Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Ökumenischer Gottesdienst am 08. Juni 1997 in der St.-Laurentius-Kirche Kenzingen
Stadtfest und Abschluss der "Woche für das Leben"

"Jedes Kind ist l(i)ebenswert -
Leben annehmen, statt auswählen!"

Hört, wie Jesus Christus die Kinder zu sich ruft:

Einige Eltern brachten ihre Kinder zu Jesus, damit er ihnen die Hände zum Segen auflegte, doch die Jünger wiesen sie ab. Als Jesus das bemerkte, wurde er zornig und sagte zu seinen Jüngern: Lasst doch die Kinder zu mir kommen, und hindert sie nicht daran, denn gerade für sie steht die neue Welt Gottes offen. Täuscht euch nicht, wer sich der Liebe Gottes nicht wie ein Kind öffnet, der wird sie niemals erfahren. Dann nahm er die Kinder in seine Arme, legte ihnen die Hände auf und segnete sie.

(Markus 10, 13 - 16)


Liebe Gemeinde!

Die diesjährige "Woche für das Leben" steht unter dem Motto: "Jedes Kind ist l(i)e-benswert - Leben annehmen, statt auswählen!" Dabei geht es vor allem um die pränatale, die vorgeburtliche Diagnostik. Sie umfasst alle Maßnahmen, durch die gezielt oder ungezielt vorgeburtliche Störungen eines Kindes ausgeschlossen oder erkannt werden können, was weitreichende Konsequenzen zur Folge haben kann. Unser Stadtfest ist ein guter Anlass für diesen ökumenischen Gottesdienst.

Wir alle wünschen uns das Kind aller Kinder. Träumen wir denn nicht davon, dass gerade unser Kind groß und hübsch und begabt wird? Ein Junge oder Mädchen, so wie es unserer Vorstellung entspricht, ein Model Typ, fix und fertig für den Laufsteg menschlicher Eitelkeiten? Doch was passiert, wenn ich bei diesen vorgeburtlichen Untersuchungen erkennen muss, dass dieses Kind eben nicht meinen Vorstellungen entspricht oder sogar behindert ist? Dann müssen Eltern sich entscheiden, und dies ist eine Entscheidung über Leben und Tod.

Im Kinderevangelium sagt Jesus eindeutig und unmissverständlich: "Lasst die Kinder zu mir kommen, und hindert sie nicht daran." Natürlich meint er damit zunächst einmal sich selbst und den Zugang zum Glauben an den menschenfreundlichen Gott, doch ebenso sicher bezieht er dieses Wort auch auf seine Zuhörer. Denn wenn wir etwas aus dem Neuen Testament heraushören können, dann ist es dieser konsequente, ja fast radikale Hinweis auf all jene Menschen, die wir gern übersehen, abschieben, ausgrenzen. Gerade Kinder sind als ein unverfügbares Geschenk Gottes für uns ein Lernfeld des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, behinderte Kinder sind darüber hinaus eine Anfrage an uns, ob wir die schöpfungsgemäße Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott ernst nehmen oder nicht.

Jesus weist immer wieder auf den schuldig gewordenen Menschen hin, auf den halberschlagenen am Wegrand, auf den kranken und immer wieder auf den behinderten Menschen. Er lässt es nicht zu, dass Menschen in seiner Nachfolge in die Kirche gehen, singen und beten, wenn sie nicht zugleich bereit sind, sich all derer anzunehmen, die menschliche Hilfe und Zuwendung brauchen. Sein Wort wird uns zum Auftrag: "Lasst die Kinder zu mir kommen, und hindert sie nicht daran" und mit den Kindern sind auch alle anderen Menschen gemeint, die auf die Menschlichkeit anderer angewiesen sind.

Sicher haben Sie sich - als Sie in die Kirche kamen - in dem Rollstuhl mit dem Spiegel darin, gesehen. Mit welchen Gefühlen haben Sie sich dort entdeckt? Könnte nicht jeder hier schon sehr bald zu denen gehören, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, weil schließlich niemand uns garantieren kann, dass wir einmal ohne größere geistige oder körperliche Gebrechen alt werden dürfen? So betrifft gerade der behinderte Mensch uns alle, weil wir selbst oder unsere Kinder in einem Rollstuhl sitzen - und auf diese oder jene Weise behindert sein könnten.

Als ich mit Freunden über diese Predigt diskutierte, wurde ich sehr bald gefragt, wie unsere Gesellschaft denn auch noch behinderte Kinder über viele Jahre finanzieren könne und ob es da nicht besser sei, sie dann lieber gar nicht zur Welt kommen zu lassen? Es ist ein vielgehörtes Argument für die Abtreibung. Aber bedenken wir: Was kostet uns ein Rentner, was ein Arbeitsloser, was ein Gymnasiast? Und wer von uns soll entscheiden, wen wir finanzieren wollen oder nicht, wer leben darf oder nicht? Was darf ein Mensch uns denn eigentlich überhaupt kosten? Eine Gesellschaft, die solche Gedanken überhaupt erwägt, verliert ihre Humanität, ihre Menschlichkeit. Und genau das haben wir im Dritten Reich erlebt.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir scheinbar `gesunden’ Menschen die eigentlich behinderten Menschen sind. Denn wer setzt hier den Maßstab für `gesund’ oder `krank’, `behindert’ oder `leistungsfähig’? Findet sich denn nicht immer noch ein anderer Mensch, der größer ist als wir, schneller, besser, schöner? Und soll er allein darum für uns zum Maßstab werden?

Bei unserem Elterngesprächskreis am vergangenen Dienstag - auch mit betroffenen Müttern und Vätern behinderter Kinder - wurde deutlich, wie alleingelassen diese Eltern sind. Da wurde berichtet, dass ein Arzt nach der Geburt eines behinderten Kindes feststellte: "Sie sind doch selbst Schuld!" Es wurde geschildert: "Man fällt in ein tiefes Loch und fällt und fällt und fällt ..., man kämpft und kämpft ..." " Es ist wie ein kleiner Tod, den man stirbt und steht dann auch noch allein vor der Frage nach persönlicher Schuld, obgleich es keine gibt ... So zieht man sich schließlich zurück, weil man anderen zum Klotz am Bein wird - und befindet sich dann auch noch im Kampf gegen alle Institutionen."

"Jedes Kind ist l(i)ebenswert - Leben annehmen, statt auswählen!" Oder noch einmal anders gesagt: "Lasst die Kinder zu mir kommen, und hindert sie nicht daran!" An diesem Gebot Jesu kommen wir nicht vorbei. In einem Staat, der immer noch ein Sozialstaat ist, muss jedes Leben menschenwürdig gelebt werden können. Und es liegt an uns Christen in unseren Kirchen, dafür Sorge zu tragen, dass Frauen und Männer in den Beratungsstellen die Hilfe erhalten, die sie brauchen, dass Eltern nicht allein gelassen werden, dass wir sie mit ihren Kindern in der Nachbarschaft wahrnehmen, auch wenn es dann um einen Kindergartenplatz oder um die Schule geht, dass Vorurteile konsequent abgebaut werden.

Es bleibt zu fragen, ob vieles in unserer Gesellschaft nicht wirklich längst so krank, so behindert ist, dass wir es schon gar nicht mehr merken? Hierzu gehört auch die oft unsachliche und lieblose Diskussion um die Beratungsstellen, der Umgang mit den sogenannten Randgruppen überhaupt. Jesus zeigt uns durch sein Verhalten, dass es den christlichen Glauben eben nicht ohne Solidarität und Fürsorge, nicht ohne einen erlebbaren Glauben gibt. Dazu gehört aber, dass selbst Bischöfe sich vor schnellen Äußerungen hüten sollten, denn die Beratungsstellen - gerade auch die kirchlichen - sind unverzichtbar. Und man sollte nicht vergessen, dass auch der Glaube, auch die Lehre der Kirche zur Ideologie erstarren kann, wo wir den Herrn aus dem Blick verlieren, der den Menschen über das Gesetz stellt. In der Beratung dürfen Kirchen sich nicht verweigern, sollen Betroffene nicht noch mehr alleingelassen werden. Entscheiden müssen sie in jedem Fall selbst, da sich jede Situation anders darstellt.

Lassen Sie es mich einmal ganz persönlich sagen: Ohne behinderte Menschen wäre ich heute kein Pfarrer und würde mit Sicherheit hier nicht stehen. Wenn ich je in meinem Leben nachhaltig geprägt wurde, dann von behinderten Menschen. Über Monate hinweg lebte ich in Bethel in den von Bodelschwingh’schen Anstalten auf einem Flur mit Epileptikern, Geisteskranken und Schwerbehinderten zusammen, für die ich verantwortlich war. Ihnen verdanke ich mehr in Bezug auf Glaube und Mitmenschlichkeit als ich zum Ausdruck bringen kann.

Eltern behinderter Kinder müssen in unserem Verhalten die Liebe Gottes erkennen können, weniger in frommen Worten, als vielmehr in der praktischen Solidarität. Und da gilt: Jedes Kind darf uns etwas kosten. Jeder Mensch, ganz gleich wie behindert, alt oder krank er ist, ist und bleibt ein Mensch Gottes und mag er uns noch so sehr zur Aufgabe werden. Es ist eine Schande für eine Gesellschaft - und weder christlich noch sozial - wenn es an Mitteln für die Förderung dieser Kinder mangelt. Und es täte sicher manch einem politisch Verantwortlichen gut, den Parteinamen wieder einmal auf seinen Ursprung hin zu überdenken. Vor allem Christ- und Sozialdemokraten stehen hier in einer besonderen Verantwortung, gefordert sind aber die Politiker aller Parteien, weil es schlicht um ein Stück verwirklichter oder verhinderter Menschlichkeit geht.

Von dem großen evangelischen Theologen Karl Barth wird folgende Geschichte überliefert, die mich immer, wenn ich sie lese, tief beeindruckt: Karl Barth war sich mit seinem Freund Heinrich Vogel (ebenfalls ein bekannter Theologe seiner Zeit) nicht einig im Verständnis der ewigen Vollendung in Gottes Reich. In einem Gespräch versuchten sie ihre unterschiedlichen Standpunkte zu klären.

Der Freund wollte von einer völligen Neuschöpfung reden, während Karl Barth hier anders dachte: Es werde dort (in der Gegenwart Gottes) herauskommen, dass Gottes
Werk in Christus für die Menschen, so wie sie waren, doch nicht vergeblich gewesen sei. Die Diskussion konnte nicht `akademisch’ bleiben. Denn den beiden Freunden geriet dabei das Rätsel des Leidens vor Augen, das einer schwer behinderten, hilflosen Tochter Vogels aufgebürdet war.

Und der Vater rief nun als Zusammenfassung und Anwendung seiner Hoffnung aus: Sie, die Behinderte, werde dort (in Gottes Reich) keine Behinderte mehr sein. "Sie wird laufen!" Barth von jenem rätselhaften Leid mitbetroffen, griff das Stichwort auf: "Sie wird laufen?" Nein, das klinge in seinen Ohren doch zu sehr, als habe Gott in diesem Fall einen Fehler gemacht, den er dort eingestehen und korrigieren müsse. So sagte er: " Ist es nicht eine viel schönere und kräftigere Hoffnung, dass dort das offenbar wird, was wir jetzt so gar nicht verstehen - nämlich, dass dieses Leben nicht vergeblich war, weil Gott nicht umsonst zu ihm gesprochen hat: Gerade dich habe ich geliebt!?" ...

Als Christ und als Theologe glaube ich, dass jede Art menschlicher Behinderung für uns ein Hinweis auf die Liebe Gottes ist. Es mag uns allen schwerfallen, das zu verstehen, aber in jedem Menschen begegnet uns Gott, der Gott, der nicht im Himmel thront, sondern dort ist, wo seine Schöpfung ist. Wir alle laufen Gefahr, Gott aus dem Blick zu verlieren, weil wir ihn nicht mehr in jedem menschlichen Gegenüber suchen. Wir wählen in unserer Zuneigung, scheiden aus, richten, - Gott aber nimmt uns an. Er sagt sein Ja zu einem jeden Menschen. Dort, wo wir ausgrenzen, wo wir uns verweigern, unmenschliche und lieblose Maßstäbe setzen, werfen wir Gott aus unseren Kirchen oder unseren Wohnungen heraus. Wir behindern uns selbst in unserer Menschlichkeit, wir lehnen uns auf gegen die Liebe Gottes, die uns allen unteilbar gilt und versagen der Welt das glaubwürdige Zeugnis eben dieser Liebe.

Achten wir alle auf unseren Weg und wem wir dort begegnen, denn in einem jedem Menschen begegnet uns Gott - so wie wir sind. Daher ist von Gott, dem Schöpfer, den wir im Glaubensbekenntnis bekennen, nichts anderes zu glauben, als dass "jedes Kind li(e)benswert ist" und dass wir von daher alle herausgefordert bleiben, "Leben anzunehmen, anstatt auszuwählen!"

Kurt Marti, der Schweizer Theologe und Schriftsteller, bringt es auf den Punkt, wenn er einmal schrieb:

Geburt
ich wurde nicht gefragt bei meiner zeugung
und die mich zeugten wurden auch nicht gefragt
bei ihrer zeugung niemand wurde gefragt
außer dem Einen und der sagte: Ja

ich wurde nicht gefragt bei meiner geburt
und die mich gebar wurde auch nicht gefragt
bei ihrer geburt niemand wurde gefragt
außer dem Einen und der sagte: Ja.

Amen.


Letzte Änderung: 08.06.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider