Das ist für fromme Ohren unglaublich. Wenn der Messias kommt, dann ist und bleibt er auch da, wie kann dieser Jesus aus Nazareth nur sagen, dass selbst der versprochene Christus "erhöht" werden muss, sich also den Menschen in die Gegenwart Gottes entziehen wird? Jesus hat einen wunden Punkt bei seinen Zuhörern getroffen, warten sie doch mit großer Sehnsucht auf den Messias und auf all das, was sich dann nach ihren Vorstellungen von ihm in der Welt ändern wird.
Jesus geht auf das Ende seines Wirkens zu, bald schon wird er mit seinen Abschiedsreden beginnen, denen die Passions- und Auferstehungsberichte folgen. Sein öffentliches Wirken wird sehr zwiespältig aufgenommen, denn werden die einen schon bald Hosianna, so die anderen Kreuzige ihn rufen. Wer also ist dieser Menschensohn, von dem Johannes spricht?
Eine klare Antwort bleibt aus: hier hören wir kein "ich bin" das Licht, die Wahrheit, der Weg, die Auferstehung oder das Leben ... mehr. Jesus spricht gegen Ende seines Dienstes spürbar zurückhaltender, so redet er vom "Licht", das jetzt noch scheint, den Weg erhellt, damit die Dunkelheit keinen Schaden anrichten kann. Der bekannte Tübinger Rhetoriker Walter Jens fragt in seinem Aufsatz "Die Evangelisten als Schriftsteller":
"Was, frage ich mich, erfahre ich aus diesen Berichten von Schriftstellern, denen bei allem Bemühen um redliche Zeugen-Aussage ( ...) doch ein literarischer Ehrgeiz nicht abzusprechen ist? Was erfahre ich über die Menschen, die zur Zeit Jesu, in seinem Umkreis lebten? Was über das Land, in dem er geboren worden ist? Was über Bauten und Berge, über Häuser und Seen, über Vögel, Nahrungsmittel und Gerätschaften im Hause? Erfahre ich, wie die Menschen ausgesehen haben, denen Jesus begegnet ist, welche Kleider sie trugen und wie ihre Gedanken waren? ...
Der Duktus der Erzählung ist nüchtern; Exaktheit dominiert; wir erfahren mehr - weit mehr, als wir, die wir die evangelischen Berichte lange genug mit einer Summe frommer Versatzstücke verwechselt haben, uns einbildeten. Das Land, in dem Jesus lebte, hat klare Konturen: Da gibt es die Wüste und den blauen See im Norden; da bessern Fischer ihre Netze aus: Netze, die unter der Last zu zerreißen drohen; da dümpeln Boote; das Meer schlägt in die Schiffe; die Leute, Jesus voran, haben Hunger; von Motten und Würmern ist die Rede; von Huren und Dieben, von Säufern und Fressern ... [1]
Das ist der Hintergrund, auf dem wir die Frage nach dem "Menschensohn", dem "Messias" aus dem Volk heraus hören müssen: Dieser Mensch dort drüben, das soll der Messias sein, der, auf den Israel seit Generationen gewartet hat und auf den sie alle ihre Hoffnungen projiziert haben, - ein Mensch in staubigen Kleidern, sonnengegerbter Haut, verschwitzten Haaren, - ein Mensch mit Hunger und Durst; - ein Mensch, wie Du und Ich? Ich denke, dass wir es da heute fast einfacher haben, denn dieser Jesus ist uns aus den Zeugnissen der Bibel bekannt und Generation um Generation von Christen haben an ihn als den ersehnten Messias, den Christus geglaubt, ihn bezeugt, verkündigt und von seinem Wort und Geist zu leben versucht.
Da steht er vor dieser Menschenmenge und wird ein weiteres Mal kritisch hinterfragt und angegriffen: "Wer ist überhaupt dieser Menschensohn?" Und Jesus, dem kein Glaube geschenkt wird, wie von Jesaja vorhergesagt, redet vom Licht, in Worten, die einerseits sehr klar, deutlich, ja erhellend sind, andererseits aber die Antwort doch auch wieder verschlüsselt, verdunkelt. So wird dieser Mann gesehen und gehört, und die Menschen sind zu einer Entscheidung aufgerufen, sie müssen sich entscheiden.
Wir alle kennen das ja aus unserem Leben, wie schwer es oft ist, wenn die Lage, die Situation unklar und verworren auf uns wirkt und wir uns dennoch entscheiden müssen, uns eine eigene Meinung zu bilden haben. Wer sich ent-scheidet, der muss auch trennen können, der muss zum einen Ja und zu etwas anderem Nein sagen. Da ist mit den Folgen, den Konsequenzen zu leben, denn wer sich für etwas entscheidet, nimmt in Kauf, dass er damit anderes sofort von seiner Wahl ausscheidet, das kommt dann nicht mehr für ihn in Frage.
Und genau so ergeht es den Menschen, die hier um Jesus herumstehen
und ihn befragen. Die einen haben ihm bereits ihr Vertrauen
geschenkt, doch andere zweifeln daran, dass dieser Mensch dort
etwas Besonderes mit Gott zu tun haben könne. Wenn man ihn so
sieht, spricht eigentlich zu viel dagegen. Glaube bedeutet für
den Evangelisten Johannes, ernst- und anzunehmen, was dieser
Jesus von Nazareth sagt und tut, was er von der Liebe Gottes
so ungewöhnlich, manchmal auch befremdlich offenbart. So spricht
er hier vom Licht - und meint eben doch sich selbst.
Das Licht ist das erste Schöpfungswerk Gottes. Was er nun weiterhin in Gang setzen wird, geschieht, von diesem Licht her beleuchtet, in aller Deutlichkeit und Erkennbarkeit. Dem erschaffenen Licht steht das Dunkel, der Schatten gegenüber. Jesus verweist darauf, dass es jetzt an der Zeit ist, mit dem Licht zu leben, seinen Lebensweg von dorther erleuchten zu lassen. Nichts beschönigend, rechnet Jesus mit dunklen Zeiten im Leben, Zeiten auch der Gottesferne. Denn natürlich haben wir Menschen mit unserem Tun und Lassen die Schöpfung Gottes verdunkelt: Baby-Herzen werden, ohne die Eltern zu fragen, für Forschungszwecke beiseite geschafft, - 400 000 Rinder sollen geschlachtet und vernichtet werden, weil Futtermittel zu einer BSE-Krise geführt haben, das sind nur zwei Nachrichten der letzten Woche. Müssen wir uns weitere Beispiele in Erinnerung rufen?
Wieder stellt Jesus mit diesem Bild seine Zuhörer vor die Entscheidung von Licht und Finsternis: glaubt ihr, den Menschensohn vor euch zu haben, den Messias Israels oder nicht? Doch es war damals, wie es heute noch ist: wir scheitern an unseren eigenen Erwartungen und Vorstellungen.
Wir haben uns ein Bild gemacht, eine Vorstellung von Gott, von Jesus Christus, von der Kirche, von unserer Gemeinde, von unserem Nachbarn, von unserem Pfarrer oder kirchlichen Mitarbeitern und sind nun Gefangene unserer Einstellungen. Unsere Sicht führt uns eben nicht immer ins Licht, zu Klarsicht, Durchsicht und Erkenntnis, sondern verdunkelt oftmals unseren Weg, unsere Beziehungen auch zur Natur, zur Kreatur, zu anderen Menschen.
Kurz und knapp wird uns berichtet: "Nachdem Jesus das gesagt hatte, ging er fort und verbarg sich vor ihnen ..." Er wird zunehmend verfolgt, obgleich doch so unendlich viele in seiner Gegenwart etwas erfahren dürfen, was sie vorher für unmöglich gehalten haben. Sie erleben in seiner Gegenwart etwas vom Heil der Welt und können fasslich spüren, wie Gott seine Schöpfung und den Menschen in ihr liebt. All diese Begegnungen und all das, was die Menschen um ihn herum gesehen und gehört haben, führt nun dazu, dass es einen Schnitt gibt: Menschen, die ihm ihr ganzes Vertrauen schenken und andere, die ihn so bald als möglich beseitigen möchten, weil er in Israel und für einige Menschen in ihrer Frömmigkeit und Vorstellung vom Messias zu einem Störfall geworden ist.
Der Schriftsteller Heinrich Böll erzählt eine Geschichte aus dem zweiten Weltkrieg: Soldaten an der Front. Soldaten unter Artilleriebeschuss, vier werden zum Essenholen abkommandiert. Einen, den es erwischt hat, einen erschossenen Pionier, dessen Körper nur zur Hälfte noch da ist, schleppen die vier in einer Zeltplane mit zurück. Aber sie alle erreichen ihr Ziel nicht mehr. Als sie schon ganz nahe sind und als der Zugführer schon Meldung machen will, umgibt sie plötzlich ein ungeheuer strahlendes Licht - eine Granate ist unter ihnen explodiert. "Da wusste ich", heißt es am Schluss der Geschichte, "dass ich an einem anderen Ziel war und wahrheitsgemäß vier und einen halben würde melden müssen, und als ich lächelnd vor mich hinsagte viereinhalb, sprach eine große und liebevolle Stimme: Fünf!" [2]
Das ist es doch wohl, warum wir uns gerade heute wieder vom Wort Gottes her ansprechen lassen, weil wir den Gott daraus hören, der auch den halben Menschen, den angeschlagenen, verkrüppelten, angefochtenen, müden oder kranken gelten lässt, der unsere Maßstäbe, die wir an andere anlegen, nicht übernimmt, sondern sogar die "Viereinhalb" aufwertet und die "Fünf" gerade sein lassen kann.
Was ich mir und uns allen wünschte, ist, dass wir uns selbst hier und da wie von einem Lichtblitz getroffen fühlen und wahrnehmen, wenn Gott sagt: Du bist es, den ich meine, so, wie du bist. Dann werden wir vielleicht doch einmal ganz unerwartet erkennen, dass wir an diesem unvorstellbaren, unfasslichen Ziel angekommen sind, wo jede Flucht und Ausflucht, wohin auch immer, aufhört. Sogar unsere Angst davor, uns festlegen zu sollen, uns einmal eindeutig zu bekennen, haben dann ein Ende und alle Entscheidungen sind für uns gefallen - vor allem von Gott selbst her, der dennoch zu uns und seiner Schöpfung steht.
Er schenkt uns nicht nur mit jedem Morgen-Licht einen neuen Tag
für unser Leben, sondern mit diesem zugleich die Erinnerung
daran, dass sein Sohn, Jesus von Nazareth, auch unseren Lebensweg
so durchleuchten will, dass wir wirklich und endgültig einmal
in seiner Gegenwart ankommen dürfen.
Amen.
Letzte Änderung: 04.02.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider