Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

11. Sonntag nach Trinitaris, 31.8.2003
Lukas 18, 9-14

Begrüßung:

Gott,
Ich freue mich,
denn ich lebe.

Gott,
du allein schenkst Leben
du allein befreist zum Leben.

Gott,
lass mich erkennen, wer und wie ich bin
und wozu ich lebe.

Die Starken sind nichts vor dir, Gott,
die Mächtigen der Welt enden im Staub.

Den Hungrigen sättigst du, Gott,
der Traurige ist nicht länger allein.

Du, Gott, tötest und machst lebendig,
du allein führst hinab zu den Toten und wieder herauf.

Gott,
dich wollen wir loben,
dich allein preisen mit unserem Leben,

das wir empfangen aus deiner Hand, heute und an jedem Tag.
(nach 1. Samuel 2, 1-10)

Gebet:

Herr, guter Gott! Immer wieder teilen wir unsere Mitmenschen in Gruppen ein: Die Alten und die Jungen, die Reichen und die Armen, die Gewinner und Verlierer, die Gottlosen und die scheinbar Frommen, die Guten und die Bösen, alle, die der Norm passen und alle die dort herausfallen - bei Normen, die wir selbst uns gemacht haben. Wir urteilen über andere, messen, wägen ab. Dabei kommen wir immer gut weg, denn die Bösen, die Heuchler, die Ausbeuter, das sind immer die anderen.

Darum wollen wir auf Gottes Wort hören, um Gott zu hören und darum zu einem Glauben zu finden, der uns zueinander führt, der uns ehrlich macht in Bezug auf uns und auf andere Menschen. Denn wer und wie bin ich selbst?
Amen.

Predigttext:

Dann wandte sich Jesus einigen Leuten zu, die voller Selbstvertrauen meinten, in Gottes Augen untadelig dazustehen und deshalb für alle anderen nur Verachtung übrig hatten. Er erzählte ihnen folgende Geschichte:

"Zwei Männer gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, ein Pharisäer und ein Zolleinnehmer. Der Pharisäer stellte sich vorne hin und betete leise bei sich: `Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen, alle diese Räuber, Betrüger und Ehebrecher, oder auch wie dieser Zolleinnehmer hier! Ich faste zwei Tage in der Woche und gebe dir den vorgeschriebenen Zehnten sogar noch von dem, was ich bei anderen einkaufe!´

Der Zolleinnehmer aber stand ganz hinten und getraute sich nicht einmal zum Himmel aufzublicken. Er schlug sich zerknirscht an die Brust und sagte: `Gott, hab Erbarmen mit mir, ich bin ein sündiger Mensch!´" Jesus schloss: "Ich sage euch, der Zolleinnehmer ging aus dem Tempel in sein Haus hinunter als einer, den Gott für gerecht erklärt hatte - ganz im Unterschied zu dem Pharisäer. Denn wenn ihr euch selbst groß macht, wird Gott euch demütigen. Und wenn ihr euch selbst gering achtet, wird Gott euch zu Ehren bringen."


Liebe Gemeinde!

Zwei Menschen, zwei unterschiedliche Verhaltensweisen. Menschen unterscheiden sich, sie sind anders, Gott sei Dank, denn wie langweilig wäre sonst die Welt. Wer aber sind wir, wen sehen wir und wie sehen wir uns selbst, wenn wir uns einmal wirklich genau anschauen? Reicht ein Spiegel, um uns zu erkennen? Wir sehen morgens beim Aufstehen die Bartstoppeln, das ungekämmte Haar, noch müde, verschlafene Augen. Fast sehen wir uns manchmal ein wenig fremd an, vor allem, wenn die Nacht mit der Familie oder Freunden einmal ein wenig lang war.

Was ist das für ein Gesicht, das mich da ansieht und das so unmittelbar, unlöslich zu mir gehört? Was fällt auf, was zieht mich oder auch andere an oder stößt ab? Ich sehe traurige oder fröhliche Augen, Lachfalten oder dunkle Ringe unter den Augen. Da steht ein Mensch vor mir, dem man ansehen kann, ob er glücklich oder unglücklich ist, fröhlich oder verhärmt. Ich sehe mich - äußerlich (!), aber habe ich mich damit auch wirklich gesehen, - erkannt, wer ich für mich und für andere Menschen bin? Nein, ich denke, das, was wir da im Gegenüber sehen, ist nicht so wichtig, wir sind es - unzweifelhaft - aber das ist eben doch nicht das, was uns in unserer ganzen Existenz ausmacht, das, was andere an uns lieben oder auch stört.

Aber, wollen wir uns denn überhaupt nicht nur äußerlich sehen, sondern auch wirklich kennen? Ist es denn nicht viel einfacher, lieber etwas mehr auf die anderen Menschen zu schauen, als auf uns selbst? Das erspart uns die Auseinandersetzung mit uns und lässt uns dafür lieber gleich kritischer mit all jenen umgehen, die uns, wo immer im Leben, begegnen.

Die Beispielgeschichte Jesu ist kurz und knapp erzählt: "Zwei Männer gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, ein Pharisäer und ein Zolleinnehmer..." Immerhin, sie machen sich auf den Weg, um Gott an dem Ort die Ehre zu geben, an dem Israel seine ganz besondere Gegenwart glaubt. Wir haben es letztlich gehört: Orte haben ihre Bedeutung, denn der Tempel ist nicht irgendein Haus. Jerusalem und der Tempel wurden auf dem langen Weg der Geschichte Israels zum Symbol der Nähe Gottes, für fromme Juden bis auf den heutigen Tag. Hier, im "Haus des Gebets" stehen sich Gott und Mensch unmittelbar gegenüber.

Wegen dieser engen Verknüpfung vom "Tempel" als "Haus des Gebets" konnte nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, das Bethaus den Tempel ersetzen. Immer existentieller verstand man, dass Gott sich nicht allein an Orte binden lässt, wenngleich wir sie dennoch brauchen. So ist eine Kirche eben nicht unser privates Wohn- oder Schlafzimmer, sondern der Ort an dem sich die Gemeinde, die ganze Kirche weltweit trifft, um Gott die Ehre zu geben, die nur ihm allein zukommt, um miteinander auf Gottes Wort zu hören und Eucharistie zu feiern, kurz um als ganze Kirche vor Gott zu stehen - mit unserer Trauer oder Freude, mit unseren Erwartungen oder unserer Dankbarkeit, mit all unserem Zweifel und unserem kleinen Glauben - eben so, wie wir - und wer wir für Gott oder andere Menschen sind.

Zwei Männer gehen zum Tempel hinauf: Ein Pharisäer und ein Zolleinnehmer. Männer werden hier von Jesus über ihre Lebenshaltung und ihren Beruf vorgestellt.
Die Pharisäer kennen wir heute ja vor allem als Heuchler, die anderen gern etwas vormachen, denen es um ihre eigene Selbstdarstellung vor Gott und vor den Menschen geht. Doch so einfach ist das nicht. Die Pharisäer waren Menschen, die sich in ganz tiefer, ernstzunehmender Weise um ihren Glauben bemühten. Ihnen ging es bis ins kleinste Detail um die Heiligung ihres Lebensalltags, so dass sie fast ausschließlich unter sich lebten und möglichst wenig Kontakt mit anderen hatten. Noch heute gibt es in Jerusalem einen Stadtteil, in dem solche Menschen wohnen: Mea-She´arim, ein Bollwerk jüdischer Orthodoxie.

Der Pharisäer stellt sich vorne hin und betet leise: "Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen, alle diese Räuber, Betrüger und Ehebrecher, oder auch wie dieser Zolleinnehmer hier! Ich faste zwei Tage in der Woche und gebe dir den vorgeschriebenen Zehnten sogar noch von dem, was ich bei anderen einkaufe!" Er dankt für ein Leben, das frei ist vom Konflikt mit den Gesetzen, und tut freiwillig weit mehr, als von ihm verlangt wird. Durch sein Fasten und Opfer stellt sich dieser Mensch ganz auf seinen Gott ein, so wie er es in der Schrift gehört und gelernt hat: "Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott!" (3. Mose 19,2). Danach zu leben ist ihm keine Last, sondern das Fundament seines Glaubens, seines Lebens.

Da steht nun ein zweiter Mann, der Zöllner. Es ist nicht ganz klar, was deren Aufgabe war, ob sie zur lohnabhängigen Unterschicht gehörten oder Kleinunternehmer waren, die Steuern für die Römer eintrieben? In jedem Fall hatten sie Umgang mit Heiden und galten daher als "unrein". Sie wurden Dieben und Räubern gleichgesetzt. Dieser Mann geht ebenfalls hinauf zum Tempel, aber er stellt sich ganz woanders hin als der Pharisäer, nämlich weit weg von ihm und den anderen Frommen. Er schlägt sich auf die Brust, ein Ausdruck seiner Reue, und er bekennt sich Gott gegenüber schuldig, was seiner Geste entspricht. Er betet: "Gott, hab Erbarmen mit mir, ich bin ein sündiger Mensch!" Keine Rechtfertigung für sein Leben, keine billige Entschuldigung, keine Ausrede, dass die Verhältnisse nun einmal so sind, wie sie sind. Er bekennt sich schuldig und bittet um Gottes Erbarmen. Das heißt, dass er sich seinem Gott, dem er mit seinem Leben ganz und gar nicht gefallen kann, ausliefert.

Zwei Menschen, beide gehen hinauf zum Tempel, um zu beten, doch beide sind in ihrem ganzen Wesen und Leben völlig unterschiedlich, unterschiedlicher kann man sie sich fast gar nicht vorstellen. Doch Jesus will uns ja nicht einfach eine Geschichte von zwei unterschiedlichen Männern erzählen. Mit seinen Beispielgeschichten stellt er seinen Hörern und uns "Modelle und Musterfälle" [1] für unser Leben vor Augen. Und damit stehen wir nun vor unserem eigenen Leben und sind danach gefragt: Wer wir eigentlich sind, und wie wir in Bezug auf unseren Glauben, auf Gott und daher auch inmitten anderer Menschen und der Welt leben?

Schnell sind wir mit dem Pharisäer fertig und wohl ebenso schnell mit dem Kleingauner der Geschichte. Mit keinem von beiden wollen wir letztlich identifiziert werden, auch wenn wir für den einen oder anderen mehr oder weniger Sympathien haben. Wir bilden uns eine Meinung über sie, urteilen, und urteilen damit sogleich auch über uns. Denn uns fehlt die tiefe Frömmigkeit des Pharisäers, die uns und unserer Welt in ihrer Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit Gott Not täte und positiv gewendet, unserem Leben einen ganz anderen existentiellen Sinn und Tiefe schenken würde.
Wir aber machen uns selbst zum Maßstab der Welt und wundern uns dann, wenn uns die wirklich tragfähigen Maßstäbe für unser Leben und Zusammenleben mit anderen abhanden gekommen sind.

Uns fehlt aber auch die selbstkritische Ehrlichkeit dieses Zöllners aus der Geschichte Jesu. Nie kämen wir auf die Idee, uns so ehrlich vor Gott hinzustellen und unsere Schatten und Grenzen zu bekennen. Dazu müssten wir ja zunächst einmal bereit sein, uns unserem Leben mit seinen Möglichkeiten und Grenzen, aber eben auch in seinem Gelingen und Misslingen, wirklich zu stellen. Wir müssten bereit sein, uns für die Frage zu öffnen, wie es um unseren kleinen Glauben und großen Unglauben steht, der die Ehrfurcht vor Gott schlicht und einfach fehlt, und weil das so ist, deshalb fehlen wir auch so oft in unserem Zusammenleben mit anderen. Wir verwechseln Glaube mit Humanismus, so weit er uns selbst nur wenig kostet.

Jesus verband mit dem privaten und dem öffentlichen Gebet im Gottesdienst Juden und Christen, denn beten konnte man immer und überall auf der Welt. Gerade am Beispiel des Gebetes, das den Tempel überlebte und von Jesus in den christlichen Glauben hinein getragen wurde, wird deutlich, wie es um unseren Glauben steht. Der katholische Theologe Hans Küng fasst einmal sehr nachdrücklich zusammen, was eigentlich das Besondere des Christentums ist - und nur und allein darum kann es gehen, wenn wir uns im Licht unseres Glaubens, und damit im Gegenüber zu Gott und der Welt sehen. Er sagt:

"Christlich ist nicht alles, was gut wahr, schön und menschlich ist. Wahrheit, Gutheit, Schönheit und Menschlichkeit gibt es auch außerhalb des Christentums. Christlich ist alles, was in Theorie und Praxis einen wirklich positiven Bezug zu Jesus Christus hat. - Christ ist nicht jeder Mensch echter Überzeugung, ehrlichen Glaubens und guten Willens. Echte Überzeugung, ehrlichen Glauben und guten Willen gibt es auch außerhalb des Christentums, Christen sind diejenigen, für die Jesus Christus letztendlich ausschlaggebend ist. - Christliche Kirche ist nicht jede Meditations- oder Aktionsgruppe, nicht jede Gemeinschaft engagierter Menschen, die sich zu ihrem Heil um ein anständiges Leben bemühen. Engagement, Aktion, Meditation, anständiges Leben und Heil kann es auch in anderen Gruppen außerhalb der Kirche geben. Christliche Kirche ist jede größere oder kleinere Gemeinde von Menschen, für die Christus letztendlich entscheidend ist. - Christentum ist nicht überall dort, wo man Unmenschlichkeit bekämpft und Humanität verwirklicht. Unmenschlichkeit bekämpft man und Humanität verwirklicht man auch außerhalb des Christentums - unter Juden, Moslems und Budhisten, unter nachchristlichen Humanisten und ausgesprochenen Atheisten. Christentum ist dort, wo die Erinnerung an Jesus Christus in Theorie und Praxis belebt wird..." [2]

Darum geht es! Das Evangelium macht uns Mut, danach zu fragen, wer wir sind und wie wir leben? Zugleich aber sind wir danach gefragt, wie wir heute wieder besser lernen, als Christen zu leben, als Menschen also, die Gott die Ehre geben und ehrlich mit ihren Grenzen, Schuld und Versagen umgehen - ohne diese ständigen, selbstgefälligen Rechtfertigungen in Bezug auf unseren Glauben: "Ich bin doch, so wie ich bin, ganz in Ordnung, die anderen sollen sich erst einmal ändern!". Letztendlich sind wir nicht auf die Meinungen anderer angewiesen, aber eben doch auf die Meinung, die Gott zu uns und unserem Leben hat. So helfe Gott uns Antworten zu uns und unserem Leben zu finden, die ehrlich sind und weiterführen.
Amen.


Literatur:

  1. Behle, E., Calwer Predigthilfen, 1996/1997, Reihe I/2, Stuttgart,1996, S. 117
  2. Küng, H., Christ sein, München, 1974, S. 117
Letzte Änderung: 1.09.2003
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider