Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Prof. Dr. Reiner Marquard, Evang. FH Freiburg
Lk. 17,11-19, Thema: Krankheit - Heilung,
zum 5. Sonntag nach Trinitatis, 30.6.2002, Kenzingen/Br.

Heilung/Heil bedeutet in der Bibel Rettung aus Gefahr, Rettung vor drohendem Unheil (i.S. lebenserhaltender Kräfte). Positiv bedeutet Heil erfüllte, beglückendes, ewiges Leben. Die Frage nach dem Heil des Menschen ist die Grundfrage aller Religionen angesichts menschlicher Erfahrung der Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens. Diese Frage bricht vor allem in Grenzsituationen auf: Leid und Schmerz, Krankheit und Tod, Scheitern und Schuld. In Grenzsituationen erfährt der Mensch Bedürftigkeit und ,Ungeschicktheit’, Sehnsucht und Ohnmacht. Das Entbehren von erwartetem Glück und das Erleben von unerwartetem Unglück führt zur Frage nach dem Sinn im Un-Sinn. Sogar der Gegensatz von Gesundheit und Krankheit wird im Licht der bedingungslosen Annahme des Menschen durch Gott relativiert, denn Beziehung und Liebe können auch in Leid und Krankheit gelebt werden, zumal nach christlichem Verständnis das Heil im Leiden und in körperlicher Schwachheit zur Wirkung kommt (vgl. 2 Kor 12, 7-10) und keine menschliche Situation so ausweglos ist, dass sie von der Liebe Gottes trennen kann (vgl. Röm 8, 31-39).

Gliederung:

1. Chronische Erkrankung - Oder: Undank ist der Welt Lohn
2. Die Zehn Aussätzigen und ihr Aussatz - Oder: Im Ghetto der Isolation
3. Jesus inmitten der Leidenden - Oder: Schicksal und Heilung
4. Das Lob des Geheilten - Oder: Warnung vor Magie
5. Leben, das durch nichts denn durch Liebe bestimmt ist.

Text:

Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Liebe Gemeinde!

(1) Je älter man wird, desto mehr verwächst man mit seinen Krankheiten. ,Chronisch’ pflegt man einen solchen Zustand zu nennen. Dauernd also, ständig und anhaltend lebt man mit seiner mehr oder weniger vorhandenen Erkrankung, geht mit ihr zu Bett und steht mir ihr wieder auf, hat den Tag zu bestehen usw. Geklagt wird nicht. Nicht weil die Gewöhnung mittlerweile auch chronisch geworden wäre - aber Gewöhnung bedeutet eben doch auch in dem Sinne eine kleine Barmherzigkeit, als man das Schicksal nicht fortwährend beklagt und sich und den anderen nurmehr damit zur Last fällt.

Aber jetzt, wo man diese Erzählung gehört hat, da hat man vielleicht doch protestiert - nicht laut, sondern inwendig: Wenn ich einmal so beschwerdefrei sein dürfte, wie die Zehn in der Erzählung, dann wäre ich nicht so undankbar wie die Neun. Was wäre das für eine Freude: Einmal ohne Arthritis, ohne Migräne, ohne Ischias, ohne Depressionen, ohne diese oder jene Sucht usw. In solchen Augenblicken merkt man doch, was einem fehlt. Und zornig werden kann man, richtig zornig über die, die mit ihrer Gesundheit so selbstverständlich umgehen, als sei es die natürlichste Gabe der Welt.

Ach, liebe Gemeinde, so verständlich das Unverständnis über die neun Gesundgewordenen und Undankbaren ist - das Leben, die Erfahrung lehrt, dass die Neun so untypisch gar nicht reagieren. Ein Klinikarzt hat mir einmal gesagt: "Glauben Sie ja nicht, dass die, die hier schwerkrank liegen und unter Umständen durch unsere ärztliche Kunst wieder gesund werden, ihr Leben ändern würden! Die machen da weiter, wo sie unterbrochen wurden." Undank als der Welt Lohn?! Aber ist es nicht geradezu selbstverständlich, dass ein Gesundgewordener vor Freude drauflosrennt? Und je schwerer jemand erkrankt war, desto größer und unbändiger ist diese elementare Freude am Leben.

(2) Die ,Zehn Aussätzigen’ waren auf ihre Weise auch chronisch krank, krank über viele, viele Jahre. Sie standen am Rande des Lebens und so am Rande ihres eigenen Grabes. In Hiob 18,13 wird der Aussatz der Erstgeborene des Todes genannt. Lebendig bereits wie tot (vgl. 4. Mos. 12,12) kommt in der jüdischen Tradition eine Heilung einer Totenauferweckung gleich. Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! Und solange die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein (3. Mos. 13,45f). Diese beiden Verse bezeichnen das ganze Elend und Ausmaß dieser Krankheit. Der Erkrankung (bitter genug) folgt die Absonderung. Im Zeichen der Totentrauer (zerrissene Kleider, aufgelöstes Haar, verhüllter Bart) muss man sich kenntlich machen und die Bevölkerung so und durch sein Rufen vor sich selbst warnen! Stigmatisiert durch den Aussatz muss sich der Aussätzige nicht nur als Kranker, sondern (in der rabbinischen Tradition) als schuldig Gewordener zu erkennen geben. In ihrer nun schon lange andauernden Not wenden sie sich an Jesus.

(3) Wir wollen nicht gering über die Zehn denken. Krankheit schränkt ein. Und indem sie einschränkt, stört sie Beziehungsgeflechte. Jesus hat sie als in diesem Sinne Leidende wahrgenommen. Er hat nicht die Straßenseite gewechselt. Er sah sie an und sprach zu ihnen. Was Jesus da tut, ist bereits außergewöhnlich: Er durchbricht diesen Teufelskreis der Isolation. Er offenbart sich ihnen gegenüber als Verbündeter. Er steht bei ihnen und so steht er ihnen bei. Es ist im Keim bereits eine Passions- und Ostergeschichte, die Jesus hier schreibt: Er stellt sich zu den Leidenden als der Lebendige. Um der Leidenden willen wird er seine Lebendigkeit preisgeben. Er übernimmt ihre Leiden. Er trägt sie weiter. Wer leidet, soll wissen, dass dieser Gott wirklich mitgeht in die Tiefe der Nacht, in das Dunkel des Todes. Kein Ort, an dem Gott nicht wäre, keine gottlose Zeit, die ohne ihn zugebracht werden müsste. Wem das Leben in solcher Tiefe wieder lacht, der wird diesen Augenblick des Umschwungs nie vergessen.

Nur: reicht das? Reicht es, zu sagen: Das werde ich nie vergessen? Was werde ich nie vergessen? Dass ich gesund geworden bin? Und der äußere Anlass dieser Selbstbeschwörung sind dann 20 ct für die Stationskasse ... Das ist das Problem der Neun. Sie sagen: wir sind wirklich gut behandelt worden. Und dann gehen sie hinaus auf die Strasse, atmen tief durch und blicken sich nicht mehr um. Wo sind aber die Neun? (V.17) fragt Jesus. Gehört einem sein Leben wie einem ein Paar Turnschuhe gehören können? Man läuft hierhin und dorthin, wie es einem gefällt - und gefällt es einem nicht mehr, wendet man sich ab und sucht sich ein neues Ziel?

Einer tanzt aus der Reihe. Einer tut nicht das, was die anderen tun. Der läuft nicht einfach drauflos, nach vorn, nur ja weg von dem Vergangenen, sondern der dreht sich erst recht noch einmal um, er geht in die entgegensetzte Richtung, kehrt wieder um an den Ort seiner Not. Ist er verrückt? Nein. Er geht ja nicht einfach an den Ort seiner Not zurück, sondern er sucht an diesem Ort noch einmal Jesus auf. Die Erfahrung des einen geht über die Erfahrung der Neun insofern hinaus, als er hinter ihnen zurückbleibt. Er eilt nicht davon. Er schaut sich noch einmal sein Schicksal an. Viele hadern mit ihrem Schicksal. Der Geheilte integriert seine Vergangenheit in seine Gegenwart. Er will nicht vergessen, wo ihm Jesus begegnet war. Er versöhnt sich auf diese Weise mit seinem Schicksal. Das, was einem geschickt ist, das Schicksal, muß nicht in jedem Falle das Ungeschickte sein. In dem, was einem ungeschickt vorkommt, kann man die Schickung für sich auch leichthin übersehen. Der Schriftsteller Julien Green (1900-1998) hat in bezug auf sein Leben resümiert: "Ja, Gott zerbrach mir mein Herz, aber alles, was Gott tut, ist richtig. Manchmal zerbricht Gott einem das Herz, um in das Herz zu gelangen."

(4) Der Aussatz hatte den Geheilten von den Menschen und sogar nach gängiger Auffassung von Gott getrennt. Worin besteht dann das Gesundgewordensein wirklich? Es bedeutet ein Heilwerden menschlicher Beziehungen und in der Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden. Mit seinem Dank will er bei Jesus bleiben. Preise den HERRN, meine Seele, und all mein Inneres seinen heiligen Namen! Preise den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht alle seine Wohltaten! Der da vergibt alle deine Sünde, der da heilt alle deine Krankheiten. Der dein Leben erlöst aus der Grube, der dich krönt mit Gnade und Erbarmen (Ps 10,3). Wer so glauben kann, dem ist sein Leben ganz umschlossen von der Güte Gottes. Indem der Gesundgewordene in der Stunde der Heilung Gott lobt, kann die Heilung wie der Heiler nicht magisch missgedeutet werden.

Magie schafft unfreiwillige Abhängigkeit. Jesus entlässt den Geheilten. Er sagt zu ihm: Steh auf und geh hin! (V.19). Der Geheilte übernimmt in dieser Entlassung, in dieser Sendung die Verantwortung für sein geheiltes Leben, indem er durch sein nun gelebtes Leben Gott die Ehre gibt.

(5) Jesus hat sie alle gesund gemacht. Irgendwann werden sie alle wieder krank geworden sein. War es nicht die Lepra, wird es ein steifes Bein gewesen sein oder die Gicht oder die Blindheit. Hauptsache gesund ist eine kurzsichtige Parole. Wer nach ihr lebt, kann leicht außer Atem geraten und am Ende als Hypochonder das Ziel verfehlt haben. Nur zu dem Einen sagt Jesus: Dein Glaube hat dir geholfen (V. 19). Das ist ein wunderbares Wort Jesu, das von diesem Menschen nie mehr genommen werden kann. Wie ein Segenswort richtet es ihn auf und sendet ihn. Ihm ist nicht gesagt worden: ,Pass auf, Du wirst ein mordsmäßiges Glück haben und kein Ungemach wird Dich oder Deine Familie treffen. Du hast das große Los der Störungsfreiheit gezogen.' Jesus hatte zu ihm gesagt: Dein Glaube hat dir geholfen. Wo immer du gehen wirst, du gehst an diesem Geländer, das ich dir garantiere. Wo du dich an mir festhältst, bist du ein Gehaltener. Du bist so gehalten, dass du selbst die Hände frei hast, etwas Sinnvolles mit ihnen zu tun, deine Schritte sind so gefasst, dass du sinnvolle Wege gehen kannst. Das ist recht eigentlich die Pointe: als Gesundgewordener, als Glaubender stellen sich mir Aufgaben, die mir zeigen, dass mein Leben ein Ziel hat und einem großartigen Plan folgt - es ist durch nichts denn durch Liebe bestimmt: Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch (V. 21).
Amen.


Letzte Änderung: 29.07.2002