Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Ewigkeitssonntag, Jesaja 65, 17-25,
Kantate "Wachet auf! ruft uns die Stimme" (Kurzansprache)

Gebet:

Herr, guter Gott! Auch im vergangenen Jahr mussten viele Menschen in unserer Gemeinde Abschied nehmen, es gab schmerzhafte Krankheiten und abgrundtiefes Leid. Hilflos, ja oft bitter denken wir an die Menschen, die wir aus unserem Leben verloren haben. Wir wissen nur, dass wir Trost brauchen, um leben zu können. Schenke uns eine Vision von einem anderen Leben, die uns herausreißt und voller Hoffnung leben lässt. So kommen wir gerade heute zu dir und bitten um deine Gegenwart in unserem so oft bedrängten Leben, schenke unserem Glauben Wurzeln und unserem Leben einen festen Halt. Amen.

Predigttext:

Alles mache ich jetzt neu:

Einen neuen Himmel schaffe ich und eine neue Erde. Dann sehnt sich niemand nach dem zurück, was früher einmal gewesen ist; kein Mensch wird mehr daran denken. Freut euch und jubelt ohne Ende über das, was ich nun schaffe! Ich mache Jerusalem zur Stadt der Freude, und seine Bewohner erfülle ich mit Glück. Ich selbst will an Jerusalem wieder Freude haben und über mein Volk glücklich sein. Niemand wird mehr weinen und klagen.

Es gibt keine Kinder mehr, die nur ein paar Tage leben, und niemand, der erwachsen ist, wird mitten aus dem Leben gerissen. Wenn jemand mit hundert Jahren stirbt, wird man sagen: 'Er war noch so jung!' Selbst der Schwächste und Gebrechlichste wird ein solch hohes Alter erreichen.

Sie werden sich Häuser bauen und auch darin wohnen können. Sie werden Weinberge pflanzen und selbst den Ertrag genießen. Sie sollen nicht bauen und pflanzen und sich lebenslang mühen, nur damit andere den Gewinn davon haben. Alt wie Bäume sollen sie werden, die Menschen in meinem Volk, und den Lohn ihrer Arbeit selbst genießen! Sie werden sich nicht vergeblich abmühen.

Die Frauen gebären ihre Kinder nicht länger für eine Zukunft voller Schrecken. Sie sind mein Volk, ich segne sie; darum werden sie mit ihren Kindern leben. Noch ehe sie zu mir um Hilfe rufen, habe ich ihnen schon geholfen. Bevor sie ihre Bitte ausgesprochen haben, habe ich sie schon erfüllt.

Wolf und Lamm werden dann gemeinsam weiden, der Löwe frisst Häcksel wie das Rind, und die Schlange nährt sich vom Staub der Erde. Auf dem Zion, meinem heiligen Berg, wird keiner mehr Böses tun und Unheil stiften. Ich, der HERR, sage es.

Jesaja 65, 17 - 25


Liebe Gemeinde!

Ja, wer hätte das von uns gedacht, dass 1989 die Mauer fallen würde, Deutschland einmal auf die DM verzichten, dass deutsche Soldaten auf dem Balkan dazu beitragen würden, dass der verletzbare Frieden ein wenig stabiler wird und junge Frauen sich nun zur Bundeswehr melden dürfen. Wer hätte damals gedacht, dass Mahatma Gandhis Vision von einem gewaltfreien Widerstand die Engländer schließlich aus Indien vertreiben würde? Und hat sich letztlich nicht doch eine Menge in den USA verändert, nachdem Martin Luther King im August 1963 - vor dem Marsch auf Washington - von seinem großen Traum öffentlich sprach, ohne die Sorge, ausgelacht und verspottet zu werden:

Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird ... Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen. (Jesaja 4O, 4 + 5)

Das ist unsere Hoffnung ...

Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, die schrillen Missklänge in unserer Nation in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu verwandeln. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, zusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, zusammen für die Freiheit aufzustehen, in dem Wissen, dass wir eines Tages frei sein werden ...

Jesaja hat eine Vision! Er sieht einen neuen Himmel und eine neue Erde kommen, er sieht, dass Wolf und Lamm auf einer Weide weiden werden. Sicher so weit sind wir heute noch nicht, aber können wir deshalb verkennen, dass Visionen für unser Leben notwendig sind, um eine Zukunft zu haben, Zukunft gestalten zu können? No future vor 2537 Jahren [1], denn als Jesaja diese Vision hatte, sah es dunkel für die Zukunft aus in Israel: Der Tempel Gottes, die Stadt Jerusalem und viele Siedlungen lagen in Schutt und Asche. Hunger, Not, Resignation und Verzweiflung waren an der Tagesordnung. In diese Situation hinein spricht Gott durch den Propheten [2].

Inzwischen hat Israel bessere Zeiten erlebt. Doch wenn wir heute hören: Auf dem Zion, meinem heiligen Berg, wird keiner mehr Böses tun und Unheil stiften ..., so wünschte man, dass Juden wie Palästinenser, den gleichen Gott anbetend, ebenfalls an dieser Vision arbeiten würden. Keine Vision wird Wirklichkeit ohne unseren eigenen Beitrag. Trotz gegenteiliger Erfahrungen, die Vision des Propheten ist lebendig. Menschen können sich gegenseitig terrorisieren, sie können einander Gewalt und Leid zufügen, die Vision von einem verlässlichen und dauerhaften Frieden, auch um den Tempelberg herum, ist nicht totzukriegen.

Liebe Gemeinde! Heute, am Totensonntag, gedenken wir der Verstorbenen unserer Gemeinde des vergangenen Jahres. Verlust, Krankheit und Trauer mussten auch in diesem Jahr erlebt, durchlitten, verarbeitet werden, und in diese Situation unseres Lebens hinein spricht nun unser Text. Aber kann er uns etwas sagen, uns trösten, den Blick in die Zukunft wenden und weiten? Schnell meinen wir ja, dass uns nicht zu helfen ist, wenn wir einen vertrauten Menschen verloren haben, da fehlt einfach zu viel, was ganz selbstverständlich zu unserem Leben dazu gehörte. Dennoch können visionäre Worte oft etwas in uns aufbrechen, das wie eine Brücke aus der Gegenwart in die Zukunft unseres Lebens weist.

Jede Predigt auf dem Friedhof muss diesen Brückenschlag wenigstens versuchen, sonst würden wir vor dem Tod kapitulieren. Diese Vision lebt von der Spannung, dass es das doch gar nicht gibt: einen neuen Himmel und eine neue Erde.., und doch von der Hoffnung, dass es von Gott aus mehr geben wird, als des Menschen Tod. Darum: "Wachet auf! ruft uns die Stimme!" dass wir gerade nicht den Mut verlieren, uns nicht resignierend von der Wirklichkeit binden lassen. Um der Welt und unseres Lebens willen müssen wir es wagen, mit unseren Visionen aufzubrechen, neue Wege zu suchen, dem Leben dennoch neue Anfänge zu schenken - und damit sogar dem Tod in unserem Leben einen Sinn.

Fühlen wir uns herausgefordert, ermutigt, denn unzählige Menschen mussten die deutsche Wirklichkeit nach dem 2. Weltkrieg wahrnehmen, wie sie sich nun einmal darstellte, Martin Luther King oder Mahatma Gandhi und viele andere wollten sich ja auch nicht einfach mit einer Realität abfinden, die hoffnungslos erschien. Sie wagten Visionen, Träume, von einer andere Zukunft. Mit Visionen erträumen wir uns ein kleines Stück des Paradieses in unser Leben hinein, schon hier und jetzt, und mit jeder dieser Visionen widersprechen wir einer gott- und damit ja auch geistlosen Wirklichkeit der Welt, unserer Welt.

Allein traut sich Jesaja diese Weltveränderung nicht zu, so wenig, wie er es anderen Menschen allein zutraut, er vertraut auf das Wort: Ich, der Herr, sage es! Visionär verlässt er sich auf die alternative Präsenz Gottes, um dadurch seinen bedrängten Mitmenschen neue Formen der Hoffnung, der Zukunftsgestaltung für einen inneren, wie äußeren Frieden zu schenken. Sicher, der Tod bleibt! Auch in der Zukunft werden vertraute und geliebte Menschen sterben, wir werden Natur- und andere Katastrophen erleben, der Tod wird uns begleiten - dennoch dürfen wir mit der Vision eines Jesaja lernen, aus einem Jenseits oder Diesseits ein "Gott-seits" [3] werden zu lassen, ein Leben auf der Seite Gottes. Das ist der Trost, den ich uns heute am Totensonntag anbieten möchte, mit dem Glauben an Gott unsere menschlichen Grenzen zu erweitern, um daran mitzuarbeiten, der Zukunft ein anderes Gesicht zu geben.

Geht das, so fragen wir? Es geht! Wir erleben es jeden Tag um uns herum, wo Menschen "Gottseits" zu leben gelernt haben, voller Vertrauen und Hoffnung, trotz der erfahrenen Dunkelheiten ihres Lebens. Hören wir noch einmal in die Vision des Jesaja hinein, und hören wir damit Gott selbst: Einen neuen Himmel schaffe ich und eine neue Erde ... Wolf und Lamm werden dann gemeinsam weiden, der Löwe frisst Häcksel wie das Rind ..., denn: ich, der HERR, sage es.

Lassen wir uns mit dieser alten biblischen Vision ermutigen, eine Brücke zu betreten, die aus einer oft dunklen und bedrängenden Gegenwart heraus tatsächlich mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde unter uns rechnet.
Amen.


Literatur:
  1. Weisswange, K., Deutsches Pfarrerblatt, Heft 10/2000, Ewigkeitssonntag
  2. Proescholdt, J., DIKE-Predigtdatenbank, Jahrgang 99/00, Reihe IV - Nr. 65
  3. Proescholdt, a.a.O.
  4. Herlyn, Okko, in: Calwer Predigthilfen, 1999/2000, 2. Halbband, Reihe IV/2, S. 225f
  5. Schulz, H.J., Von Gandhi bis Camara, Kreuz-Verlag, Stuttgart / Berlin, 1971
  6. Die Rede von Martin Luther King steht u.a. auf http://www.baptisten.org/efg/Dortmund/Mitte/mlk.htm

Letzte Änderung: 27.11.2000
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider