Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen



Judika 1997, Markus 10, 35 - 45

"Ihr da oben - wir da unten!" so heißt ein Taschenbuch (B.Engelmann, G. Wallraff), in dem sich folgende Begebenheit über einen jungen deutschen Industriellen findet:

Der junge Herr war verschnupft, als ich ihn zuletzt besuchte, nicht verärgert, nein, er hatte einen Schnupfen. Er war, wie immer, sehr liebenswürdig, ein exquisiter Gastgeber mit wirklich blendenden Manieren. Er sprach mit sanfter Stimme. Er betrachtete sich besorgt im Spiegel, ehe wir gemeinsam das Georgenpalais verließen, in dessen Treppenhaus von unheimlicher Pracht es immer noch ein wenig nach Weihrauch riecht. "Wissen Sie", sagte er, "ich wünschte, die Leute würden einsehen, dass ich ein Recht habe, auf etwas größerem Fuß zu leben als sie ..." und dann drückte er ( ...) dem marokkanischen Butler sein schnupfenfeuchtes Taschentuch in die ergebene braune Hand, empfängt von ihm ein blütenweißes Tuch als Ersatz sowie ein Bündel Geldscheine - für nachmittägliche Einkäufe und Bewirtungen. "Tausend DM Klimpergeld am Tag, die brauche ich, meint der junge Märchenprinz nachdenklich ...
Markus 10, 35 - 45:
Da kommen zu Jesus Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sagen ihm: Meister, wir möchten, dass du, was wir dich bitten wollen, tust - für uns! Er sagte ihnen: Was möchtet ihr, dass ich für euch tue? Sie sagten ihm: Gib uns, dass wir einer zu deiner Rechten , einer zu deiner Linken sitzen dürfen in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sagte ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder mit der Taufe, mit der ich getauft werde, getauft werden? Sie sagten ihm: Wir können es. Jesus aber sagte ihnen: Den Kelch, den ich trinke, mögt ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, mögt ihr getauft werden, aber das Sitzen zu meiner Rechten oder Linken ist nicht meine Sache zu vergeben, sondern (es ist) für die, denen es bereitet ist.

Als die Zehn das hörten, fingen sie an, sich über Jakobus und Johannes zu entrüsten. Da ruft sie Jesus herbei und sagt ihnen: Ihr wisst, dass die vermeintlichen Führer der Völker auf sie herunterherrschen und ihre Großen auf sie herunterwillküren. So soll es bei euch nicht sein, sondern wer bei euch groß werden will, sei euer Diener, und wer bei euch der Erste sein will, sei aller Knecht. Auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld zu geben für viele.

(Übersetzung nach E. Drewermann, Das Markusevangelium)


Liebe Gemeinde!

Den Streit kennen wir! Geschwister, die sich um die Hand der Mutter oder des Vaters streiten, obgleich keine Hand mehr frei ist. Jugendliche, die schon in der Schule begreifen lernen, wie man sich bei Lehrern nach vorne dienert, wenn die eigene Leistung nicht ganz für den gewünschten Erfolg ausreicht. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Arbeitsplatz, die alles daran setzen, sich bei den Vorgesetzten lieb Kind zu machen, um die Karriere abzusichern. Wir alle kennen das, und viele von uns haben unter einem solchen Verhalten zu leiden: "Ihr da oben - wir da unten!?"

Wir sehen, dem biblischen Wort ist nichts an menschlichen Verhaltensweisen fremd, was nicht auch wir heute in unserem eigenen Umfeld erleben können. Der Kampf um Macht und Einfluss reicht bis in den Gemeinderat, die Vereine und Organisationen, ja sogar bis in eine Kirchengemeinde hinein: Welcher Kreis, welche Gruppe engagiert sich hier am meisten, und welche Privilegien werden davon abgeleitet? Wer bedarf einer besonderen Pflege, weil er sich ehrenamtlich engagiert (obgleich das natürlich viele tun?) Auf wen muss der Pfarrer vor allen anderen achten, weil Zuwendung verlangt wird? Wer hat unter uns was zu sagen, und wie wichtig, wie bedeutsam nehmen wir uns dabei?

Die Probe aufs Exempel in der Gemeinde ist einfach gemacht: Wer spült im Gemeindehaus nach einer Veranstaltung das Geschirr? Wer hilft unseren Gemeindegliedern aus der AWO in den Gottesdienst? Wer kopiert oder trägt einmal etwas aus, um der Gemeinde Zeit oder Geld zu sparen? Wer beachtet von uns, wo es einmal klemmt und hilft, ohne großes Gerede? Es gibt - wie überall - auch bei uns Menschen, die schnell in ihren Forderungen und Erwartungen an andere sind, doch recht zurückhaltend, wenn es darum geht, sich einmal auf eigene Kosten einzubringen, sich für andere zu engagieren. Wie einfach und je nach Sichtweise scheinbar gut geordnet ist das doch: "Ihr da oben - wir da unten" - oder umgekehrt: Wir da oben - ihr da unten?"

Wir alle kennen das, wir alle kennen uns selbst.

Jakobus und Johannes wollen aus dem Überschwang ihrer Zuneigung zu Jesus in der Herrlichkeit Gottes rechts und links neben ihm sitzen. Natürlich übernehmen sie sich mit ihrer Bitte, die Jesus behutsam korrigiert, doch immerhin ist dieser jugendliche Idealismus ja ein wichtiger Schritt im Glauben, im Vertrauen auf Gott hin. Ohne jeden Selbstzweifel vertraut man sich Jesus an, man fühlt sich stark in seiner Nähe und ist beherzt in seinen Wünschen - doch schon bald, beim ersten Widerstand, werden auch sie fliehen und die Nähe des Verhafteten meiden.

Jesus weiß, was auf ihn zukommt und daher hinterfragt er seine Freunde. Er geht sehr bewusst nach Jerusalem zum Fest, in dem Wissen darum, dass jeder Schritt ihn seinem Tod näher bringt. Schnell und oft zu oberflächlich übersehen wir das stellvertretende Leiden Jesu, weil es ja um uns herum tagtäglich Mord und Totschlag gibt, wir geradezu durch die Massenmedien davon so überflutet werden, dass wir abgestumpft sind. Der Tod eines Einzelnen ist nun wirklich nichts Herausragendes mehr, es sei denn, dieser Tod beträfe uns selbst.

Ganz sicher will Jesus nicht leiden, denn welcher Mensch, dazu noch voller Lebensfreude, möchte schon, dass ihm so etwas zugemutet wird? Immer wieder entzieht er sich den Angriffen seiner Gegner, die ihn ihre menschliche Macht spüren lassen, die Tyrannei der Unmenschlichkeit gerade auch im religiösen Gewand. Dem will Jesus sich nicht beugen, weil er seinen Auftrag so versteht, Gott wieder an die Seite seiner Zuhörer zu stellen, - Gott aus einem dem Menschen fernen Himmel auf die Erde zurückzuholen. Weder fragwürdige Kompromisse, noch falsche Anpassung erlaubt er sich, wenn es ihm um seinen Gott und um die Mitmenschen geht. Die Konsequenzen seines Verhaltens sind ihm bewusst.

Und weil es ihm ganz steil und direkt um Gott und den Mitmenschen geht, darum fordert er andere auf, Gott wieder ernster zu nehmen als irgendeinen Menschen oder eine beliebige Sache und auch den Mitmenschen wieder so ernst zu nehmen, dass sich in den vielfachen Todesräumen der Welt Lebensräume entwickeln können. Nur so wird ein angstfreies, ein gelingendes und glückendes Leben möglich. Diesen Traum vom Leben dürfen wir haben, wollen wir über die Karfreitage unserer Welterfahrung hinweg zu dem Fest des Lebens vorstoßen, Ostern! Doch soll dieser Traum Wirklichkeit werden, dann müssen sich unsere Orientierungspunkte ändern, dann darf nicht mehr alles beim alten bleiben, sondern vieles unter uns muss neu werden, radikal neu.

Aber - und so ist ja mit Recht zu fragen - macht es denn überhaupt Sinn, sich für Menschen zu opfern, die dieses Opfer gar nicht wollen, die ganz gern in ihren Herrschaftsstrukturen leben, weil es ihnen darin recht gut geht? Wandern wir doch einmal in unseren Gedanken in uns selbst hinein und überprüfen wir, was wir uns an gelingendem Leben für uns wünschen, dabei aber auch für andere mit unserem persönlichen Einsatz ermöglichen? Wir sind doch eingebunden in gesellschaftliche Zusammenhänge und können gar nicht umhin, Menschen zu begegnen, Herrschaftsstrukturen, dort wo wir leben, lieben, arbeiten, unsere Freizeit verleben, auf- oder abzubauen.

Warum geht Jesus wissentlich einen Weg, der so hoffnungslos, so aussichtslos erscheint, weil es ganz offensichtlich ein scheiternder Weg ist? Wer wollte denn dieses Leiden, und wer konnte damals, wer kann es heute begreifen? Für Jesus von Nazareth war es nicht möglich, an Gott zu glauben und gleichzeitig den Menschen zu verachten, ihn zu unterdrücken, abhängig zu halten, ja auch nur oberflächlich mit der Würde eines Menschen umzugehen. Der "Menschensohn", ein Titel Jesu, der nach seiner eigenen Auffassung, seinem Selbstverständnis, Zeuge des Versöhnungs- und Erlösungswillen Gottes ist, muss um dieses Gottes Willen an den Menschen glauben, da das ganze Leben sonst hoffnungslos wird, voller Depression, Kampf, Unterdrückung, Machtgier und Todeserfahrung bleibt.

Wo heute Herrschaft ausgeübt wird, sei es in der Politik oder in der Wirtschaft, in der Regierung und in der Opposition, in den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften, geht es oft - allerdings nicht immer und nicht bei jedem! - um persönliche Eitelkeiten, um Macht und Machterhalt, um Macht und Machtgewinn, ein großes Monopoli, ein unendliches Spiel (fast) ohne Grenzen. Es geht - wie wir es auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens mitbekommen - zu wenig um das politisch sinnvolle und durchaus Mögliche, sondern um Rechthaberei.

Trotz aller Beteuerungen, verliert man dabei ganze soziale Gruppen aus dem Blick, während sich andere nach wie vor üppig bedienen. Kein Wunder, dass das Gefühl entsteht: "Ihr da oben - wir da unten!"

Eine Politik, die sich an einem christlichen oder sozialen Menschenbild orientiert, wird sich auch, angesichts der unbestreitbaren Finanzknappheit, in besonderer Weise der Schwachen annehmen, derjenigen, die - aus welchem Grund auch immer - auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Wo das aus dem Blick verloren wird, haben wir es nicht nur mit ein wenig Schuld zu tun, sondern mit Sünde, mit der Auflehnung gegen den Gott der Liebe und Barmherzigkeit.

Wie sagte es doch ein bekannter Psychoanalytiker unserer Tage: "Wenn du die besten Reden über Liebe, Pflicht, Gerechtigkeit und ähnliches hören willst, lausche Politkern ... Es gibt gegenüber der Macht weder eine politische noch eine ethische, nur eine religiöse Lösung ..., das Reich Gottes nennt Jesus sie ..."

Jesus geht es um den Dienst. Einem Dienst, der sich an seinem Wort und Geist orientiert und gerade in der Christengemeinde zum Tragen kommt. Dienst heißt hier, nicht dienern oder gar Unterwürfigkeit, sondern sich der Not - auch der materiellen Not - des Menschen zu stellen und für eine menschenwürdige Lösung einzustehen. Diakonie ist das neutestamentliche Wort, das Martin Luther sogar mit "Amt" übersetzt. Wir Christen haben durch den Glauben mit der Taufe ein Amt übernommen, denn wir sind aneinander und füreinander Diakone, deren Menschenfreundlichkeit im Tun des Gerechten und Guten deutlich wird. Das reicht je nach unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten von einem guten Wort, einer Handreichung, einem Opfer, einer Spende - bis hin zur Zeit, die ich mir für einen anderen nehme oder der Begleitung eines Kranken, eines Sterbenden.

Es gibt keine Vorschriften dafür, wie wir einander zu einem gelingenden Leben helfen können, aber wir dürfen die Herausforderung des Evangeliums hören, sich der Liebe Gottes zu stellen und in der Nachfolge Jesu, alles abzubauen, was Menschen von Menschen trennt und ihnen ihre gottgewollte Menschenwürde nimmt. In Frage gestellt sind " die da oben" ebenso - wie "die da unten!" dort, wo sie einander aus dem Blick ihrer Fürsorge verlieren. Sie bleiben einander den Dienst am Nächsten schuldig - weit über alle denkbaren Grenzen hinweg, die Menschen trennen können.

Gerd Theißen, ein Heidelberger Theologieprofessor sagte in einer Predigt: Wenn einmal unsere Kultur vom Wüstensand bedeckt sein wird, dann hoffe ich, dass man in der Wüste einen kleinen Fetzen Papier finden wird, auf dem nur ein Satz steht: "Wer der erste unter euch sein will, der sei Diener aller." Und ich hoffe, dass dann einige sagen: Ihr Leben (damals) hat sich gelohnt. Sie versuchten Herrschaft human zu gestalten. Ihr Glaube ist gerechtfertigt, denn er gab ihnen Kraft dazu. Ihre Kultur war tief problematisch und oft brutal. Aber um dieses Grundsatzes willen war es gut, in ihr zu leben - als Mensch, ( ...) und als Christ.

Auf diesem Weg helfe Gott uns allen zueinander.
Amen.


Letzte Änderung: 10.04.2003
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider