Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

11. Sonntag nach Trinitatis, 26.9.2001

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Wenn wir heute irgendwo, sogar im Gottesdienst über Schuld und Versagen, ja über Sünde zu reden haben, dann wird einerseits immer weniger verstanden, worum es da überhaupt geht, andererseits neigen wir dazu, diese Wirklichkeit aus unserem Leben auszublenden, sie zu bagatellisieren. Mit guten Erklärungen wird selbst die Schuld zur menschlichen Normalität, die Sünde als solche gar nicht mehr wahrgenommen. Doch gerade dadurch verlieren wir das Gespür für die Sonnen- wie die Schattenseiten des Lebens, das Leben wird grau in grau. Gott schenke es uns, dass wir von seinem Wort so in unser Leben hinein begleitet werden, dass wir unterscheiden und dadurch auch zu akzeptieren lernen, wo Schuld uns voneinander trennt und glückendes Leben behindert. Nur wo das geschieht, ist letztendlich Versöhnung möglich.

Gott selbst ist es, der durch uns die Menschen ruft. So bitten wir im Auftrag von Christus: »Bleibt nicht Gottes Gegner! Nehmt die Versöhnung an, die Gott euch anbietet!« (2. Kor. 5, 20)

Gebet:

Herr, guter Gott! Wir danken dir für dein Wort, dass es unser Leben begleitet, ihm eine Richtung gibt. Dir legen wir unsere kleine Welt ans Herz, die Welt, die wir kennen, an der wir leiden, die wir lieben. Dir legen wir aber auch die große Welt ans Herz, von der wir aus der Zeitung und den Nachrichten hören.

Bewahre uns Gott durch deinen guten Geist, dass wir fähig werden, unsere dunklen Seiten zu sehen und sie als solche anzunehmen, damit wir uns in kleinen Schritten ändern können und Versöhnung möglich wird zwischen Dir, Gott und unseren Mitmenschen.

Herr, wir wissen, wie schwer es ist, Vorurteile abzubauen, Ungerechtigkeit in Recht zu verwandeln, Herzlosigkeit in Herzlichkeit, Lieblosigkeit in Liebe. Lass es gelingen - in kleinen Schritten vielleicht, aber schenke uns den Mut zum ersten Schritt. Hab Dank für alles, was uns an zwischenmenschlichen Beziehungen geschenkt ist: an Liebe, Empfindsamkeit, Zärtlichkeit, Erotik, Sexualität und lass uns mit ihnen als Gaben deiner Menschenfreundlichkeit verantwortlich umgehen.

Herr, wir beten für alle Menschen, die uns Mühe machen, für all jene, denen wir uns verbunden wissen. Segne und behüte alle aus unserer Gemeinde, die noch unterwegs und in den Ferien sind und lass sie gesund und gut erholt in unsere Mitte heimkehren. Amen.

Text:

Ein Pharisäer hatte Jesus zum Essen eingeladen. Jesus ging in sein Haus und legte sich zu Tisch. In derselben Stadt lebte eine Frau, die als Prostituierte bekannt war. Als sie hörte, dass Jesus bei dem Pharisäer eingeladen war, kam sie mit einem Fläschchen voll kostbarem Salböl. Weinend trat sie an das Fußende des Polsters, auf dem Jesus lag, und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Mit ihren Haaren trocknete sie ihm die Füße ab, bedeckte sie mit Küssen und salbte sie mit dem Öl. Als der Pharisäer, der Jesus eingeladen hatte, das sah, sagte er sich: »Wenn dieser Mann wirklich ein Prophet wäre, wüsste er, was für eine das ist, von der er sich da anfassen lässt! Er müsste wissen, dass sie eine Hure ist.«

Da sprach Jesus ihn an: »Simon, ich muss dir etwas sagen!« Simon sagte: »Lehrer, bitte sprich!« Jesus begann: »Zwei Männer hatten Schulden bei einem Geldverleiher, der eine schuldete ihm fünfhundert Silberstücke, der andere fünfzig. Weil keiner von ihnen zahlen konnte, erließ er beiden ihre Schulden. Welcher von ihnen wird wohl dankbarer sein?« Simon antwortete: »Ich nehme an: Der, der ihm mehr geschuldet hat. »Du hast recht«, sagte Jesus.

Dann wies er auf die Frau und sagte zu Simon: »Sieh diese Frau an! Ich kam in dein Haus, und du hast mir kein Wasser für die Füße gereicht; sie aber hat mir die Füße mit Tränen gewaschen und mit ihren Haaren abgetrocknet. Du gabst mir keinen Kuss zur Begrüßung, sie aber hat nicht aufgehört, mir die Füße zu küssen, seit ich hier bin. Du hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt, sie aber hat mir die Füße mit kostbarem Öl eingerieben. Darum sage ich dir: Ihre große Schuld ist ihr vergeben worden. Eben deshalb hat sie mir soviel Liebe erwiesen. Wem wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.« Dann sagte Jesus zu der Frau: »Deine Schuld ist dir vergeben!« Die anderen Gäste fragten einander: »Was ist das für ein Mensch, dass er sogar Sünden vergibt?« Jesus aber sagte zu der Frau: »Dein Vertrauen hat dich gerettet. Geh in Frieden!«

Lukas 7, 36-50


Liebe Gemeinde!

Stellen wir uns die Situation doch einmal vor: ein stadtbekanntes Gemeindeglied, ein ehrbarer Kirchengemeinderat, Ihr Pfarrer würde in Gegenwart anderer von einer ebenfalls stadtbekannten Hure zärtlichst in den Arm genommen, geküsst, gestreichelt? Was würden wir uns in unserer Phantasie ausmalen, wie reagieren? Kaum jemand von uns vergleicht sich gern mit dem Pharisäer, obgleich wir ihm alle am ähnlichsten sind; kaum jemand mit der Prostituierten, weil das ja einem Skandal gleich käme.

Sind wir denn als Glieder unserer gut bürgerlichen "Mittelstandskirche" nicht diesem Gerechten aus dem biblischen Wort sehr ähnlich geworden. Wir alle wissen doch, was sich gehört, wir gehen in die Kirche, wir leben anständig und nicht wie - die - da, wir zahlen kräftig für unsere Kirche und spenden gelegentlich. Wir erschlagen niemanden (und wenn dann nur mit Worten), wir betrügen nicht (und wenn dann nur die Steuer), wir lügen nicht (und wenn, dann ist es nur eine Notlüge), wir reden nicht hinter anderen Leuten her (und wenn dann natürlich nur zu ihrem Besten). Nein, bei genauem Hinsehen sind wir eigentlich ganz in Ordnung - und darum würde uns Jesus ebenso anreden, wie diesen Pharisäer damals.

Warum verfolgen sie eigentlich Jesus mit ihren Nachforschungen, warum belauern sie ihn auf Schritt und Tritt, warum stellen sie ihn auf den Prüfstand ihrer Frömmigkeit, so wie es der Pharisäer in unserer Geschichte tut: weil sie ihren Gott, den Gott ihrer Väter und Mütter im Glauben lieben, wirklich lieben. Diese Liebe macht sie so besorgt um die reine Lehre, sie glauben buchstabengetreu und daher engherzig. So stellen sie Jesus, fordern Rechenschaft, weil er ihnen einen Gott vor Augen stellt, den sie so nicht kennen. Das irritiert, verunsichert sie - und das ist es, was uns ihnen als vermeintlich rechtschaffende Christen heute oftmals so ähnlich sein lässt.

Wie schnell wird einem Pfarrer nachgesagt, dass er auf einem Auge blind sei, wenn man einen Gedanken, vielleicht ein Beispiel in einer Predigt hört, den man selbst so nicht gewohnt ist, ohne jedoch darüber nachzudenken, wie es um die eigene Sichtweise steht? Wie schnell grenzen wir uns in unserer Anständigkeit ab, ohne oft zu erkennen, dass wir unsere eigenen moralischen Vorstellungen auf das biblische Wort, den Glauben schlechthin übertragen? Wie schwer fällt es uns in unserem Leben, dem Geist der Liebe Jesu nachzuleben. Gerade sie wäre aber eine Liebe, die diesen Namen verdienen würde: offen, voller Vertrauen, trennende Grenzen sprengend, hoffnungsvoll, Nähe vermittelnd, mit empfindsamer Zuwendung und wo nötig, auch mit uneigennütziger Vergebung.

Jesus wird in das Haus eines Pharisäers eingeladen. Eine stadtbekannte Hure kommt weinend zu Jesus, küsst und salbt ihn mit kostbarsten Essenzen. Der Pharisäer, rechtschaffend und ordentlich, ist entsetzt. Das gute Geld, das diese Frau an seinen Gast verschwendet, könnte besser investiert sein, vielleicht sogar in ein gutes Werk. Und dieser Jesus merkt nicht einmal, was für einer Person er dort aufsitzt. Stellt das denn nicht alles in Frage, was man von ihm gehört und erlebt hat, was man aus der Schrift über Unordnung, Sünde und Schuld weiß? Das alles müsste er doch wissen, wenn er wirklich dieser Prophet wäre, für den die Leute ihn ausgeben.

Jesus, und das macht diese Geschichte so spannend, stellt sich beiden, dem gesetzestreuen, frommen Pharisäer, wie dieser Frau mit ihrem zweifelhaften Ruf. Er benennt die Schuld der Prostituierten so, wie er den Pharisäer als einen Gerechten erkennt. Sein Beispiel zeigt, dass nicht jedem Menschen gleich viel vergeben werden muss, es durchaus keine Gleichmacherei gibt, wir alle aber in unserem Leben auf Vergebung angewiesen bleiben. Jeder Mensch ist und bleibt ein Schuldner zunächst einmal Gott, dann aber seiner Umwelt gegenüber.

Vergebung? Was fangen wir damit an, wo es doch so unendlich schwer fällt, sich überhaupt darauf angewiesen zu sehen. Wer von uns fühlt sich denn schon so verkehrt in seinem Verhalten anderen gegenüber, dass er sich sein Versagen vergeben lassen muss? Wer von uns könnte schon Vergebung annehmen, die ja deutlich machte, dass etwas im Leben falsch gelaufen ist? Umgekehrt: Wer von uns vergibt schon gern bedingungslos, damit also über seinen eigenen Schatten springen, dennoch und trotz allem, wo ein anderer an uns fehlte, schuldig wurde?

Würden wir versöhnter leben, hätten viele Rechtsanwälte in Deutschland keine Arbeit, denn dann fehlten die Streitfälle, die man früher sehr schnell geklärt hätte: Nachbarschaftskonflikte, Ehekonflikte, Erbangelegenheiten in der Familie. Diese Beispiele zeigen, wie schwer es ist: Vergebung zu gewähren oder anzunehmen. "Denn Vergebung bedeutet Versöhnung trotz Entfremdung, bedeutet Wiedervereinigung dessen, was durch Feindschaft getrennt ist, bedeutet Annahme derer, die unannehmbar sind, bedeutet Aufnahme der Abgelehnten ... [1] Was für eine Kraft, eine Überwindung, letztendlich wohl auch für eine Liebe gehört dazu - das lehrt das Beispiel Jesu - und gerade an ihr ermangelt es uns heute so vielfach.

Aber um Vergebung zu wissen, setzt voraus, dass man auch darum weiß, was denn nun eigentlich Schuld und Sünde ist? Viel zu oft beschönigen, verniedlichen wir das, was uns schuldig macht. "Wenn das Alte Testament an die Spitze aller seiner Geschichten die Geschichte Adams setzt, dann will es damit sagen, dass die Weltgeschichte mit der Sünde Adams begann. Sie begann nicht mit einer Idee vom sündigen Menschen, sondern mit dem sündigen Menschen selbst ... Er ist ganz trivial, was wir sind: ein Mensch der Sünde." [2] "Der Sündenfall ist nicht das Ereignis irgendeiner Vorzeit, dessen Auswirkungen der Mensch via `Erbsünde’ zu spüren bekommt. Er ist ein Ereignis, das jedem Menschen - wie schon Adam - selbst widerfährt ..." [3]

Schnell finden wir heute Ent-schuldigungen für menschliches Versagen und Fehlverhalten: da werden psychologische und soziologische Gründe dafür angeführt, warum jemand zum Täter wird. Das hat auch alles sein wirklich gutes Recht, denn niemand von uns lebt isoliert und ohne seine Wurzeln, die ihn prägen - und dennoch muss Schuld in der zwischenmenschlichen Beziehung als Schuld erkannt und benannt werden, weil sie sonst nicht ernst genommen wäre. Diese Schuld aber hat einen Grund, und der ist biblisch damit beschrieben, dass der Mensch, Adam, sein will wie Gott: "Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen, zeigt dem Menschen, wozu er Nein zu sagen hat ... Gott warnt den Menschen vor dem Nichtigen. Er fordert ihn auf, seine Freiheit als Ja zu Gott und Nein zum Nichtigen zu bewähren ... [4] Gerade hier aber versagt der Mensch. Hier hat er längst seine ursprüngliche Unschuld verloren. Schuldig werden wir in unseren Beziehungen zum Anderen, zum Sünder in unserem Verhältnis zu Gott.

Im Dienst der Prostituierten wird die doppelte Moral sichtbar, tagsüber treten die Liebhaber als Biedermänner auf, nachts brechen sie ihre Ehe. Daran werden alle mitschuldig, die diesen Handel eingehen. Jesus lässt sich den Dienst dieser Frau in aller Öffentlichkeit gefallen, der den Pharisäer an den Rand einer Ohnmacht treibt. Hier erleben wir Jesus also nicht nur als einen Menschen, sondern eben auch als einen Mann,der daher ganz sicher auch so gedacht und gefühlt, der empfunden hat, was ihm mit der Gabe dieser Frau durchaus absichtsvoll geschenkt wird.

Da der Stand einer Prostituierten damals ein anderer war, als heute, ist es durchaus sinnvoll, wenn Prostituierte nun rechtlich abgesichert werden, sozial-, renten- und krankenversichert sind. Ihre Arbeit gehört zum gesellschaftlichen Dienstleistungssektor, den jemand für sich in Anspruch nehmen kann, aber nicht muss. Es besteht für beide Seiten die Freiheit zum Ja und zum Nein in Angebot und Nachfrage.

Was im Judentum wie im Christentum längst auf der Strecke geblieben ist, ist ein unbefangener Umgang mit einer ganz natürlichen, menschlichen Erotik. Wenn wir uns das alttestamentliche Hohelied anschauen, so gibt es dafür keine Rechtfertigung. Denn Gott hat uns Menschen zweigeschlechtlich gewollt und damit sein Ja zur Geschlechtlichkeit des Menschen, zu seiner Sexualität zum Ausdruck gebracht. Es gibt also keinen Grund dafür, das, was Gott selbst als gut befunden hat, unsererseits mit einem moralischen Makel belegen zu wollen. Augenscheinlich konnte Jesus selbst damit eindeutig und unbeirrbar in seinem Verhalten, seiner Zuwendung dieser Frau gegenüber umgehen. Dabei gehen wir heute davon aus, dass im Gefolge Jesu mehr Frauen als Männer anzutreffen waren, ohne dass man ihm dadurch - wie oft versucht -eine Liebschaft andichten könnte. Das widerspräche ja völlig dem Selbstverständnis Jesu. Hier zeigt sich also, dass es auf den Blick ankommt, mit dem wir einander begegnen, bis hinein in Fragen unserer Sexualität.

Der Pharisäer macht sich schuldig, weil er es an jeder Höflichkeit, die man als Gast erwarten darf, ermangeln lässt. Er ist in jeder Weise lieblos, was die Frau gerade nicht ist. Seine Gerechtigkeit ist hart und unerbittlich, weil er sich seines Glaubens allzu sicher ist. Nichts steht ihm in Frage, nicht einmal, dass er selbst vor Gott auf Vergebung angewiesen bleibt - und wie wir es hier sehen, auch auf die, von anderen Menschen.

In dem Tun beider wird das Dunkle, Nichtige deutlich, dem sie verbunden sind und damit das Nein ihres Glaubens an Gott. Doch Jesus sieht die Frau, die ihm uneingeladen folgt, ganz anders. Er nimmt das Geschenk, ja dieses durchaus erotische Geschenk ihrer Liebe an und schenkt ihr mit dem Zuspruch seiner Vergebung einen neuen Sinn für ihr Leben. Hier ist einer, der den Menschen mit anderen Augen anschaut, Grenzen überschreitet, Vorurteile nicht gelten lässt und so Perspektiven der Hoffnung, also Lebensmöglichkeiten eröffnet.

Eugen Drewermann beendet seine kleine Predigt zu unserem Text mit den Worten: Wenn irgend Dankbarkeit und Güte nicht demütigt, sondern wachsen lässt, Zärtlichkeit nicht beschmutzt, sondern reinigt, Frömmigkeit nicht mehr verurteilt, sondern einbezieht und leben lässt, sind wir Gott, wie Christus ihn uns leben wollte, ganz nahe. Uns allen vergebe Gott, was uns trennt von ihm, und mache uns miteinander zu Schwestern und Brüdern. [5]
Amen.


Literatur:

  1. Tillich, P., Das Neue Sein, Religiöse Reden, 2. Folge, Stuttgart 1959, S. 17
  2. Krötke, W., Sünde und Nichtiges bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn, 19832, S. 76
  3. Krötke, W., a.a.O., S. 66
  4. Krötke, W., a.a.O., S. 67
  5. Drewermann, E., Zwischen Staub und Sternen,
    Predigten im Jahreskreis, Düsseldorf, 1991, S. 78

    außerdem:

    • Evang. Studentengemeinde Tübingen, Lukaspredigt, Hoffnung für die Armen,
      Stuttgart 1977, S. 21ff (Predigt von Norbert Greinacher)
    • Conrad, W., in Calwer Predigthilfen, 2000/2001, Reihe V/2, Stuttgart 2001, S. 121f
Im Gespräch mit Anngret Blum, Kenzingen

Letzte Änderung: 29.08.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider