Hört auf mich, ihr Inseln, merkt auf, ihr Völker in der Ferne! Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt. Er machte meinen Mund zu einem scharfen Schwert, er verbarg mich im Schatten seiner Hand. Er machte mich zum spitzen Pfeil und steckte mich in seinen Köcher. Er sagte zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will. Ich aber sagte: Vergeblich habe ich mich bemüht, habe meine Kraft umsonst und nutzlos vertan. Aber mein Recht liegt beim Herrn und mein Lohn bei meinem Gott. Jetzt aber hat der Herr gesprochen, der mich schon im Mutterleib zu seinem Knecht gemacht hat, damit ich Jakob zu ihm heimführe und Israel bei ihm versammle. So wurde ich in den Augen des Herrn geehrt, und mein Gott war meine Stärke. Und er sagte: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.
Wie klug meinen wir zu sein und wie wenig bedenken wir dabei unser Leben: wir haben keine Zeit dazu, wir haben gerade etwas anderes vor, wir sind noch zu jung oder schon zu alt, um uns Gedanken zu machen. Herr, um Ausreden sind wir nie verlegen, darum lass uns recht hören
Herr! Wir danken dir für dein Wort, das uns empfindsam macht für den Glauben an dich, uns in unserem Denken und Tun herausfordert und aller Gleichgültigkeit, Resignation und Verantwortungslosigkeit Grenzen setzt. Wir dürfen um unser Leben denken, um unserem Glauben ein Fundament zu geben, ihn hier unter uns ebenso mutig, wie fröhlich leben zu können. Amen.
Sind Sie schon einmal um Ihr Leben gerannt, weggelaufen, weil einer hinter Ihnen her war? Jeder von uns kennt das irgendwie aus seinem Leben, dieses Weglaufen, auch wenn es vielleicht manchmal nur innerlich geschieht, ganz still und leise, tief in einem drin. Wir meiden die Auseinandersetzung, weil uns dafür die Kraft fehlt, der Mut, die Hoffnung darauf, dass sich etwas ändern könnte, und so laufen wir weg, wir laufen um unser Leben. In Wirklichkeit laufen wir aber aus unserem Leben und vor unserem Leben davon.
Rüdiger Safranski setzte sich kürzlich in der FAZ* mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche auseinander, der vor einhundert Jahren starb. Ganz neu wird dieser Denker heute entdeckt, und vieles von dem, was ich einmal im Studium über ihn hörte, muss heute in Frage gestellt werden. So schreibt Safranski:
"Wer überhaupt das Denken für eine Angelegenheit des Lebens hält - was heutzutage nicht selbstverständlich ist -, wird um Nietzsche nicht herumkommen und nicht mit ihm fertig werden können. Für Nietzsche war das Denken eine Leidenschaft... Er hat um sein Leben gedacht. Um sein Leben denken - das kann zweierlei bedeuten. Es kann bedeuten, dass man um sein Leben denkt, wie man um sein Leben läuft oder um sein Leben kämpft. Das Denken ist also lebensnotwendig in einem ungewöhnlichen, in einem dramatischen Sinne. Es kann bedeuten, dass man um sein Leben herumdenkt. Man meidet, so gut es geht, die Berührung mit dem wirklichen Leben. Oder weil man zu wenig Berührung hat, verfällt man auf das Denken. Im gewissen Sinne also: Denken anstatt Leben. Nietzsche hat um sein Leben gedacht - in beiden Bedeutungen ..."Von dieser Spannung, die in diesem Gedanken zum Ausdruck kommt, die ja kaum jemandem von uns so ganz fremd sein wird, der sich dem Nachdenken über sein Leben stellt, der nicht um sein Leben herumdenkt, erzählt unser spannungsvoller Text. Der hier Angesprochene und Erzählende denkt um sein Leben und denkend erfährt er seinen Gott in allen Spannungen und Brüchen, im Kampf, wie in der Geborgenheit, in seiner Resignation, wie in seinem Glauben. Denn glauben heißt ja nichts anderes, als zu denken, um sein Leben zu denken.
Wer in unserem Text redet, wirkt ein wenig verschleiert: einmal ist es Israel, das ganze Volk ist als Knecht Gottes angesprochen, heute würden wir vom Mitarbeiter reden, dann wieder ist es ein Einzelner. Doch sehr viel mehr als um den Angesprochenen selbst geht es um den Auftrag, die Person tritt hinter das Amt zurück. Wir erfahren von Spannungen und Brüchen, die auch damit verbunden sind: Er muss reden! Wie ein scharfes Schwert, ein spitzer Pfeil soll er wirken, aber er bleibt trotz dessen geschützt und geborgen. Selbst im Angriff wird ihm die beziehungsvolle Nähe Gottes spürbar.
In dem er von seinem Auftrag erzählt, zu
einem Mitarbeiter Gottes berufen zu sein,
schildert er sofort auch seinen Zweifel,
sein Scheitern und mit diesem von seinem
Vertrauen. Was gehört für eine Gedankenkraft
dazu, selbst in den Tiefen der eigenen Existenz
und an den Grenzen seiner Möglichkeiten
dennoch darauf zu setzen, dass "Gott mir
zur Stärke geworden ist?" Dabei wird der
Auftrag auch noch überboten: nicht für Israel
allein soll er wirken, sondern "zu einem
Licht der Nationen" werden.
In all dem erfahren wir unendlich viel über
diesen Gott, wie über den Mitarbeiter selbst,
in dessen Nachfolge wir ja ganz offensichtlich
gestellt sind: was ist das für ein Gott,
der uns selbst im Scheitern treu bleibt,
was für ein Mitarbeiter, an dem so unbedingt
festgehalten wird? Wir alle spüren, jetzt
ist nicht mehr allein Israel angesprochen,
ein alter, längst verstorbener Prophet,
es geht auch nicht einfach nur um Jesus
von Nazareth, das alles wäre viel zu eng
ausgelegt: hier ist - mit jenen allen -
von uns die Rede. Wir sind gemeint und noch
ein wenig präziser: ich bin angesprochen,
ich bin gemeint, diese Rede gilt mir, meinem
Gelingen, meinem Scheitern, es ist mein
Auftrag, der mir hier erneut hörbar gemacht
wird.
Als von Gott Berufene geht es darum, nicht nur unser Leben zu denken, sondern mit Gott sofort auch die Welt in den Blick zu nehmen, die Welt, die uns umgibt und keine andere. Wir fragen uns ja gelegentlich: was es uns bedeutet, wenn wir heute noch unsere Kinder taufen lassen, am Religions- oder dem Konfirmandenunterricht teilnehmen, Gottesdienst feiern, unsere Kirchensteuern zahlen? Wie verstehen wir von all dem, was wir von Gott und der Welt zu hören bekommen, unseren Auftrag, zu einem "Licht" für andere zu werden, um so die Dunkelheiten zu beleuchten, Klarheit zu finden, den Durchblick zu bekommen?
Da wird uns einiges zugemutet, doch das Evangelium kann schließlich nicht mir allein gelten, wenn es nicht in gleicher Weise allen anderen gilt. Und auf wen könnten andere schauen, um zu erfahren, wie Christsein heute aussehen kann, wenn ich mich nicht stelle? Es geht - ganz modern gesprochen - um unsere eigene Glaubwürdigkeit, die Übereinstimmung von dem, was ich vorgebe zu denken, zu glauben und dem, was ich lebe. Es geht also um Gott und die Welt und darum auch illusionslos um mich.
Spüren wir denn nicht alle, wie wir Ausreden suchen, um nur nicht zu sehr vom Glauben in Anspruch genommen zu werden. Heute verweigern wir ja oft schon das Denken, weil es uns fordern könnte, damit leben und bleiben wir gedanken-los. Wie aber sollte denn unser Denken und Glauben ohne Konsequenzen bleiben können? Es ist imponierend, mit welcher Endgültigkeit und Verbindlichkeit in unserem Text gesprochen, um das Leben und den Glauben gerungen wird, sollte das nicht auch uns heute möglich sein?
Wie könnte mein Auftrag lauten, wenn ich Gott höre, was gäbe es für mich zu tun, wenn mir der Glaube existentiell würde? Für Nietzsche, der um sein Leben dachte, gilt, dass "ein Gedanke, der einen nicht irgendwie verwandelt, nichts taugt..." Was also taugt unser Glaube, zu welcher Kraft ist er fähig, welche Veränderungen kann er schaffen, wo mich in meiner Existenz tragen, mein Denken und Fühlen begleiten?
Wir erleben zur Zeit eine Diskussion um die rechte Gewalt, Brandanschläge auf Synagogen, rechtsextremer Hass auf Menschen, die einfach nur anders sind, als ich selbst, doch konkret: wie gehe ich mit meinen Nachbarn um, die einmal aus der UDSSR hierher gekommen sind, wie mit den Asylbewerbern im Steinernen Weg, wie mit den Jugendlichen auf dem Schulhof vor dem Jugendkeller? Sind wir selbst denn nicht sehr schnell dabei, andere auszugrenzen, sie mit Vorurteilen zu belegen, wobei sie uns im Grunde doch fremd sind und wir das, was uns scheinbar stört, nur aus der Ferne wahrnehmen? Noch banaler könnte gefragt werden: wie gehe ich damit um, wenn der Hund im Nachbarhaus bellt, die Musik der Kinder zu laut ist, Blätter vom Nachbargrundstück auf mein eigenes fallen?
Hier schärft sich unser Profil als "Christen" in der Welt, denn hier zeigt sich, wes Geistes Kinder wir sind. Dabei geht es in unserem Text und unserem Auftrag nicht nur um allgemein menschliche Fragen. Um human, das heißt menschlich zu leben, muss ich kein Christ sein. Christen gibt es ja wahrlich genug auch außerhalb unserer Kirchen. Es geht darum, unseren Glauben nicht durch unsere Unglaubwürdigkeit zu diskreditieren, es geht darum, den Glauben an Gott in unseren Lebensbezügen lebendig und erlebbar werden zu lassen.
Wenn wir also bei der Taufe, der Konfirmation, der kirchlichen Trauung und wo auch immer im Leben unser Ja sagen, dann sollte dieses Ja in Wort wie Tat gelten. Wenn wir in unseren Gottesdiensten unseren christlichen Glauben bekennen, dann sollte uns klar sein, was wir tun, denn mit jedem Ja beziehen wir Position. Wir sagen, was wir glauben und wozu wir stehen, womit dann andere eingeladen sind, sich auseinander zu setzten. Das alles ist nur möglich, wo wir anfangen, um unser Leben zu denken, wo unser Glaube bedacht und uns, wie anderen wirklich wieder existentiell wird.
Wo das geschieht, da wird unser kleiner biblischer Text lebendig, Worte aus dem Dunkel der Vergangenheit erhalten eine aktuelle Bedeutung. Vielleicht wird man uns im Mut zur Auseinandersetzung um des Glaubens-, um Gottes Willen einmal als eckig und kantig empfinden, ganz sicher werden auch wir resignieren, weil es den Anschein hat, dass wir uns "umsonst abgemüht" haben. Doch in all dem werden wir eine Ahnung davon erhalten, wie sehr Gott selbst uns zur "Stärke" geworden ist. Erst dort, wo wir nicht mehr mit den Hunden bellen, nicht mehr nach dem schielen, was andere tun und das Denken aus Bequemlichkeit verweigern, wird unser Glaube das Profil erhalten, mit dem sich sogar die Welt verändern lässt - und diese beginnt bei uns, bei mir.
Unser Auftrag lautet nicht ein paar Mitglieder für die Kirche zu werben, sondern Gott teilbar zu machen, mitteilbar in einer Welt, der Gott scheinbar so sehr abhanden gekommen ist. Wir sind dazu berufen, den Frieden Gottes erlebbar zu machen in einer Welt, der der Friede überhaupt verloren ging. Das aber bedeutet, endlich heimatlich zu werden in einer Welt, der das Gefühl für Heimat, für Geborgenheit und das Angekommen sein immer fremder wird. So vernetzt wir heute auch leben und damit die Welt zum Dorf machen, so isoliert und vereinzelt leben wir vor uns hin.
Gott schenke uns allen die Kraft, unseren
Glauben zu leben, dass er auch andere wieder
einmal begeistern kann. Be-geisterung aber
hat mit Geist zu tun und dieser mit unserer
Bereitschaft zum Denken. Glauben heißt Denken,
Gott be-denken! Denken wir um unser Leben,
damit wir nicht um unser Leben, um Gott,
herumdenken.
Amen.
Letzte Änderung: 25.10.2000
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider