannungsfeld zwischen Gott oder einem oft allerdings unreflektiertem Atheismus. Was Gott hier beklagt, ist ja nicht das eine oder andere lässliche Vergehen, Peanuts in Glaubens- und Lebensfragen, eine momentane Störung der Gottesbeziehung, die durch ein wenig Nachdenklichkeit behoben werden könnte; Nein, es ging schon damals, wie erst recht heute um eine ganz zentrale, entscheidende Fehlentwicklung in der Beziehung des Menschen zu seinem Gott.
Von daher geht es gerade auch um den Menschen und sein Menschenbild, denn dass unser Glaube und Gottesbild zwangsläufig ethische Konsequenzen haben, liegt auf der Hand und ist jeden Tag in unserer Mitte belastend und bedrückend spürbar, jeder von uns kann davon (s)ein Lied singen. Und doch verändert sich nichts. Der Schriftsteller Joseph Roth lässt Mendel in seinem Hiobbuch sagen:
"Ich will mehr verbrennen als nur ein Haus und mehr als einen Menschen. Ihr werdet staunen, wenn ich euch sage, was ich wirklich zu verbrennen im Sinn hatte. Ihr werdet staunen und sagen: auch Mendel ist verrückt ... "Also sag uns, was du verbrennen willst!"Finden wir uns da nicht ein stückweit wieder: wir sind nicht alle fromm und gottesfürchtig, - wir arbeiten am Sonntag, - unser Sinn steht nach Geld, - der Staub der Welt liegt schon dicht, hoch und grau auf unserem Glauben, - viele (gute) Bräuche haben wir vergessen, - gegen manche Gesetze verstoßen, - mit unseren Köpfen und Gliedern gesündigt ... Einerseits hängen wir noch ein wenig an dem Gott unserer Väter und Mütter, andererseits liegt die Erinnerung an ihn zurück, wie etwas, was wir aus unserem Leben verbannt, aber nicht vergessen haben. Wir wollen es los sein, damit es uns nicht mehr belastet, doch wir erkennen, dass wir noch irgendwie daran hängen."Gott will ich verbrennen."
Allen vier Zuhörern entrang sich gleichzeitig ein Schrei. Sie waren nicht alle fromm und gottesfürchtig, wie Mendel immer gewesen war. Alle vier lebten schon lange genug in Amerika, sie arbeiteten am Sabbat, ihr Sinn stand nach Geld, und der Staub der Welt lag schon dicht, hoch und grau auf ihrem alten Glauben. Viele Bräuche hatten sie vergessen, gegen manche Gesetze hatten sie verstoßen, mit ihren Köpfen und Gliedern hatten sie gesündigt. Aber Gott wohnte noch in ihren Herzen. Und als Mendel Gott lästerte, war es ihnen, als hätte er mit scharfen Fingern an ihre nackten Herzen gegriffen ..." [1]
Nur wenige Menschen werden so radikal mit
Gott brechen, wie Mendel, einem zornigen
Hiob vergleichbar. Heute verabschiedet man
sich eher unreflektiert, schleichend, was
fast schlimmer ist, da manche Menschen mit
Gott fertig werden, bevor sie überhaupt
einmal ernsthaft mit ihm angefangen haben.
So leben wir in einer merkwürdigen Spannung
zwischen erlebbarer Gottlosigkeit im Alltag,
denn wo ist Gott noch der praktische Maßstab
für unser Tun oder Lassen - und unserem
Wunsch, dass unser Leben doch nicht so ganz
gottverlassen sein möge, weshalb wir uns
seiner hier und da erinnern und diese Erinnerung
sogar mehr oder weniger bewusst wollen.
Ist nicht der Volkstrauertag ein solcher Tag der Rückerinnerung, der Nachdenklichkeit? Auch in unserem Volk und seiner Geschichte haben Schuld und Versagen ihren Platz, was nicht zu beschönigen ist. Menschen haben ihr Leben verloren, ihre Gesundheit, ihre Heimat, ihren inneren Frieden und sind irgendwann einmal bei großer sozialer Sicherheit und äußerem Wohlstand doch innerlich heimatlos irgendwo angekommen. Darum gedenken wir der Kriegstoten und aller Opfer der vergangenen Kriege, wobei wir ja bereits wieder mitten drin sind in neuen Kriegen, welche die Welt erschüttern und in Atem halten. Was hat der Mensch, was haben wir gelernt?
Wem Afghanistan und der Terror in den USA, die blutige Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästina, die Attentate der ETA in Spanien zu weit weg sind, der schaue sich einmal in seinem eigenen Leben um und frage sich nach seiner eigenen Friedensfähigkeit. Ich weiß bei manch großem Bemühen und Engagement selbst in unserer Gemeinde doch auch um viel Lieblosigkeit, Hartherzigkeit und Rechthaberei, die durchaus in der zwischenmenschlichen Beziehung zu Störungen geführt haben und führen. "Lüge, meint Arthur Schopenhauer, sei nichts weiter als die Intelligenz der Gewalt. Man schlägt den anderen nicht auf die Nase, man führt ihn an der Nase herum ..." [2]
Nein, kein Krieg, definiert als Friedlosigkeit, ist weit weg, weil es einen unmittelbaren Zusammenhang gibt zwischen unserem Glauben und unserem Leben, einem erlebbaren Unglauben und der Friedlosigkeit in der Welt. Und wo ein Krieg nach menschlichem Ermessen einmal geführt werden muss, steht er dennoch immer unter einem Schuldvorbehalt. "Alle Menschen sind wie Vertriebene aus einem uranfänglichen Paradies. Berufen zum Glück waren sie alle, aber irgendetwas geschah, etwas Unvordenkliches und Unbegreifliches, das sie in ihrem ganzen Wesen verändert hat. Seitdem versuchen sie alles, den eingetretenen Schaden, an dem sie (Anm.: mehr oder weniger) leiden, wieder gut zu machen, doch immer wird der Riss größer eben bei dem Bestreben, ihn zu verkleinern ..." [3]
"Warum", so fragt Gott und stellt dabei fest, dass die Menschen wie Pferde auf einem Irrweg davon stürmen, wobei ja selbst die Tiere ihrem Instinkt folgend ihre Ordnung kennen, wie viel mehr müsste der mit Vernunft, Bildung und Gefühl begabte Mensch darum wissen? Der Autonomie, der Freiheit des Menschen gegenüber erscheint Gott machtlos. Jeremia bringt die Deportation Israels mit Gott in Verbindung, selbst das Volk wird es später kaum anders sehen. Diese Radikalität im Geschichtsdenken Israels hat Konsequenzen einerseits für seine Vergangenheitsbewältigung, andererseits für das Selbstverständnis Israels innerhalb der Völkergemeinschaft: Wenn Gott Israel so straft, doch auch bewahrt, dann muss dieses Volk in ganz besonderer Weise das Volk Gottes sein.
Worum es für uns alle, weit über Israel hinaus,
heute geht, ist die einschneidende Frage
nach dem Grund unseres Glaubens, ja nach
Gott selbst. Warum nur ist der Mensch so
besessen darauf, sich Gott zu entfremden,
ihn los zu werden?
Gott war und ist wohl immer und zu jeder
Zeit eine Störung unseres menschlichen Wollens.
Gott kommt uns in unserem Denken und Fühlen
buchstäblich in die Quere, wir wollen frei
und eben nicht fremdbestimmt sein - und
sei es von Gott. Doch alle Klugheit hat
nicht dazu geführt, einzusehen, wohin wir
damit kamen und wie anders es in der Welt
aussehen könnte, wenn der Glaube aller Religionen
und Konfessionen von den Gläubigen auch
gelebt werden würde. Das Leben aber ist
komplizierter, und so bleibt der Mensch
der Erde treu und seiner Schuld verhaftet.
Wenn ich einen solchen Text zunächst lese, dann frage ich mich unwillkürlich, wie man ihn aktuell auslegen kann, denn was ist einer modernen Gemeinde heute zu sagen, ohne dass wir uns unangemessen bedroht und belastet fühlen? Klar ist, dass dieser Text ja wirklich zu jenen der Bibel gehört, in denen es sehr ernsthaft um unsere Schuld und unser Versagen Gott gegenüber geht, ohne dass dies gleich verniedlicht werden darf. Für das, was wir uns Gott gegenüber leisten, hilft keine weiße Salbe - und alles wird schon wieder heil und gut. Andererseits muss gerade auch ein solch ernstes Wort zum Evangelium reifen können, zu einem Wort von Gott, das dem Glauben für unser Leben weiterhilft. Damit geht es um tragfähige Werte und Orientierungen, die wegweisend sind jenseits von Sonntagsreden und staatstragenden Veranstaltungen an Ehrenmalen, die an uns vorbei geredet sind und keinen Platz mehr in unserem Leben finden.
Für mich wird es dann - wenn ich länger über ein solches Wort nachgedacht habe - zu einer Herausforderung. Jedenfalls für einen kleinen Augenblick möchte ich Gott durch meinen Glauben gegen allen Anschein widersprechen. Und dann merke ich irgendwann, dass ich mich wieder einmal übernommen habe - und fange, vielleicht durch ein solches Wort ermutigt, von vorne an mit Gott, mit meinem Glauben, mit den Menschen, die mir Mühe machen. Ich spüre, wie wenig die großen Appelle nutzen, und so möchte ich uns Mut machen, die ersten kleinen Schritte zu wagen, damit es aufhört, dass Gott nach dem "Warum" unserer Gottesentfremdung und Gottesferne fragen muss.
Wären wir sonst hier, wenn nicht auch für uns gelten würde, was von den Freunden Mendels gesagt wird: "... aber Gott wohnte noch in ihren Herzen ..." So verschüttet unser Glaube sein mag, und wir einen tiefen, ernsten, ja auch liebevollen Umgang mit Gott scheinbar vergessen und verloren haben, so sehr gilt, dass er in den Tiefen unserer Existenz wohl immer - wie eine tiefe Ur-Ahnung - vorhanden ist und bleibt. Widersprechen wir dem nach unserem Glauben und Leben fragenden Gott durch einen Glauben, der lebt - und wir werden aus den Exilen unserer wohlstandsorientierten Gottesferne heimkehren in die Nähe eines Gottes, der zu uns steht, gerade in den Tiefen unserer Existenz, in Schuld und Versagen.
Niemand von uns sollte je in eine Situation
kommen, wo er Gott bewusstverbrennen, aus
seinem Leben verbannen möchte, wenn dennoch
die Erinnerung an Gott offensichtlich so
unverwüstlich die Zeiten hindurch in uns
brennt. Auch unser Unglaube tötet ihn nicht,
so oft wir ihn auch für erledigt und tot
erklären mögen. Beginnen wir doch eine ganz
neue Auseinandersetzung mit Gott und lassen
wir ihn daher wieder einmal mit uns leben.
Dann würden die Volkstrauer-, Buß- und Totensonntage
endlich der Erinnerung anheim fallen, sie
wären dann nicht mehr nötig.
Amen.
außerdem:
Sprondel, G., Calwer Predigthilfen, 2000/2001, Reihe V/2, Stuttgart, 2001, S. 215 f
Karg, M., Deutsches Pfarrerblatt, Heft 10/2001 (Volkstrauertag)
Arndt, P.J., Predigt zu Jeremia 8, 4-7, Die Predigtdatenbank