Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Exaudi (6. Sonntag nach Ostern), 1.6.2003
Joh. 15, 26-16, 4a

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Der Sonntag "Exaudi", der Sonntag vor Pfingsten, soll uns schon ein wenig einstimmen auf das kommende Pfingstfest, den geistlichen Geburtstag der Kirche. So wird es heute um den Geist gehen, der dem Menschen an die Seite gestellt ist. Das heißt: Jesus sagt seinen Jüngern voraus, dass sie nach seinem Tod eines ganz besonderen Geistes bedürfen, um ihren Glauben in Zeiten der Verfolgung, aber auch der Anpassung an den herrschenden Zeitgeist oder einer aufkommenden Gleichgültigkeit leben zu können. Lassen wir uns Gottes guten Geist an die Seite zu stellen, uns, die wir so oft von allen guten Geistern verlassen scheinen. Der Geist hilft unserer Kraftlosigkeit auf (Römer 8,26).

Predigttext:

Der Helfer wird kommen, der an meine Stelle tritt. Es ist der Geist der Wahrheit, der vom Vater kommt. Ich werde ihn zu euch senden, wenn ich beim Vater bin, und er wird als Zeuge über mich aussagen. Und auch ihr werdet meine Zeugen sein, denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.

Ich habe euch dies gesagt, damit ihr nicht an mir irre werdet. Sie werden euch aus den Synagogengemeinden ausschließen. Es wird sogar soweit kommen, dass alle, die euch töten, es als einen Opferdienst zur Ehre Gottes verstehen. Das alles werden sie euch antun, weil sie weder mich noch den Vater erkannt haben. Aber ich habe es euch gesagt. Wenn es eintrifft, werdet ihr an meine Worte denken.

Joh. 15, 26-16, 4a


Liebe Gemeinde!

Das ist ja, wir spüren es alle, so eine Sache mit dem "Geist". Manche von uns haben ihn und merken es gar nicht, andere dagegen haben ihn überhaupt nicht und tun so, als hätten sie ihn. Und dann erst der "Geist der Wahrheit", spricht doch inzwischen sogar DER SPIEGEL über "Die Stunde der Wahrheit im Land der Lügen!" [1]

Wie gut nur, dass die Bibel bei diesem Geist uns zunächst gar nicht in den Blick nimmt, sondern diesen Geist allein und ausschließlich bei Gott ansiedelt. Mit dem Anspruch auf den "Geist der Wahrheit" wäre unsere Welt restlos überfordert, dazu hält uns schon der jeweilige Zeitgeist zu sehr gefangen. Wir alle spüren es bis zum Verdruss, wenn gerade Politiker bei ihren je eigenen Positionen, aber eben auch Wertungen, immer die Wahrheit für sich in Anspruch nehmen, eine Wahrheit, die der glatten Lüge nur allzu oft sehr nahe kommt.

Jetzt stellt sich die provokante Frage: Sollen wir nun unsere Gesangbücher lieber gleich einpacken und nach Haue gehen? Oder gibt es da doch noch etwas aus unserem Text heraus zu lesen, heraus zu hören, was uns selbst bei der Bewältigung unseres Leben helfen könnte? Und so ist es: Der "Geist der Wahrheit" ist ganz offensichtlich der Geist, der von Gott selbst ausgeht und uns etwas erkennen lässt, was wir ohne diesen Geist niemals erkennen würden. In unserem Text hat dieser Geist sogar einen Namen: es ist der Helfer oder ein wenig vereinfacht auch der Tröster, der an die Stelle Jesu treten wird, um die Jünger nach seinem Tod in ihrem Glauben zu bestärken, zu befestigen.

Stellen wir uns die Situation noch einmal vor: Jesus ist gekreuzigt, der Lächerlichkeit preisgegeben. Der, von dem sie glaubten, dass er ihnen Gott nahe bringen würde, in ihre von heidnischen Göttern und Götzen besetzte Welt, der war schmählich und unter dem Spott der Massen hingerichtet worden. Der Gott Israels war ja längst ein frommes Devotionalien-Göttlein um den Tempel herum geworden, ein Andenken-Gott, der den Priestern, Geldwechslern und Händlern viel Geld einbrachte. Dieser Mann Jesus, aus Nazareth kommend, war für sie ein "Gott sei Dank" schnell beseitigter Störfall gewesen, ein Zwischenfall, wie er leider immer wieder einmal vorkommt.

Was die Jünger und Freunde Jesu brauchten, war nichts anderes als Trost. Wie nah hatte man sich den Himmel vorgestellt, ja, in der Gegenwart Jesu, spürte man gelegentlich, dass er mitten in der Welt, mitten im Alltag weit offen gestanden hatte. Gott war in Jesu Gegenwart den Menschen ins Leben getreten da am See Genezareth, auf den Hügeln oberhalb von Kapernaum, wenn er über das Reich Gottes redete und die Zuhörer satt wurden, ohne dass man genug zu Essen hatte. Unglaubliches geschah in seiner Nähe und viele Menschen spürten etwas von diesem Frieden Gottes mitten in einer friedlosen Welt, von einem Himmel mitten in den Höllen des persönlichen Lebens.

Was die Jünger zunächst erfuhren, war, dass sogar ihnen der Himmel verschlossen blieb und alle großen Hoffnungen in Resignation, in Hoffnungslosigkeit und Ratlosigkeit umschlugen. Die Welt war, was sie immer war und sie blieb so, wie man es immer befürchtet hatte. Was würde aus all dem werden, was Jesus ihnen vorgelebt, geredet und getan und worüber sie sich so oft verwundert und dabei gehofft hatten, dass in diesem Menschen tatsächlich Gott selbst in die Welt gekommen war?

Trost brauchten die Jünger also mehr als alles andere, jemanden, wie einen Helfer, der sie über diese dunkle Lebenserfahrung von Verfolgung, Folter und Tod, einer scheinbaren Gottverlassenheit hinweg trösten konnte. Wie sollte man denn zu einem Zeugen dieser unglaublichen Wahrheit werden können, wenn man doch selbst in einem trostlosen Zustand lebte? Und diese Situation vorausschauend spricht Jesus seine Jünger darauf hin an, dass sie eben nicht allein gelassen bleiben, sondern dass sie eine tröstende, ermutigende Hilfe von Gott an die Seite gestellt bekommen, so dass sie dann zur rechten Zeit auch wieder seine Zeugen in der Welt sein werden.

Wer von uns kennt das nicht, dass es Lebenssituationen gibt, in denen wir alle Trost brauchen: ein Kind fällt hin und braucht die Zuwendung der Eltern; - in einer Beziehung klemmt es, da ist eine Vertrauensperson nötig, um sich einmal aussprechen zu können; - in seinem Beruf bestürmen einen Sorgen, er oder sie fühlt sich überfordert, gestresst oder gemobbt, so dass es gut ist, wenn andere mit Zuhören, Rat und Tat zur Seite stehen; - Freunde gehen aufeinander zu, wenn diese oder jene Hilfe nötig ist, großer Worte bedarf es da kaum; - Trauernde brauchen Trost, wenn sie den Verlust eines Mitmenschen zu beklagen haben. Und jedes Mal sieht der Trost anders aus. Wichtig ist zunächst einmal das Gespür dafür, da ist jemand, der jetzt für mich da ist, ohne nach dem Einsatz von Zeit und Aufwand zu fragen.

"Die Stunde der Wahrheit im Land der Lügen ...", wie es im SPIEGEL heißt, ist also keineswegs allein auf die Politik und Politiker zu beziehen. In der Politik aller Parteien spiegelt sich eben das an Geistlosigkeit und Unwahrhaftigkeit wider, wovon in unserer Gesellschaft von vorneherein ausgegangen wird. Es war ein Thema im Lehrerzimmer unserer Hauptschule in der vergangenen Woche, dass Eltern oft ohne zu zögern bereit sind, Kinder krank zu melden, die einfach keine Lust haben, zur Schule zu gehen. Da kann es vorkommen, dass Kinder gleich die Krankheit vorgeben, welche die Eltern dann in die Entschuldigung einzutragen haben. Und was so im Kindesalter beginnt, setzt sich im Erwachsenenalter natürlich fort.

Und weiter mit "der Wahrheit im Land der Lügen": Warum soll ich eigentlich nicht schwarz arbeiten, wenn ich mir doch so mein Arbeitslosengeld aufbessern kann? Wozu soll ich mich gesund schreiben lassen, wenn mir mein Krankengeld und ein wenig Schwarzarbeit daneben, doch sehr viel mehr einbringen? Weshalb eigentlich ehrlich leben, wenn man anders doch ganz offensichtlich mit einfachen Mitteln sehr viel weiter kommt? Ja, warum, wozu und weshalb eigentlich? Es lebt sich doch so sehr gut "im Land der Lügen!" Daher sollte sich auch niemand beklagen, der mit seiner Steuerklärung ebenso umgeht, wie Politiker mit ihrer selbst festzusetzenden Diätenerhöhung und den dazugehörenden vielfältigen Sonderleistungen. Der "Geist der Wahrheit" beginnt bei mir zu Hause oder er wird niemals anzutreffen sein!

Was ist eigentlich los im Land der angeblichen "Dichter und Denker", wenn "Anfang 2002 deutsche Verwaltungsrichter 250.000 unerledigte Verfahren vor sich herschoben und Investitionsvolumen von 5,5 Milliarden Euro festlagen, weil Juristen nicht mehr mitkamen? [2]

Das alles hat durchaus etwas mit "Geist" und "Geistlosigkeit" zu tun. Zwar ist dafür keine einzelne Regierung verantwortlich zu machen, aber die Regierenden in allen Parteien und Parlamenten. Der Wille zur Macht eint sie alle, der Wille zu einer tiefgreifenden Politikgestaltung in ernster Zeit scheitert an Lobbyisten, Verbänden, der Wirtschaft, den Gewerkschaften und auch an uns Wählern. Hier kann nur noch ein mutiger furchtloser Geist fruchten, aber kein Parteibuchgeist.

Wir konnten jetzt wieder einmal in einer Prestige-Umfrage des Allensbacher Instituts lesen, dass nach den Ärzten die Pfarrer an zweiter Stelle im Ansehen der Bevölkerung stehen [3], die Kirche jedoch weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen landet. Wie kommt das? Als Pfarrer stehe ich für meine Kirche ein, sie gibt mir mein Amt, sie trägt unabhängig von einzelnen Menschen die Botschaft von Generation zu Generation. Es liegt wohl auch daran, dass ein Pfarrer gerade in seinem Amt als Seelsorger alternativ wahrgenommen wird. Von ihm erwartet man, dass er sich stören lässt, zuhören kann, sich Zeit nimmt, schweigt, ja vielleicht auch einmal etwas sagt, das herausfordert. Dazu gehört dann sicher auch der enge Bezug, der sich über eine lange Zeit durch viele Situationen von der Taufe eines Kindes bis hin zu der Beerdigung in einer Familie hindurch aufbaut.

Ich denke, dass wir "die" Kirche (wer oder was sollte das denn eigentlich sein?) viel zu abstrakt, zu distanziert und oft nur über den Abzug der Kirchensteuer sehen. Dass ich selbst die Kirche bin, wird oft gar nicht erkannt. Da ist das Erstaunen oft groß, wenn in einem Taufgespräch nach der Glaubwürdigkeit eines Taufversprechens von Eltern und Paten gefragt wird, zu dem persönlichen Ja der Konfirmanden bei der Konfirmation? Die vorsätzliche Lüge gehört ja schon ganz selbstverständlich zum Alltag - und das gerade den Menschen gegenüber, die ich doch vorgebe zu lieben. Die Unwahrheit durchzieht einfach das ganze persönliche und gesellschaftliche Leben. Der Kirchentag jedenfalls, den wir gerade in Berlin erleben, zeigt, wie notwendig die Verknüpfung von Glaube und Politik, von tiefer Religiosität und Alltag ist, jenseits aller Engstirnigkeit, Intoleranz und Rechthaberei. Wir Christen haben zu sagen, wofür wir stehen und zu akzeptieren, dass es so, wie bisher, nicht weitergehen kann. Das allein wird der Politik helfen und Politiker zu neuen Wegen ermutigen. Der Geist Gottes gehört aus unseren Kirchen heraus auf die Straße, ins Geschäft, den Betrieb, das Rathaus, das Parlament, er gehört in die Schule, in die breite Öffentlichkeit.

Damit können wir auch unseren Text noch einmal besser verstehen: Die Jünger erfahren von Jesus, dass ihnen in einer sehr existentiellen Lebenskrise ein Helfer, ein Tröster an die Seite gestellt werden wird, "der Geist der Wahrheit", und eben so werden die Jünger zu Zeugen. Sie sind Menschen, wie alle anderen auch, nicht besser und nicht schlechter, aber sie dürfen sich als selber getröstete, anderen an die Seite stellen und von ihrem Glauben reden und aus ihrer gottgewollten Menschlichkeit leben. Dieses Zeugnis damals begründete die Kirche.

Wir werden heute nicht mehr verfolgt und getötet, daher ist unsere Situation auch eine ganz andere, als die der Jünger damals. Aber Glaube wie Kirche gründen sich im "Geist der Wahrheit", im "Heiligen Geist". So sind wir es heute, die sich darauf verlassen dürfen, dass auch uns der Geist Gottes dort zur Seite steht, wo es uns scheinbar an Trost, Hilfe, ja an Mut mangelt. Zeugen in der Nachfolge Jesu werden wir nur dort sein können, wo wir diesem so ganz anderen Geist Raum in unserem Leben lassen und dem jeweiligen Zeitgeist, wo er unsinnig ist, Unfrieden, Ungerechtigkeit und fragliche Abhängigkeiten schafft, mutig entgegentreten. Man wird uns hören und schon damit wäre unser Glaube heute gut bezeugt.

Albert Schweitzer hatte eine Art Leitmotiv für sein publizistisches Werk. Er sagte: "Nachdenklich machen ist die tiefste Art zu begeistern ..." [4] Wäre das nicht eine Aufgabe für uns Christen, uns gerade so in die Herausforderungen unserer Zeit einzumischen? Eben dazu schenke Gott uns seinen guten Geist.
Amen.


Literatur:

  1. DER SPIEGEL, Nr. 21, 19.05.2003 (Titelseite)
  2. DER SPIEGEL, a.a.O., S.56 ff
  3. Dt. Pfarrerblatt, 05. Mai 2003 und Badische Pfarrvereinsblätter, Nr. 5, Mai 2003
  4. Schweitzer, A., Vorträge, Vorlesungen, Ausätze,
    Werke aus dem Nachlass, München, 2003 Umschlagseite (!)
Letzte Änderung: 12.06.2003
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider