Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

18. Sonntag nach Trinitaris, 19.10.2003
Markus 12, 28-34

Begrüßung:

Mit diesen nachdenklichen Worten von Hans Dieter Hüsch zur Liebe
möchte ich uns auf unseren Gottesdienst einstimmen:

Ich setze auf die Liebe
Das ist das Thema
Den Hass aus der Welt zu entfernen
Und wir bereit sind zu lernen
Dass Macht Gewalt Rache und Sieg
Nichts anderes bedeuten als ewiger Krieg
Auf Erden und dann auf den Sternen.

Ich setze auf die Liebe
Wenn Sturm mich in die Knie zwingt
Und Angst in meinen Schläfen buchstabiert
Ein dunkler Abend mir die Sinne trübt
Ein Freund im anderen Lager singt
Ein junger Mensch den Kopf verliert
Ein alter Mensch den Abschied übt.

Ich setze auf die Liebe
Das ist das Thema
Den Hass aus der Welt zu vertreiben
Ihn immer neu zu beschreiben
Die einen sagen es läge am Geld
Die anderen sagen es wäre die Welt
Sie läg in den falschen Händen.

Jeder weiß besser woran es liegt
Doch es hat noch niemand den Hass besiegt
Ohne ihn selbst zu beenden
Er kann mir sagen was er will
Und kann mir singen wie er's meint
Und mir erklären was er muss
Und mir begründen wie er's braucht
Ich setze auf die Liebe! Schluss.

Gott schütze euch
Gott schütze und befreie uns.

Predigttext:

Ein Gesetzeslehrer hatte dieser Auseinandersetzung zugehört. Er war davon beeindruckt, wie Jesus den Sadduzäern geantwortet hatte, und so fragte er ihn: "Welches ist das wichtigste von allen Geboten des Gesetzes?" Jesus sagte: "Das wichtigste Gebot ist dieses: `Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr und sonst keiner. Darum liebt ihn von ganzem Herzen und mit ganzem Willen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft.´ Das zweite ist: `Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!´ Es gibt kein Gebot, das wichtiger ist als diese beiden."

Da sagte der Gesetzeslehrer zu Jesus: "Du hast vollkommen recht, Lehrer! Es ist so, wie du sagst: Nur einer ist Gott, und es gibt keinen Gott außer ihm. Ihn zu lieben von ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft und unsere Mitmenschen zu lieben wie uns selbst, das ist viel wichtiger, als alle die Brandopfer und anderen Opfer, die wir ihm darbringen." Jesus fand, dass der Gesetzeslehrer vernünftig geantwortet hatte, und sagte zu ihm: "Du bist nicht weit weg von der neuen Welt Gottes." Von da an wagte es niemand mehr, ihn noch etwas zu fragen.


Liebe Gemeinde!

Stellen wir uns einmal vor, wir dürften Jesus eine Frage stellen, was würden wir ihn fragen? Ganz sicher aber würden wir kaum auf die Idee kommen, ihn nach dem "wichtigsten" Gebot aus dem breiten Angebot unserer Gesetze zu fragen. Bei Geboten und Gesetzen fühlen wir uns schnell reglementiert, gegängelt und unfrei. Ihren Sinn erkennen wir erst dann, wenn wir einmal sehr persönlich ihren Nutzen kennen gelernt haben. So schützen sie unser Leben und unser Eigentum vor Übergriffen, bewahren uns vor willkürlichem Unrecht oder sorgen dafür, dass wir - durch die Straßenverkehrsordnung gesichert - unbeschadet von einem Ort zum anderen gelangen.

Die aufgeworfene Frage des Gesetzeslehrers macht uns die Szene deutlich. Jesus wird in eine spannende Auseinandersetzung mit den Sadduzäern, einer starken religiösen Partei, verwickelt. Immer wieder wird er mit dem, was er sagt und tut, auf den Prüfstand gestellt, sein Glaube an dem gemessen, was man in Israel zu glauben hat, - will und soll man als fromm und gottesfürchtig gelten. Doch Jesus passt in keine übliche Norm, obgleich er ein Jude war und ein Jude blieb, bis hin zu seinem Tod an einem römischen Kreuz.

Der Gesetzeslehrer ist von Jesus beeindruckt und so fragt er, was ihn besonders interessiert, er fragt nach dem "wichtigsten" Gebot, und Jesus antwortet mit dem Sch´ma Israel, dem Glaubensbekenntnis Israels: "Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr und sonst keiner. Darum liebt ihn von ganzem Herzen und mit ganzem Willen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft..." (5. Mose 6,4+5). Doch diesem Bekenntnis des Glaubens stellt Jesus sofort ein weiteres Gotteswort an die Seite, so wie es in den heiligen Schriften zu lesen und von vielen Rabbinern gelehrt wird: "Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst..." (3. Mose 19, 18). Jesus verklammert hier die Liebe zu Gott mit der Liebe zum Nächsten, worauf der Gesetzeslehrer sofort zustimmt und die Aussage Jesu mit seinen eigenen Worten bekräftigt.

Wir lauschen aus weiter Ferne einem Gespräch, das für denkende Menschen jener Zeit von großer Bedeutung war. Man suchte in der Vielzahl von religiösen Geboten und Gesetzen nach einer Art Grundgesetz des Glaubens. Gott war irgendwie und irgendwo gedanklich kaserniert und wurde vielfach als ein ferner, fremder Gesetzeslehrer verstanden, dem die Menschen sich fraglos zu beugen haben. Gott war zu einem Gott geworden, der für viele Menschen fernab vom Leben mit seinen Bedürfnissen und Erwartungen hinter den Wolken thronte. Dabei wurde vergessen, dass es eben dieser Gott war, der Israel mehr als einmal in die Freiheit führte. Was uns dieses Gespräch - damals - zeigt, spiegelt sich dann ja sehr früh auch in der jungen Kirche wider. Denn schon bald, vom 2. Jh. nach Chr. an, begannen die Theologen, wie ihre jüdischen Kollegen zur Zeit Jesu, Gott in ein gedankliches System zu pressen, eine intellektuelle Lehre aus dem Glauben zu machen. So wurden theologische Lehrsätze und persönliche Glaubenspositionen oft wichtiger, als ein wirklich gelebter Glaube.

Doch wie sieht eigentlich unsere eigene Antwort auf die Frage nach unserem Glauben aus, gerade wenn wir heute mit der Taufe dieser zwei Mädchen in unserer Mitte nach Eindeutigkeit und Glaubwürdigkeit gefragt sind? Welchen Stellenwert hat Gott in unserem Leben und welcher die Liebe, die ja immerhin so weit gehen sollte, wie man sich selbst liebt?
"Es war vor Jahren einmal erschütternd," so beschreibt es Eugen Drewermann in seiner Auslegung unseres Textes, "eine kleine Fernsehaufzeichnung von einer Predigt zu sehen, die Martin Luther King vor einer Gruppe von Farbigen in den Südstaaten hielt. Eigentlich wollte er diesen Text des Markusevangeliums auslegen. ... Martin Luther King predigte zu Menschen, denen man alles Mögliche angetan hatte, um ihr Fortkommen zu beschneiden, ihre Würde zu schänden, ihre menschliche Aussicht auf Zufriedenheit und Glück zu zerstören, ja oft sogar ihre Gesundheit zu verwüsten; er sprach zu den Ärmsten der Armen in Alabama, und er hielt eine Rede, in der er eigentlich nur aufzählte, was man seinen Zuhörern möglicherweise zugefügt hatte. Er tat dabei so, als wenn er jeden einzelnen anredete:

Es kann sein, du hast nie eine Schule besuchen können; es kann sein, du hast nie ein Paar Schuhe an deinen Füßen getragen; es kann sein, du kannst nicht einmal deine eigene Muttersprache richtig reden; es kann sein, dass du deine Mutter nicht einmal kennen gelernt hast; es kann sein, dass du kein Zuhause hast; es kann sein, dass du kein Einkommen hast; es kann sein, dass du nicht weißt, wo du heute Abend schlafen sollst. Doch nach jedem dieser Sätze fügte Martin Luther King hinzu: `Aber ich bin jemand.´ Nach wenigen Sätzen schon verwandelte sich diese Predigt in einen Gesang, in dem die ganze Gruppe von Farbigen mit glänzenden Augen, mit wiegenden Oberkörpern, refrainartig immer wieder wiederholte, rhythmisch, klopfend: Aber ich bin jemand..." [1]

Man muss sich selbst lieben und annehmen können, um einen anderen Menschen lieben und annehmen zu lernen. Aber mehr als sich selbst muss man eben auch einen anderen nicht lieben. Gerade diese Begrenzung der Liebe bewahrt uns vor einer gedankenlosen Liebe, die sich schier grenzenlos verausgabt. In diesen Worten Kings wird deutlich, welche Kraft der Glaube haben kann, wenn er nicht in dogmatischen Sätzen verhaftet bleibt. Natürlich muss der Glaube bedacht werden, denn das Wort Gottes setzt sich ja nicht von allein in unser Leben um, und das gedankenlose Nachplappern von Worten - und kämen sie noch so fromm daher - kann schnell in die Irre führen. Doch hier wird sehr schön deutlich, wie das ist, wenn sich die Liebe zu Gott, der Glaube, mit der Liebe zum Mitmenschen verbinden. Hier wird das spürbar, was Albert Schweitzer "die Ehrfurcht vor dem Leben" nannte, die er gerade im jüdisch - christlichen Glauben begründet sah.

So sagt er einmal in seiner Auslegung unseres Textes: "Gott, der unser nie bedarf, sollen wir lieben, als wäre er ein Wesen, dem wir im Leben begegnen! Ist den Menschen gegenüber Liebe etwas wie Miterfahren, Mitleiden und Helfen, so bedeutet es Gott gegenüber etwas im Sinne von ehrfürchtiger Liebe... Aus Ehrfurcht zu dem unbegreiflich Unendlichen und Lebendigen, das wir Gott nennen, sollen wir uns niemals einem Menschenwesen gegenüber als fremd fühlen dürfen, sondern uns zu helfendem Miterleben zwingen... Alles Wissen ist zuletzt Wissen vom Leben und alles Erkennen Staunen über das Rätsel des Lebens... Ehrfurcht vor dem Leben in seinen unendlichen, immer neuen Gestaltungen... Herz und Vernunft stimmen zusammen, wenn wir wollen und wagen Menschen zu sein, die die Tiefe der Dinge zu erfassen suchen..." [2]

Wir selbst stehen also vor der Frage: was uns wichtig ist, was unserem Leben eine wirklich entscheidende und bedeutsame Orientierung und Sinn schenkt?
Auch wenn wir sonst vielleicht gar nicht viel nachdenken und unser Leben mehr an den praktischen Dingen orientiert ist, so erfahren wir dieses Fragen dennoch, z.B. bei der Geburt eines Kindes, angesichts einer schweren Krankheit, beim Tod eines uns vertrauten Menschen - und manchmal auch in einem guten, wegweisenden Gespräch.

Keiner von uns lebt, ohne dieses Suchen und Fragen, keiner von uns lebt, ohne die Sehnsucht nach einem gelingenden, glückenden Leben. Dabei kommt es darauf an, wonach wir suchen und fragen - und ob wir es heute überhaupt noch wagen, weiter und tiefer zu fragen, als nach dem, was uns im täglichen Grau und Einerlei bewegt - und als besonderer Höhepunkt im Jahr: wohin der Urlaub gehen soll? Fragen wir uns denn wirklich immer wieder einmal nach dem Grund unserer Existenz, so wie es der Gesetzeslehrer tat, um unserem Leben eine Ausrichtung zu geben? Und was haben der Glaube und Gott noch mit unserem Leben zu tun?

Wir alle erleben doch heute diese Taufen in unserer Mitte, was sagen sie uns in Bezug auf unsere eigene Taufe? Wir bekennen gemeinsam unseren Glauben, doch glauben wir noch, was wir da bekennen? Beziehen wir noch in der Öffentlichkeit Position, in dem wir unseren Glauben überzeugend leben und spürbar werden lassen, wie bedeutsam und unaufgebbar er für uns ist? Natürlich liegt über unserem Glauben das Grau einer langen, nicht immer geglückten Kirchengeschichte, auch die Christen haben der Welt ihren Glauben versagt und sind Ideologen gefolgt, von der Liebe reichte es, im Gottesdienst zu predigen. So aber fallen Gottesdienst und Alttagsleben auseinander, es wird getrennt, was durch den Glauben begründet, unaufgebbar zusammen gehört.

Es liegt also an uns selbst, heute den Glauben wieder ganz neu zum Strahlen zu bringen, einen Glauben erlebbar werden zu lassen, der auch andere dazu einlädt, es noch einmal mit Gott zu versuchen und in der Kirche eine Heimat zu finden. Es liegt an uns selbst, wie das Doppelgebot der Liebe ganz neu, erfrischend neu, mit Leben erfüllt wird: der Liebe zu Gott und der Liebe zum Mitmenschen. Es geht also nicht um irgendwelche Gesetze und Gebote, wovon das Leben voll ist, sondern es geht um einen tief begründeten Glauben, der Gott mit der Welt verknüpft und nicht mehr herausdrängt, und umgekehrt, die Welt mit Gott. Das ist der Weg, wie wir unsere gottgewollte Menschenwürde wiedergewinnen können: zu wissen, wofür es zu leben, zu arbeiten, zu lieben, zu leiden, zu hoffen und damit also auch zu glauben lohnt, denn "das bedeutet es, Gott zu lieben mit ganzem Herzen und den Nächsten wie sich selbst" (Drewermann). Das aber ist die Aufgabe, die uns ein ganzes Leben lang herausfordern und begleiten wird.

Und nun fallen mir eine ganze Reihe von Fragen ein, die ich Jesus Christus gern einmal stellen würde. Ihnen auch? Die Gelegenheit dazu wird hoffentlich auch uns einmal geschenkt sein, Gott sei Dank!
Amen.


Literatur:

  1. Drewermann, E., Das Markusevangelium, Zweiter Teil, Olten, 1991, S. 292
  2. Schweitzer, A., Predigten 1898-1948, München, 2001, S. 1236
Letzte Änderung: 20.10.2003
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider