Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Septuagesimae, 27.1.2002
Römer 8, 1, 2, 9-11, 31-39 und der Choral "Jesu meine Freude"

Begrüßung:

Liebe Gemeinde, ein ganz besonderer Gottesdienst liegt vor uns. Mit der Kantorei zusammen wollen wir über das alte und bekannte Kirchenlied "Jesu meine Freude" nachdenken. Die Gemeinde wird den ganzen Choral im Laufe des Gottesdienstes singen, die Kantorei teilweise die entsprechende Motette von Johann Sebastian Bach dazu. Dem Choral und der Motette liegen dabei Römer 8 zugrunde, ein Text der uns teilhaben lässt an der Erkenntnis menschlicher Grenzen, wie Paulus sie ja vielfach am eigenen Leib und im eigenen Leben erfahren hat. So führt er in einen widerständigen, zuversichtlichen Glauben. Hier werden die Welt und die Nöte der Welt eben nicht geistlos sich selbst überlassen, sondern durch den persönlichen Glauben gedeutet und so mit Gott im Herzen und im Kopf für das eigene Leben fruchtbar gemacht. In den Psalmen heißt es einmal:
Wir sind entkommen wie ein Vogel aus dem Netz des Fängers; das Netz ist zerrissen, und wir sind frei! (Psalm 124, 7)

Gebet:

Wir beten mit Worten und Gedanken aus unserer Zeit dem 95. Psalm nach:
Kommt her, wir feiern ein Fest für Gott, eine fröhliche Demonstration für die wunderbare Befreiung. Lasst uns danken, Gott ist da, lasst uns vor Freude singen, denn Gott ist anders, nicht zu messen an dem, was man sonst Gott nennt, den Schrecken der Tiefe oder den Rausch der Höhe. Von Gott ist die Weite des Meeres und die Vielfalt des Festlands. Kommt her, hört, singt, betet und freut euch: Denn Gott hat euch geschaffen! Sammelnd, behütend, sorgend - erkennt, was Gott für euch tat und auch in Zukunft tun wird! So hört ihn auch in den Tiefen der Welt.

Text:

Der Geist Gottes überwindet die Sünde

Vor dem Gericht Gottes gibt es also keine Verurteilung mehr für die, die mit Jesus Christus verbunden sind. Denn dort, wo Jesus Christus ist, gilt: Du bist befreit von dem Gesetz, das von der Sünde missbraucht wird und zum Tod führt. Denn du stehst jetzt unter dem Gesetz, in dem der Geist Gottes wirkt, der zum Leben führt. [Anm.: Nach Paulus handelt es sich um dasselbe Gesetz, das jetzt unter einem neuen Vorzeichen steht.] Ihr aber seid nicht mehr von eurer eigenen Natur bestimmt, sondern vom Geist. Es will doch etwas besagen, dass der Geist Gottes in euch Wohnung genommen hat! Wer diesen Geist - den Geist von Christus - nicht hat, gehört auch nicht zu ihm.

Wenn nun also Christus durch den Geist in euch lebt, dann bedeutet das: Euer Leib ist zwar wegen der Sünde dem Tod verfallen, aber der Geist erfüllt euch mit Leben, weil Christus die Sünde besiegt hat und ihr deshalb bei Gott angenommen seid. Mehr noch: Der Geist, der in euch lebt, ist ja der Geist dessen, der Jesus vom Tod auferweckt hat. Dann wird derselbe Gott, der Jesus Christus vom Tod auferweckt hat, auch euren todverfallenen Leib lebendig machen. Das bewirkt er durch seinen Geist, der schon jetzt in euch lebt.

Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes

Was bleibt zu alldem noch zu sagen? Gott selbst ist für uns, wer will sich dann gegen uns stellen? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle in den Tod gegeben. Wenn er uns aber den Sohn geschenkt hat, wird er uns dann noch irgend etwas vorenthalten? Wer kann die Menschen anklagen, die Gott erwählt hat? Gott selbst spricht sie frei. Wer kann sie verurteilen? Christus ist für sie gestorben, ja noch mehr: Er ist vom Tod erweckt worden. Er hat seinen Platz an Gottes rechter Seite. Dort tritt er für uns ein. Kann uns noch irgend etwas von Christus und seiner Liebe trennen? Etwa Leiden, Angst und Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahren für Leib und Leben oder gar die Hinrichtung?

Es ergeht uns wirklich so, wie es in den Heiligen Schriften steht: »Weil wir zu dir, Herr, gehören, sind wir ständig in Todesgefahr. Wir werden angesehen wie Schafe, die zum Schlachten bestimmt sind.« Aber mitten in all dem triumphieren wir als Sieger mit Hilfe dessen, der uns so sehr geliebt hat.

Ich bin ganz sicher, dass nichts uns von seiner Liebe trennen kann: weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen, noch andere gottfeindliche Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Himmel noch Hölle. Nichts in der ganzen Welt kann uns jemals trennen von der Liebe Gottes, die uns verbürgt ist in Jesus Christus, unserem Herrn.


Evangelisches Gesangbuch, Lied 396

Liebe Gemeinde!

Jesu meine Freude!

Wir haben es von der Kantorei gesungen gehört und selbst gesungen. Es ist eines der alten, sehr bekannten Lieder unseres Gesangbuches. Durchaus beeinflusst von Paul Gerhard hat der Liederdichter Johann Franck dieses Lied geschrieben. Er wurde 1651 in Guben, (Niederlausitz) geboren und wurde später dort Rechtsanwalt, Ratsherr, Bürgermeister und Landesältester, also ein durchaus populärer Kirchenlieder dichtender Politiker. Er starb 1677 in seiner Heimatstadt Guben.

Jesu meine Freude!

70 Jahre nach dem Entstehen dieses Liedes greift es ein anderer Mann der Kirchenmusik auf, um es für einen ganz anderen Zweck zu bearbeiten. Es ist Johann Sebastian Bach, der daraus nun die Motette (BWV 227) komponiert hat, die uns heute teilweise durch unseren Gottesdienst begleitet. Sie ist ein "Glaubensbekenntnis" nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), nach dem übrigens ja auch unsere Kirche von den Franziskanern erbaut wurde, - ebenfalls als eine bewusste Antwort auf die Wirrnisse jener Zeit.

Lied und Motette sind gar nicht zu verstehen, ohne die Dunkelheiten des Lebens, persönliche Erfahrungen, die das Leben begrenzen, es durch Angst und Sorge gefangen nehmen: durch die menschlichen Infragestellungen, den Krieg, Zerstörung, Hunger, Vertreibung und Not, die Krankheit, Verlust und den Tod. Jeder von uns könnte hier nun gedanklich einsetzen, was ihn fesselt und bindet, um zu erkennen, dass jede Verzweiflung uns gedanklich wie ein tiefes Grab erscheint.
Wir singen und hören ein Kirchenlied, eine Motette, die Römer 8 aufgreift. Paulus, ein vielfach angefochtener Mann, der die Wunden der Welt am eigenen Körper spürt, kann erst dadurch zu so tiefgreifenden Aussagen des Glaubens kommen. Er hat selbst erfahren und durchlitten, was ihm seine engen Grenzen aufzeigt und ihn so neben die Bedrängten und Leidenden der Welt stellt. Nicht umsonst wurde gerade der Römerbrief immer wieder in der Kirchengeschichte zur Glaubensgrundlage für Reformationen.

Vielfach klingen seine Aussagen wie Hammerschläge, fest gemeißelt, trotzig und doch von großartiger Brillanz und einem fast unerschütterlichen Glauben. Nicht umsonst ist er einer der ersten großen Theologen der jungen Kirche. Erst so kann er sagen:

"Vor dem Gericht Gottes gibt es keine Verurteilung mehr ... Ihr seid nun nicht mehr von der Natur bestimmt, sondern vom Geist ...
Und schließlich - unübertroffen in tröstlicher Zuversicht, dichterischer Sprache und theologischem Tiefgang:
Ich bin ganz sicher, dass nichts uns von seiner Liebe trennen kann: weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen, noch andere gottfeindliche Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Himmel noch Hölle. Nichts in der ganzen Welt kann uns jemals trennen von der Liebe Gottes, die uns verbürgt ist in Jesus Christus, unserem Herrn ..."
Lied 396, 2 + 3:
Unter deinem Schirmen
bin ich vor den Stürmen
aller Feinde frei.
Lass den Satan wettern,
lass die Welt erzittern,
mir steht Jesus bei.
Ob es jetzt gleich kracht und blitzt,
ob gleich Sünd und Hölle schrecken,
Jesus will mich decken.

Trotz dem alten Drachen,
Trotz dem Todesrachen,
Trotz der Furcht dazu!
Tobe, Welt, und springe;
ich steh hier und singe
in gar sichrer Ruh.
Gottes Macht hält mich in acht,
Erd und Abgrund muss verstummen,
ob sie noch so brummen.

In diesen Versen schimmert einerseits etwas durch von einem großen Vertrauen, andererseits von innerem Trotz und Widerstand, sich gerade nicht gedanklich fesseln und binden zu lassen. Darin erweist sich die Kopffreiheit eines Christen.

Weil diese Menschen sich ihrem Gott durch ihren Glauben unlösbar verbunden fühlen, können sie so etwas sagen und in ein Lied, eine Motette hineinverflechten. Jeder in der Kirche soll von diesem trotzigen Gottvertrauen hören oder sein eigenes Leben und seine Erfahrungen selbst in diesen Versen mitsingen können. Der katholische Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann macht das auf seine Weise deutlich, wenn er gerade einem Buch mit Predigten über die Passions- und Osterzeit den Titel gibt: "Leben, das dem Tod entwächst". [1]

Ich spüre das ja überdeutlich, gerade auch bei bedrängenden Todesfällen und Beerdigungen, in wie weit der christliche Glaube Theorie oder gelebte Praxis ist - und bei jeder Beerdigung stehen wir mit dieser Überlegung an einem Anfang unseres Glaubens, unserem Vertrauen Gott gegenüber. Hier steht auf dem Prüfstand, wovon viele Menschen heute - die ihrem Glauben aus welchen Gründen auch immer, distanziert gegenüber stehen - nur noch eine ferne Ahnung haben.

Leben, das dem Tod entwächst drückt sich gerade so aus, wie wir es mit unserem Choral singen und mit der Motette hören:

Unter deinem Schirmen bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei!
So wird auf eine sehr menschliche Art und Weise ein Protestlied gegen die Todesstrukturen der Welt angestimmt. Sicher, wir würden heute andere Worte wählen, und doch wird sich ein jeder von uns, der sich existentiell infrage gestellt sieht, auch in diesen Worten und Klängen wiederfinden, herausgefordert und zugleich getröstet fühlen. Jeder von uns erfährt in seinem Leben so etwas wie die Hölle als den Ort dunkelster Gottesferne, aber wohl kaum jemand, außer ein paar verführte Satanisten, würde sich damit zufrieden geben, weil wir alle davon eine Ahnung mitbekommen haben, dass das Leben mehr ist als eine seelische oder körperliche Not. Wer von uns sehnt sich denn nicht danach, dass ihm der Himmel, als Ort der Gegenwart Gottes, offen steht?

Himmel und Hölle, Gott und das Böse, sind nicht oben oder unten zu denken, sondern mitten im Leben erfahrbar. Denn hier sehen wir die Schönheit der Schöpfung, - die Möglichkeiten, die jedem Leben mitgegeben sind, Kunst und Kultur zu erleben, - sich selbst zu verwirklichen und in Gemeinschaft, im Umgang miteinander, Freude, Fest, Feier und Fröhlichkeit zu erfahren, - dem Leben durch die Gestaltung der Arbeit und der Freizeit einen tiefen Sinn zu geben. Das alles verdanken wir ja nicht uns selbst, sondern Gott, der uns unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten dazu schenkt, das Leben so vielfältig zu gestalten.

Und wo all das in Frage steht, das Leben nutz- und sinnlos scheint, uns jede Perspektive und Hoffnung fehlt, dort ist uns der Himmel scheinbar fern und die Erfahrung der Hölle sehr nah. Nein, auch das Böse wird von uns allen im Leben erfahren - schauen wir nur in die Tagesschau oder in die Zeitung. Darum die Aufforderung aus dem Liedvers an uns Christen:

Trotz dem alten Drachen, trotz dem Todesrachen, trotz der Furcht dazu ...
Oder noch einmal mit Paulus gesagt:
Ich bin ganz sicher, dass nichts uns von seiner Liebe trennen kann: weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen, noch andere gottfeindliche Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Himmel noch Hölle. Nichts in der ganzen Welt kann uns jemals trennen von der Liebe Gottes, die uns verbürgt ist in Jesus Christus, unserem Herrn ..."
Lied 396, 4 + 5:
Weg mit allen Schätzen;
du bist mein Ergötzen,
Jesu, meine Lust.
Weg, ihr eitlen Ehren,
ich mag euch nicht hören,
bleibt mir unbewusst!
Elend, Not, Kreuz, Schmach und Tod
soll mich, ob ich viel muss leiden,
nicht von Jesus scheiden.

Gute Nacht, o Wesen,
das die Welt erlesen,
mir gefällst du nicht.
Gute Nacht, ihr Sünden,
bleibet weit dahinten,
kommt nicht mehr ans Licht!
Gute Nacht, du Stolz und Pracht;
dir sei ganz, du Lasterleben,
gute Nacht gegeben.

Es gehört schon - wir spüren es alle - einige Gedanken- und Glaubenskraft dazu, sich in dieser Weise äußern zu können, und ungebrochen würde das wohl niemand von uns heute sagen können und wollen. Was hier zum Ausdruck gebracht wird, ist, in den Worten jener Zeit, eine tiefe Leidenschaft für den Glauben und durch ihn. Es ist der Glaube, der sich in einem unendlich langen Krieg bewähren musste, der gerade nicht einfach und leidlos zu erfahren gewesen ist. Der neue Glaube, der Protestantismus, kostete den Einsatz des ganzen Menschen, so, wie der christliche Glaube in seinen Anfängen ja auch von Paulus erfahren wurde. Leidenschaft für den Glauben, leidenschaftlich glauben!?

Wer von uns könnte das von sich sagen, für seinen eigenen Glauben in Anspruch nehmen? Der Preis der Aufklärung war hoch, denn, weil wir gerade nicht mehr so ungebrochen glauben können, uns in eine Beziehung zu Gott und Jesus Christus gesetzt sehen, darum leben wir natürlich auch in ganz anderen Bindungen, die uns das Leben schwer machen, uns unsere Freiheit in Frage stellt. "Jesu meine Freude ...", da klingt doch etwas davon durch, wie eine Glaubensbeziehung verstanden werden kann. Mit der mangelnden Leidenschaft für unseren Glauben in der Moderne ist uns der Glaube selbst ein stückweit abhanden gekommen. Das ist der Preis. Was bleibt, ist Mission, Ökumene, der Mut zum täglichen Neuanfang mit Gott und dem Glauben, so wie der Leidenschaft, diesen in das tägliche Leben, den Alltag hineinzuleben, selbst dann, wenn dies einmal neben aller Freude auch Leiden mit sich bringen würde.

So romantisch die Worte klingen, jesuanisch fern und fremd, so sehr lassen sie sich mühelos in das eigene Leben hinein übersetzen, sie bleiben zeitlos aktuell, tröstend, doch zugleich eine Herausforderung an unseren Glauben und unsere Art, diesen zu leben.

Alles zielt nun auf den letzten Vers unseres Liedes und der Motette ab:

"Weicht ihr Trauergeister, denn ... denen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Freude sein ..." -
und wieder korrespondiert er mit den Worten aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes:
"... Nichts in der ganzen Welt kann uns jemals trennen von der Liebe Gottes, die uns verbürgt ist in Jesus Christus, unserem Herrn ..."
Aus dieser Perspektive des Glaubens ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Auch aus den dunkelsten Lebenserfahrungen heraus bleibt eine unendliche Hoffnung, die sich in unserem Glauben, im Vertrauen auf die Gegenwart Gottes in unserem Leben begründet. Ich denke dabei an Dietrich Bonhoeffer, der auf dem Weg in den Tod am Galgen, als seine letzten überlieferten Worte, sagte: "Das ist das Ende - für mich der Beginn des Lebens ..." [2] Nur wenige Tage später war der nationalsozialistische Krieg verloren und zu Ende. Einen solchen Glauben tötet niemand, ja man lebt selbst angesichts des Todes, weil es ein Leben ist, dass dem Tod entwachsen ist.

Danken wir den Menschen, die uns aus ihrem Glauben heraus, über alle Zeit hinweg, eine solche Musik geschenkt haben, danken wir unserer Kantorei, dass sie zu unserem eigenen Singen, dieses Bach’sche Glaubenszeugnis beigetragen hat. Danken wir Gott dafür, dass es keine Tiefe in unserem Leben gibt, wo er nicht da wäre.

Darum:

"Weicht ihr Trauergeister - ... Jesu meine Freude!"
Amen.

Lied 396, 6:

Weicht, ihr Trauergeister,
denn mein Freudenmeister,
Jesus, tritt herein.
Denen, die Gott lieben,
muss auch ihr Betrüben
lauter Freude sein.
Duld ich schon hier Spott und Hohn,
dennoch bleibst du auch im Leide,
Jesu, meine Freude.

Literatur:

  1. Drewermann, E., Leben das dem Tod erwächst, Umschlagseite, Düsseldorf, 19932
  2. Bethge, E., Dietrich Bonhoeffer, München, 19674, S. 1037
außerdem:

Letzte Änderung: 01.02.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider