Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

9. Sonntag nach Trinitaris, 17.8.2003
Lukas 19,41-48

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Heute am so genannten "Israelsonntag" im Ablauf eines Kirchenjahres, fragen wir durch den Predigttext angeregt einmal danach, wer für uns eigentlich "Jesus" ist von dem wir unser Leben lang so viel gehört haben und hören. Doch was wissen wir eigentlich von ihm als Mensch und als Gott? Gibt es Vorstellungen, die nicht gegen das Bilderverbot Gottes verstoßen? Ganz neu müssen wir Jesus als einen Mitmenschen erkennen, damit er uns in unserem Nachdenken, Empfinden und Glauben zu seinem und unserem Gott begleiten kann. "Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat."
(Psalm 33,12)

Gebet:

Herr, unser Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, wir bekennen dir, dass wir oft ratlos sind, weil wir dich im Alltag unseres Lebens verloren glauben. Wir haben keine Ahnung mehr, wer du bist und wer du für uns sein willst. Uns fehlt der wirklich tiefe Glaube, die ernsthafte Auseinandersetzung mit deinem Wort, die Liebe zum Gottesdienst, der deiner Ehrfurcht dient und zum inneren und äußeren Frieden unter uns Menschen und im Umgang mit der Natur und der Kreatur. Mit deinem Volk Israel sind auch wir gemeint und angesprochen. So können wir dich nur bitten, dass du dich dennoch in der Unruhe unseres Alltags und dem weltweiten Unfrieden, der mit uns beginnt und endet, hören lässt - und uns auf unserem Lebensweg begleitest durch und mit ihm Jesus Christus.
Amen.

Predigttext:

Als Jesus sich der Stadt näherte und sie vor sich liegen sah, weinte er und sagte: "Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt! Aber Gott hat dich blind dafür gemacht. Darum kommt jetzt über dich eine Zeit, da werden deine Feinde einen Wall rings um dich aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten einschließen. Sie werden dich und deine Bewohner völlig vernichten und keinen Stein auf dem andern lassen. Denn du hast den Tag nicht erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte."

Jesus ging in den Tempel und fing an, die Händler hinauszujagen. Dazu sagte er ihnen: "In den Heiligen Schriften steht, dass Gott erklärt hat: `Mein Tempel soll eine Stätte sein, an der die Menschen zu mir beten können!´ Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht!" Jesus lehrte jeden Tag im Tempel. Die führenden Priester, die Gesetzeslehrer und auch die Ältesten des Volkes suchten nach einer Möglichkeit, ihn zu töten; aber sie wussten nicht, wie sie es anfangen sollten. Denn das Volk war dauernd um ihn und wollte sich keines seiner Worte entgehen lassen.


Liebe Gemeinde!

Manchmal ist es ganz wichtig, einem biblischen Text etwas abzuspüren, was eigentlich mehr dem Hintergrund zuzuordnen ist. Heute haben wir ein solches Wort vor uns. Von Kindheit an, werden wir immer wieder einmal mit biblischen Menschen konfrontiert, wir hören von Abraham oder die schönen Josephsgeschichten, die spannenden Erzählungen über den Machtkampf zwischen Mose und dem Pharao in Ägypten. Wir sehen Menschen wie Maria und Joseph, die Jünger und Paulus. Doch wie sehen wir eigentlich Jesus, welche Vorstellung haben wir von ihm, wenn wir seinen Namen hören oder das Vaterunser in unseren Gottesdiensten miteinander beten?

Natürlich wissen wir alle, das wir uns kein Bild von Gott machen dürfen, doch von Jesus begleiten uns ja viele Vorstellungen, die sich von Bildern herleiten. Da sehen wir ein ganz bestimmtes Kruzifix, z.B. das aus der Kirche, in der wir getauft oder konfirmiert wurden, in der wir als erwachsene Menschen unsere Gottesdienste feiern. Wir alle kennen mittelalterliche Bilder Jesu, wie das berühmte von A. Dürer, der Jesus mit langen lockigen Haaren malte. Aus alten Galerien kennen wir die unzähligen Madonnenbilder mit Jesus auf dem Schoß, so wie man sich die Gottesmutter und das Kind eben damals vorstellte. Doch wie sah Jesus aus, was war er für ein Mensch? Wichtig ist dabei nicht so sehr ein mögliches Bild, eine Vorstellung von Jesus zu bekommen, als vielmehr in ihm den menschenfreundlichen, ja menschgewordenen Gott zu erkennen.

Heute am "Israelsonntag" liegt es ja nahe, dass wir uns wieder einmal daran erinnern, dass Jesus ein Mensch war, der in Israel geboren wurde, jüdische Eltern und Vorfahren hatte, auf die gerade Matthäus und Lukas in ihren Stammbäumen hinweisen. Das war für sie ganz wichtig, um deutlich zu machen, dass Gott Mensch wurde. Wir sehen einen ganz konkreten, fassbaren Menschen vor uns, der an einem bestimmten Ort und zu einer datierbaren Zeit auf der Welt lebte und der uns in biblischen, wie außerbiblischen Schriften, von Menschen, die an ihn glaubten, wie aber auch von unzähligen anderen, die gerade das nicht taten, vielfach bezeugt ist.

Jesus wuchs, so wird es uns berichtet, in einem Handwerkerhaushalt auf. Er hatte Eltern und Geschwister. Hier auf dem St. Annenaltar in unserer alten Franziskanerkirche sind Anna und Joachim dargestellt, mit ihrer Tochter Maria. Anna und Joachim, als Großeltern Jesu, sind in der Bibel nicht zu finden, aber schon früh sagte man sich, wenn Jesus eine Mutter hatte, dann hatte ja auch sie Eltern. Man verstand so die menschliche Seite Jesu hervorzuheben und damit auch ernst zu nehmen.

Wie wir es aus jener Zeit wissen, musste er, wie alle Kinder damals, seinem Vater schon früh beruflich zur Seite stehen, und so erlernte er auch den Beruf des Vaters. Er wurde ein Handwerker, ein Techniker, jemand der mit vielen Baustoffen umzugehen wusste. Bald schon lernte er daher schwere Gegenstände zu tragen. Seine Haare waren wie seine Haut ganz sicher dunkel, da er ja täglich der Sonne Israels ausgesetzt war. Durch seinen Beruf müssen wir ihn uns sehr muskulös vorstellen und körperlich nicht sehr groß. Jesus war also auf keinen Fall ein zarter Jüngling mit blondem Haar, der ein Schäflein auf seinen Armen trägt, wie er im 19. Jahrhundert gern dargestellt wurde. Er sprach aramäisch, ein heute nur noch schwer verständlicher hebräischer Dialekt.

Wir haben eben einen Text gehört, in dem uns in zwei aufeinanderfolgenden Abschnitten die Menschlichkeit Jesu vor Augen gestellt wird. "Als Jesus sich der Stadt näherte und sie vor sich liegen sah, weinte er..." und: "Jesus ging in den Tempel und fing an, die Händler hinauszujagen..." Jesus weint und er zeigt Ärger. Beides hängt mit dem eigentlichen Grund unseres Textes zusammen. Natürlich geht es Lukas nicht darum, uns hier den menschlichen Jesus vorzustellen oder ein bestimmtes Bild, für die Menschen, die Jesus nie begegnet sind. Doch da wir einen solchen Text nicht so oft zu hören bekommen, scheint es mir wichtig zu sein, einmal zu bedenken, wen wir denn eigentlich vor uns sehen, wenn wir von Jesus sprechen, einen Menschen oder Gott?

Lange hat man über diese Frage in der jungen Kirche nachgedacht, ja sogar gestritten. Es ging dabei auch um die Frage, ob Jesus so sehr Mensch war, dass er einmal gelacht hat oder mit Geld umgegangen ist? Immerhin wird uns in unserem Text von sehr menschlichen Verhaltensweisen berichtet. Wir kennen andere: Jesus schläft, er feiert Feste, scheint selbst in kritischen Situationen sehr unbesorgt gewesen zu sein. Er macht seinen Glauben öffentlich und zwingt andere geradezu, sich damit auseinander zu setzen. Er geht auf Menschen zu, hilft einigen in ihrem Leiden, doch eben nicht allen. Er setzt sich zum Ärger der Priester, Gesetzeslehrer und Ältesten ganz konsequent für Randgruppen ein, für Sünderinnen und Sünder. Er eckte an, war unbequem und lästig, so wie andere ihn als solidarisch, fürsorglich und liebevoll empfanden.

Erst 451 legte die junge Kirche auf der "Allgemeinen Kirchenversammlung zu Chalcedon" fest, dass Jesus als wahrer Gott und wahrer Mensch für alle Christen zu glauben ist. Hören wir doch einmal, was dort festgehalten wurde:

"Folgend also den heiligen Vätern, lehren wir alle einstimmig, dass der Sohn, unser Herr Jesus Christus, ein und derselbe sei. Der eine und derselbe ist vollkommen der Gottheit und vollkommen der Menschheit nach, wahrer Gott und wahrer Mensch, bestehend aus einer vernünftigen Seele und dem Leib. Der eine und derselbe ist wesensgleich dem Vater der Gottheit nach und wesensgleich auch uns seiner Menschheit nach... Wir bekennen nicht einen in zwei Personen getrennten und zerrissenen, sondern einen und denselben einziggeborenen Sohn, das göttliche Wort, den Herrn Jesus Christus, wie schon die Propheten es vor ihm verkündet und der Herr Jesus Christus selbst es uns gelehrt und das Glaubensbekenntnis der Väter es uns überliefert hat..." Das Bekenntnis endet mit den Worten:

"Da wir nun diese Entscheidung mit großer, allseitiger Umsicht und Genauigkeit verfasst haben, so beschloss die heilige und Allgemeine Kirchenversammlung, dass niemand einen anderen Glauben vortragen oder niederschreiben, verfassen, hegen oder andere lehren dürfe..." [1] Mit unserem Predigttext wird uns zugleich eine sehr menschliche Seite Jesu vorgestellt, eine Seite, die von der Menschlichkeit Gottes selbst zeugt, dem unsere Welt, dem wir nicht gleichgültig sind.

Jesus weint über Jerusalem, weil er spürt, dass in dieser Stadt nicht erkannt wird, was ihrem Frieden dient, und er sieht die Zerstörung der Stadt und die Deportation ihrer Bewohner voraus. Mit Jerusalem zugleich ist aber auch Israel gemeint, das nicht sehen kann, was Gott diesem Land und Volk mit Jesus geschenkt hat.
Die Trauer Jesu gilt, doch wer wären wir, uns über die Menschen im damaligen Jerusalem, in Israel, zu erheben? Haben wir denn erkannt, was Gott uns mit seinem Sohn in unser Leben hinein geschenkt hat? Leben wir so, dass andere uns in unserem Glauben als Christen und eben nicht als christliche Ideologen ernstnehmen können - und müsste Jesus - lebte er heute unter uns, nicht auch immer wieder einmal über uns weinen? Leben wir denn einen wirklich tragfähigen Frieden, der widerspiegelt, wes anderen Geistes Kinder wir sind?

Sehr bewusst kombiniert Lukas diesen Text mit jenem in dem Jesus die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel herausjagt. Es gibt keinen Frieden, wo Gott keine Wohnung, kein Zuhause hat. Der Friede den Jesus meint, ist kein ferner, jenseitiger, himmlischer Frieden, sondern es ist der, der in die Welt hineinkommen muss, in das Zusammenleben in unseren Partnerschaften und Ehen, - die Auseinandersetzungen mit unseren Kindern, - in die Betriebe und an unsere Arbeitsplätze, - in die politischen Differenzen, die zu diskutieren sind, - zwischen einander entfremdete Völker.

So gilt der Friede Gottes, von dem Jesus hier spricht und den er meint, unteilbar jedem Menschen. Doch, unser Text erzählt es: Schon an Jesus scheiden sich die Geister, denn die einen suchen eben nicht die Auseinandersetzung mit ihm, sondern wollen ihn umbringen, die anderen umlagern ihn, weil sie sich keines seiner verheißungsvollen Worte entgehen lassen wollen. Und wir, wie verhalten wir uns zu ihm, dem Gottesssohn und Menschenbruder? Was sehen und was hören wir, wenn uns Jesus und mit ihm der Gott seiner Väter und Mütter im Glauben, der Gott Israels, begegnet - und wo hören wir von ihm? Auch Orte haben ja ihren ganz eigenen Sinn, Jerusalem ist eben nicht irgendeine Stadt, eine Kirche nicht ein beliebiges Haus. Wie also gehen wir mit unseren Kirchen um, unseren Gottesdiensten, und lassen wir sie dem Frieden dienen? Sind sie die Räume, in denen wir nicht mehr uns selbst, sondern wirklich einmal Gott hören können?

Wir spüren, wie sehr wir in unserem tagtäglichen Verhalten der Gottheit Gottes gegenüber hinterfragt sind. Wir setzen die Normen für unser Leben und lassen uns von unserer Umwelt mehr formen, als vom Glauben unserer Kirchen - und ebenso sieht unser Leben in seiner Rast-, Ruhe- und Heimatlosigkeit und daher ja auch Friedlosigkeit vielfach aus. Täglich waren die Menschen im Tempel um Gott gemeinsam anzubeten, auf Gottes Wort zu hören und sich von diesem ansprechen zu lassen. Und wir: Wir suchen jede Rechtfertigung dafür, warum gerade wir eigentlich nicht zur Kirche, zum Gottesdienst zu gehen brauchen und merken dabei gar nicht, dass wir damit unsere eigene Meinung zum Maßstab für den christlichen Glauben machen.

Sicher beten können wir auch zu Hause, aber Gott aus der Mitte einer Gemeinde heraus die Ehre zu geben und uns selbst von seinem Wort ansprechen zu lassen, das können wir nur, in dem wir miteinander und weltweit unsere Gottesdienste feiern. Es kommt für uns darauf an, in Jesus, seinem Reden und Tun, unseren menschgewordenen Gott täglich neu wahrzunehmen und den Glauben an ihn als eine ganz neue Chance für unser Leben zu entdecken, uns dem Leben und seinen Herausforderungen noch einmal aus einem ganz anderen Geist heraus zu stellen. Das wird dem Frieden dienen, überall, wo auf Gott gehört wird, auch hier in unserer Mitte. Das ist es, wozu wir jeden Tag neu eingeladen werden, und wozu er uns seinen göttlichen Sohn ganz menschlich, als Beispiel, Vorbild und Maßstab in unser Leben hinein geschenkt hat.
Amen.


Literatur:

  1. Rahner, K., Weger, K.-H., Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigungen, Regensburg, 197910, S. 129
Letzte Änderung: 1.09.2003
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider