Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

10.05.1998, Kantate

Ökumenischer Gottesdienst zur Woche für das Leben


Worauf du dich verlassen kannst:
Miteinander leben in Familie und Gesellschaft!

Predigtext, Luk. 2, 41-52:

Der zwölfjährige Jesus im Tempel

Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wußten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wißt ihr nicht, dass ich sein muß in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.


Liebe ökumenische Gemeinde!


Auch das noch! In einer der wenigen Kindheitsgeschichten Jesu im Neuen Testament sind wir sofort an ganz typische Familiensituationen erinnert. Nichts ist es mit dem "lieben" Herrn Jesus, denn ich möchte die Mutter und den Vater sehen, die nicht "verwundert, "entsetzt" und voller "Unverständnis" reagieren würden, wenn ihr 12-jähriger Junge drei Tage, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verschwinden würde. Was wir hier geschildert bekommen, ist eine fast normale Pubertätsgeschichte.

Familien- und Geschwistergeschichten in der Bibel sind oft dramatisch, denken wir nur an Kain und Abel, an Esau und Jakob, an Joseph und seine Brüder oder im Neuen Testament an den Konflikt in der Beispielgeschichte Jesu von den verlorenen Söhnen. Die Bibel stellt sich der Wirklichkeit, sie gaukelt keine heile, einfache oder bequeme Welt vor, die es so nicht gibt. Umgekehrt wird die Bedeutung der Familie dadurch betont, dass Jesus auf die Frage nach seiner Familie auf seine Jünger und die Menschen um ihn herum zeigt und deutlich macht, dass sie es sind und alle, die den Willen Gottes tun. Damit verweist Jesus uns zugleich darauf, dass es hinter der sichtbaren und spürbaren Familie etwas gibt, das weiter und tiefer reicht, nämlich sich eingebunden und getragen zu wissen als Teil der Familie Gottes.

Unsere kleine Pubertätsgeschichte, einmal ein wenig anders gelesen, führt uns direkt zu dem von uns leicht abgewandelten Thema der diesjährigen Woche für das Leben: "Worauf du dich verlassen kannst - Miteinander leben in Familie und Gesellschaft!" Wir tun gut daran und haben es bitter nötig, uns Jahr für Jahr unter einem anderen Thema daran erinnern zu lassen, welche Bedeutung Kindern gerade heute - angesichts so vieler Gegenwarts- und Zukunftsängste - zukommen muß und was für ein unschätzbarer Wert eine Familie ist.

Daß sich die Familie seit Jahren in einer Umbruchssituation befindet, ist bekannt und oft genug untersucht worden. Dennoch sind und bleiben Ehe und Familie allen Umfragen zufolge die wertvollsten Güter, welche wir uns wünschen und die für uns zum Sinn des Lebens und zu seinem Glück dazugehören. Das "Miteinander leben in Familie und Gesellschaft" ist schwieriger geworden - und dafür gibt es Gründe, die viel zu wenig bedacht werden:

Die Sozialforscher sprechen heute von einer "Singularisierung", einem Trend zur Vereinzelung. Die Folge davon ist ein Mehr an Freiheit, aber auch an Vereinsamung. Die Liebe ist nach wie vor mit romantischen Vorstellungen befrachtet, die kaum der Wirklichkeit standhalten und oft täuscht man sich darüber hinweg, dass zu jeder Partnerschaft und in jedem Familienleben Konflikte zu ertragen sind. Die Liberalisierung der Sexualmoral, der gestiegene Wohlstand, teure Wohnformen, eine höhere Mobilität machen es nicht leichter, sich in Ehe und Familie zurechtzufinden. Man überfordert sich nur allzu oft gegenseitig mit Erwartungen, ein gangbarer, tragfähiger Ausweg ist da nur schwer zu finden. Die Konfliktfähigkeit in unseren Ehen und Familien nimmt ab. Man gibt einander zu schnell auf und meint das Problem durch eine Trennung lösen zu können.

Wir lernen in Deutschland in der Schule, wie ein Kuhauge funktioniert oder wie viele Regentage es im Jahr am Ende der Welt gibt, wir lernen sogar einiges über Sexualität und Familienplanung. Worüber wir aber nichts zu hören bekommen, ist, was in einer Partnerschaft passiert, was sie begründet, ihr einen dauerhaften Bestand geben kann? Wie es ist, wenn in eine Ehe Kinder hinein geboren werden und wie sehr sich damit auch das Zusammenleben der Ehepartner verändert? Das Thema "Familie" gehört in die schulische Pädagogik, gehört sehr viel stärker in das öffentliche Bewußtsein, bis in die Parlamente hinein.

Reicht es z.B., was hier in unserer Stadt für Kinder und Jugendliche geschieht? Wie oft sind sie Thema einer Tagesordnung im Gemeinderat und was lassen wir sie uns kosten: Finanziell, aber auch ideell? Wir sind ja inzwischen so weit, dass wir "Kinder" als einen "Kostenfaktor" betrachten. Und dass kinderreiche Familien in ihren Möglichkeiten schlicht benachteiligt sind, ist längst bekannt. Dabei ist klar, dass gerade kinderreiche Familien in einem ganz anderen Sinne wirklich reich sind, doch sollten sie darunter nicht leiden müssen. Hier ist die Politik auf allen Ebenen - über Sonntagsreden hinaus - gefordert, und wir sind es, die das den Politikern vermitteln müssen.

Nehmen wir unsere kleine biblische Pubertätsgeschichte: Maria und Joseph können ja nicht wissen, was Jesus tut, und Jesus überfordert seine Eltern, in dem er etwas voraussetzt, was nun einmal nicht vorauszusetzen ist. Wie alle Kinder, sucht sich Jesus in diesem Alter seinen eigenen Weg ins Leben. Das, was bisher selbstverständlich war, ist es nicht mehr, weder für ihn, noch für seine Eltern. Erst durch dieses Suchen wird er sich seiner Berufung bewußt und in seinem Gott auch den Vater finden, dem er folgen möchte, dessen Wort und Geist für ihn verbindlich sein soll. Das aber bedeutet für die ganze Familie Jesu eine Erfahrungeskrise, die uns hier so offen und ehrlich geschildert ist. Nichts ist mehr, wie zuvor in der Kindheit. Aber trotz allem, was uns hier an Verwunderung, Entsetzen und Unverständnis überliefert wird, die Familie setzt sich auseinander: Jesus folgt seinen Eltern im doppelten Sinn des Wortes, und sie denken über diese Erfahrung weiter nach. So wird er reif "und nimmt zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen." Das bedeutet, dass zuallererst wir Eltern gefragt sind:

Konkret: Wie nehmen wir die Pubertätspickel unserer Tochter ernst, die darunter leidet, den Wusch nach der Pille, oder wie reagieren wir auf das heimliche Rauchen unserer Söhne? Können wir denn von unseren Kindern etwas anderes oder gar mehr erwarten oder verlangen, als wir es in unserer Kindheit und Jugend einbringen konnten oder wollten?

In einer repräsentativen Umfrage hier im Landkreis unter Jugendlichen stellten diese auf die Frage nach der Kirche fest: "Das sind echt zwei verschiedene Welten ..." (BZ, 25.04.1998) Einerseits hinterfragt eine solche Aussage unser kirchliches Tun, andererseits haben die Jugendlichen damit genau den Punkt getroffen: Kirche muß nämlich anders sein, sie muß sich von anderen gesellschaftlichen Gruppen, Organisationen, Vereinen oder Parteien unterscheiden, sonst wäre sie nicht mehr Kirche, die sichtbare Familie Gottes in der Welt. Aber wer soll das unseren Kindern und Jugendlichen sagen und vor allem vorleben, wenn nicht Eltern und Paten, die es aber immer weniger tun? Unser Glaube hinterfragt und relativiert daher notwendigerweise unsere Maßstäbe, unseren Egoismus, unsere Glaubwürdigkeit in Bezug auf Partnerschaft, Ehe und Familie, auch hinsichtlich unseres Lebens und Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. In der Nachfolge Jesu kommt es auf diesen anderen Geist an, den wir als Christen in die Welt hinein zu tragen haben.

Der Religions-, Kommunions-, Firm- oder Konfirmandenunterricht kann unseren Kindern und Jugendlichen nur eine Hilfestellung sein. Oft kommen wir in unseren Gemeinden damit schon gar nicht mehr an sie heran, weil in den Elternhäusern, in den Familien zu wenig bedacht wird, was auf dem Spiel steht. Dabei geht es um mehr als um eine Konfession, auch um mehr als um einen konfessionellen Egoismus.

Es geht darum, ein Stück Urvertrauen in einer Welt, die immer diffiziler wird, zu vermitteln - und so stehen Kirchen und Eltern in einer gemeinsamen Verantwortung. Wir brauchen die Familie als einen Ort der Erfahrung von Solidarität, Fürsorge, Vertrauen, Intimität, Toleranz, Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit, als einen Ort, an dem es Konflikte gehen darf, ohne dass mir die Liebe aufgekündigt wird. Hier erfahren wir Orientierung und Halt, das gegenseitige Rücksichtnehmen und verständnisvolle Achthaben aufeinander. Nirgendwo sonst kann ich so ungeschminkt leben und mich geben, wie gerade in meiner Familie.

Vor wenigen Tagen besuchte ich in Waldkirch die Firma Sick. Es war auffallend, wie Mitarbeiterkinder in den Betrieb ihrer Eltern einbezogen werden, mit welch einer Aufmerksamkeit man die Aus- und Weiterbildung im Betrieb verfolgt und welch ein Wert auf neue Arbeitsformen, wie z. B. die soziale Kompetenz, gelegt wird. Kinder und Jugendliche erfahren so begreifbar und vorbildlich die Arbeitswelt der Eltern. Die Eltern selbst empfinden `ihren’ Betrieb und `ihre’ Arbeit weit weniger belastend, als dies im Berufsleben oft der Fall ist - was sich dann natürlich auch auf das Miteinander in der Familie auswirkt. Mit Geist und Phantasie ist es also durchaus möglich, selbst die Arbeitswelt so zu gestalten, dass Menschen sich dort wohl fühlen können - und dabei dennoch gute Umsätze zu machen.

Das ist es, was dann auch in unsere Gesellschaft hinein ausstrahlt. Wir alle sind in unseren Familien, den Schulen, den Unternehmen, den gesellschaftlichen Gruppen dafür verantwortlich gemacht, was unseren Kindern vorgelebt und an Sinn oder Unsinn, an Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit, an Menschenfreundlichkeit oder Menschenverachtung vermittelt wird. Wir sind gefragt, und wir können angesichts unserer eigenen Kinder nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen, die verantwortlicher wären, als wir selbst.

Auch unsere Kinder werden uns - wie Jesus - immer wieder einmal verwundern, vielleicht werden wir sogar entsetzt sein und unsere Kinder so wenig verstehen, wie Maria und Joseph ihren Sohn. Doch wie sie können wir unsere Kinder begleiten, ihnen Vater und Mutter, FreundIn, LehrerIn, Schul- oder ArbeitskollegeIn sein, auf die man sich verlassen kann.

Die Geschichte vom 12-jährigen Jesus im Tempel wird nicht weiter erzählt, aber wir wissen, dass Maria ihrem Sohn folgt, ihm treu bleibt, bis unter das Kreuz. Diese Familie weiß sich vom Geist Gottes begleitet und getragen, auch in den schwierigen Phasen und Situationen ihres gemeinsamen Lebens. Das ist es, was wir als Eltern und wo immer es möglich ist, ebenso als Verantwortliche in Staat und Gesellschaft unseren Kindern schulden und zu vermitteln haben: Den guten Geist unseres Gottes, der uns begleitet und schützt, der uns Perspektiven der Hoffnung schenkt, über den Tag und eine bestimmte Lebenssituation und -erfahrung hinaus.

Gott selbst gibt uns dafür ein Beispiel, denn dieser väterlich-mütterliche Gott hat auch von uns noch niemanden fallen lassen, trotz dessen, dass wir ja - wie alle Menschen - ein Leben lang unseren eigenen, ganz persönlichen Weg ins Leben suchen. Gott schenke unseren Kindern, dass sie geistvoll ihren Weg finden. Segen und Glück begleite uns alle in unseren Familien.
Amen.

Letzte Änderung: 05.01.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider