Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

1. Sonntag nach Trinitatis, 22.6.2003
Lukas 16, 19-31

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Heute werden wir mit der Geschichte Jesu vom "armen Lazarus" herausgefordert, darüber nachzudenken, wer vor unserer eigenen Haustür liegt und uns braucht, unsere Zuwendung, unser Mitdenken, unsere finanziellen Möglichkeiten. Wohl jeder von uns kennt diese Geschichte und wir können nur erstaunt darüber sein, wie kompromisslos Jesus hier argumentiert. Denken wir einmal darüber nach, wie wir leben, damit wir unsere Zeit und unsere Möglichkeiten nutzen. "Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gebot Christi erfüllen."

Gebet:

Guter Gott! Da können wir machen, was wir wollen, wir werden deinen Maßstäben für ein menschenwürdigeres Leben nicht gerecht. Wir scheitern an unseren eigenen Vorstellungen, unserem Egoismus, unserem Bild, das wir uns vom Menschen machen. Wir kennen keine Armut, aber oft sind wir arm: arm an Freude, arm an Dankbarkeit, arm an Idealen. Wir essen uns ganz selbstverständlich jeden Tag satt, aber wir leiden an Hunger: Hunger nach Verständnis, nach Geborgenheit, nach Zärtlichkeit. Wir sind längst übersättigt mit materiellen Gütern, doch wir bleiben hungrig. Wir ersticken im Überfluss, und sind doch innerlich oft einfach nur ausgebrannt und leer. Guter Gott, wir haben alles, aber so vieles fehlt uns.
Amen.

Predigttext:

"Es war einmal ein reicher Mann, der immer die teuerste Kleidung trug und Tag für Tag im Luxus lebte. Vor seinem Haustor lag ein Armer, der hieß Lazarus. Sein Körper war ganz mit Geschwüren bedeckt. Er wartete darauf, dass von den Mahlzeiten des Reichen ein paar kümmerliche Reste für ihn abfielen. Er konnte sich nicht einmal gegen die Hunde wehren, die seine Wunden beleckten. Der Arme starb, und die Engel trugen ihn an den Ort, wo das ewige Freudenmahl gefeiert wird; dort erhielt er den Ehrenplatz an der Seite Abrahams. Auch der Reiche starb und wurde begraben.

In der Totenwelt litt er große Qualen. Als er aufblickte, sah er in weiter Ferne Abraham, und Lazarus auf dem Platz neben ihm. Da rief er laut: `Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir! Schick mir doch Lazarus! Er soll seine Fingerspitze ins Wasser tauchen und meine Zunge ein wenig kühlen, denn das Feuer hier brennt entsetzlich.´ Aber Abraham sagte: `Mein Sohn, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten das dir zugemessene Glück erhalten hast, Lazarus aber nur Unglück. Dafür kann er sich nun hier freuen, während du Qualen leidest. Außerdem liegt zwischen uns und euch ein riesiger Graben. Selbst wenn jemand wollte, könnte er nicht zu euch kommen, genauso wie keiner von dort zu uns gelangen kann.´

Da bat der reiche Mann: `Vater Abraham, dann schick Lazarus doch wenigstens in mein Elternhaus! Ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit sie nicht auch an diesen schrecklichen Ort kommen!´ Doch Abraham sagte: `Deine Brüder haben das Gesetz Moses und die Weisungen der Propheten. Sie brauchen nur darauf zu hören.´ Der Reiche erwiderte: `Vater Abraham, das genügt nicht! Aber wenn einer von den Toten zu ihnen käme, dann würden sie ihr Leben ändern. Abraham sagte: `Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, dann lassen sie sich auch nicht überzeugen, wenn jemand vom Tod aufersteht.´"

Lukas 16, 19-31


Liebe Gemeinde!

Der junge Herr war verschnupft, als ich ihn zuletzt besuchte, nicht verärgert, nein, er hatte einen Schnupfen. Er war, wie immer, sehr liebenswürdig, ein exquisiter Gastgeber mit wirklich blendenden Manieren. Er sprach mit sanfter Stimme. Er betrachtete sich besorgt im Spiegel, ehe wir gemeinsam das Georgenpalais verließen, in dessen Treppenhaus von unheimlicher Pracht es immer noch etwas nach Weihrauch riecht. "Wissen Sie", sagt er, "ich wünschte, die Leute würden einsehen, dass ich ein Recht habe, - auf etwas größerem Fuß zu leben als sie ... " Und dann drückt er Boujemaa, dem marokkanischen Butler, sein schnupfenfeuchtes Taschentuch in die ergebene braune Hand, empfängt von ihm ein blütenweißes Tuch als Ersatz sowie ein Bündel Geldscheine - für nachmittägliche Einkäufe und Bewirtungen. "Tausend DM Klimpergeld am Tag, die brauche ich", meint der junge Märchenprinz nachdenklich... [1]

"Wer sind wir? Antwort: Wir sind der reiche Mann. Das ist unsere genaueste, unbestreitbare Ortsbestimmung," sagt Helmut Gollwitzer. [2] Wer sind wir, wenn solche Dinge, wie wir sie aus dem Buch "Ihr da oben - wir da unten" zu lesen bekommen, kein Einzelfall sind? Sicher, wir sind nicht der reiche Erbe Arndt von Bohlen und Halbach, dem sein Wohlstand unverdient in den Schoß gefallen ist und mit dem er anmaßend und recht arrogant umgegangen ist. Ich erinnerte an diese Szene schon einmal in einem anderen Zusammenhang. Dennoch passiert die Geschichte Jesu vor unserer Haustür, sie ist konkret und nachvollziehbar für uns, so weit es um das Verhältnis von Armen und Reichen unter uns geht, von Gewinnern und Verlierern.

Unser Text, eine Art Gleichnis, hat es in sich, denn die Exegeten sind sich gar nicht so sicher, worauf Jesus in ihm eigentlich den Schwerpunkt legen möchte? Die Verdammung eines Reichen, das wäre für ihn untypisch und zu undifferenziert. Die einfache Umdrehung der Verhältnisse, so nach dem Motto: "Geht es euch hier schlecht, dann seid ganz ruhig und geduldig, denn im Himmel wird es euch einmal besser gehen...", das hat schon die Religionskritiker des 19. Jahrhunderts gereizt. Sie haben die Kirche scharf angegriffen, weil diese die Armen auf Kosten der Reichen ja doch nur auf ein besseres Jenseits vertröste, ohne sich politisch der Gegenwart zu stellen. So wird die "Religion" wirklich "zum Opium des Volks." [3]

Vieles bleibt ja auch an Fragen offen: War Lazarus eigentlich immer arm, ist er aus eigenem Versagen arm geworden, mit eigener oder ohne persönliche Schuld? Wie hat sich der reiche Mann seinen Wohlstand verdient und hat er ihn verdient? Wird hier nicht letztendlich zu viel an der Frage von Arm und Reich festgemacht, schließlich hat der reiche Mann ja niemanden erschlagen? Wie wird hier der Himmel und die Hölle dargestellt? Noch einmal gefragt: Läuft unsere kleine Geschichte nicht doch sehr auf ein Lob der Werkgerechtigkeit hinaus, wo sonst doch sehr viel stärker der Glaube vor den Werken gelobt wird? So sehr ich meine Anfragen an die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus habe, so sehr reizt sie mich doch und fordert sie mich gedanklich heraus.

Jesus erzählt eine Geschichte. Wie so oft, wird sie in kräftigen Farben gemalt, dabei konnte er auf durchaus bekannte Erzählungen aus seiner Umwelt zurück greifen. Er spricht hier Menschen an, die Pharisäer, denen er deutlich machen möchte, dass er selbst und seine Freunde auf dem Boden der jüdischen Bibel stehen. Schon, dass der arme Mann überhaupt einen Namen bekommt, ist einmalig in den Gleichnissen, und so muss er auch eine Bedeutung haben, der Name gehört zur Lösung der Geschichte: Lazarus: "Gott hat geholfen!"

Die Geschichte ist kurz nacherzählt. Da ist ein reicher Mann, der in großem Luxus herrlich und in Freuden lebt. Vor seiner Haustür darbt ein armer, geschundener Mann, der auf das wartet, was vom Tisch der Reichen für ihn abfällt. Er stirbt und darf nun an der Seite Abrahams die Freuden des Himmels genießen. Auch der Reiche stirbt und wird beerdigt. Er leidet große Qualen. Aus der Totenwelt schaut er hinüber und bittet Abraham um Hilfe, zunächst allein für sich in seiner großen Not. Als dies nicht möglich ist, bittet er für seine noch lebenden Brüder. Alles in der Geschichte zielt also irgendwie auf dieses Gespräch zwischen dem reichen Mann und Abraham, dem Vater des Glaubens, ab.

Kapitalismuskritik reicht nicht, das wäre alles viel zu kurz gegriffen, denn, gemessen an den Realitäten in der Welt, sind wir tatsächlich der "reiche" Mann aus dieser Geschichte Jesu. Armut, wirkliche Armut kennen wir nur aus der sicheren Distanz möglicher Ferienreisen oder aus den Nachrichten. In Bezug auf unseren unbestreitbaren Wohlstand kaufen wir uns im günstigsten Fall mit einer Spende frei, die uns natürlich nicht wirklich ärmer macht. Wir lassen also ein paar Brotkrumen unter den Tisch fallen und sind dadurch entlastet. So geht es eben nicht, denn niemand von uns kann ja etwas dafür, dass wir in Westeuropa geboren wurden, aufwachsen durften, etwas lernen konnten, mehr zum Essen und zum Trinken haben, als wir wirklich zum Leben brauchen. Dafür kann ich mich nicht entschuldigen. Und doch, der Text muss uns nachdenklich machen.

Lazarus wird mit dem "Himmel" dafür entschädigt, dass er es auf der Erde so schlecht hatte, der reiche Mann wird der "Totenwelt" übergeben. Hier verkehren sich die Verhältnisse. Gerade im Himmel, als Ort der Gegenwart Gottes, muss Lazarus erkennen, dass er zwar die Not des Reichen sieht, aber nicht mehr helfen kann, selbst Abraham kann es nicht. Nachdem der reiche Mann vergeblich darum bittet, ihm ein wenig Wasser zu geben, um seinen Durst zu löschen, wendet sich sein Blick und er denkt über sich selbst hinaus an seine Brüder. Gerade jetzt, wo er "Mensch" wird, wo sich sein verzweifelter Blick für andere Menschen öffnet und er sich für sie einsetzt, muss auch er erleben, dass er nicht mehr helfen kann, es ist zu spät. Immerhin wagt er es, einem Abraham zu wiedersprechen.

Auf Lazarus bezogen lässt sich das sagen, was sein Name zum Ausdruck bringt: Wenn schon die Menschen achtlos bis zur Lieblosigkeit sind, so ist es Gott dennoch nicht, denn Gott hilft, er hilft auch dort, wo wir Menschen es im Augenblick gar nicht vermuten. Wenn wir die Geschichte Jesu richtig verstehen, steht sie auf keinen Fall für die Probleme der Dritten Welt, der Armutsstaaten. Auf den reichen Mann bezogen muss wohl mehr gesagt werden, gerade weil wir uns in ihm erkennen.

"Wer sind wir", so fragt Gollwitzer, und ich denke, dass das eine Ausgangsfrage sein kann, die uns hilft, einmal danach zu fragen, wer ich bin, wie ich lebe, wie ich mit meinen mir geschenkten oder verdienten Mitteln und Möglichkeiten umgehe, meinem Verstand, meinen Gefühlen, meiner Begabung, dem Umfeld, das mein Leben prägt, der Stellung, die ich in meinem Beruf einnehme? Wie gehe ich mit meinem Geld um, wie mit meinen Finanzen, wem dient außer mir, was ich habe, besitze?

So gesehen geht es also nicht darum, alle Menschen zu beschimpfen, die in einem gewissen Wohlstand leben, sondern darum, danach zu fragen, wie sie mit ihm umgehen und einzusehen lernen, dass es eben kein ererbtes Recht darauf gibt, auf einem "etwas größeren Fuße" als alle anderen leben zu dürfen. Und so sehen wir elbst uns als die Menschen, die Jesus anspricht, denn wir haben den Hinweis nötig, einen Lazarus vor oder neben unserer Haustür nicht zu übersehen. Dieser eine Mensch steht für die vielen anderen Menschen neben uns, die von uns gar nicht beachtet, übersehen oder übergangen werden. Sehr eindrücklich beschreibt Bert Brecht das in seiner Dreigroschenoper so:

Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich
Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst.
Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich
Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist ...

Und am Schluss heißt es dort:

Und die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht. [4]

Das Heil, das Gott uns Menschen zugedacht hat, kann nicht privatisiert werden, es gilt allen und jedem Menschen. Aber Gott handelt eben auch durch uns und darum ist es so wichtig, dass der Himmel auf die Erde gehört und weder Gott noch unsere Zustände in ein unfassliches Jenseits abgeschoben werden. Genau das tat Jesus: Er brachte den Menschen, die ihm begegneten, Gott nah und damit ein Stück Himmel auf die Erde. Er holte die Menschen aus ihrem Schattendasein heraus und gab ihnen das Gefühl, dass sie Gott wichtig sind. Und diese Verantwortung können Christen daher nicht delegieren, einfach an andere abschieben, da sind wir gefragt und gefordert, denn Lazarus liegt nicht vor irgendeiner Tür, sondern vor unserer.

Albert Schweitzer beendet seine Predigt über den reichen Mann und den armen Lazarus mit den nachdenklichen Worten: "Es schließt unbefriedigend wie das Leben und die Wirklichkeit selber. Es ist, als ob Jesus es mit Absicht so abgebrochen hat - dass es der Wirklichkeit gleiche. Aber was es uns sagen will, ist klar und so ergreifend und wahr wieder wie das Leben - dass wir gewärtig sein müssen, dass auch für uns ein Augenblick kommen kann, wo unser Leben eine Wendung nimmt, die allem, was wir für uns dachten, vorhatten, hofften, ein Ende macht..." [5]

Diese Ernsthaftigkeit müssen wir ebenfalls ganz neu hören lernen, auch, wenn es ein Wort Jesu unter vielen ist. Was ich dennoch und trotz allem aus dem Wort Gottes heraus höre, ist, dass ich ein jedes Leben, selbst in dem es aus unserer menschlichen Sicht möglicher Weise ein zu spät gegeben hat, in der Liebe und im Frieden Gottes geborgen glaube. Unser Gott ist einfach größer als unsere Maßstäbe. Lernen wir unseren Glauben und wer das (noch) nicht kann, seine Menschlichkeit zu leben, denn Lazarus liegt vor unser Tür. Dann dürfen wir immerhin darauf vertrauen, dass die Schatten der Totenwelt schon hier und jetzt für alle Menschen, denen wir begegnen, verringert werden und Gott uns mit seiner Gegenwart entgegenkommt. So beginnt der Himmel nicht erst im Jenseits, für keinen von uns.
Amen.


Literatur:

  1. Engelmann, B., Wallraff, G., Ihr da oben - wir da unten, Hamburg, 1076, S. 12
  2. Gollwitzer, Helmut, Die reichen Christen und der arme Lazarus, München, 19682, S. 14
  3. Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Über Religion, Berlin, 1958, S. 31
  4. Brecht, Bertold, Gesammelte Werke 2, Stücke 2, Frankfurt, 1967, S. 458ff
  5. Schweitzer, A., Predigten 1898-1948, München, 2001, S. 494
Letzte Änderung: 22.06.2003
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider