Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Ökumenischer Festgottesdienst zum
850-jährigen Dorfjubiläum
im Zusammenhang mit den Wein- und Kulturtagen

850 Jahre Hecklingen

27. August 2000

"Ein Dorf feiert seine Geschichte"

1148 - 2000


Prediger 3, 1-15:

Gott hat alles im voraus bestimmt.

Alles, was auf der Erde geschieht, hat seine von Gott bestimmte Zeit: geboren werden und sterben, einpflanzen und ausreißen, töten und Leben retten, niederreißen und aufbauen, weinen und lachen, wehklagen und tanzen, Steine werfen und Steine aufsammeln, sich umarmen und sich aus der Umarmung lösen, finden und verlieren, aufbewahren und wegwerfen, zerreißen und zusammennähen, schweigen und reden. Das Lieben hat seine Zeit und auch das Hassen, der Krieg und der Frieden. Was hat ein Mensch von seiner Mühe und Arbeit?

Ich habe die fruchtlose Beschäftigung gesehen, die Gott den Menschen auferlegt hat. Gott hat für alles eine Zeit vorherbestimmt, zu der er es tut; und alles, was er tut, ist vollkommen. Dem Menschen hat er eine Ahnung von dem riesigen Ausmaß der Zeiträume gegeben, aber von dem, was Gott in dieser unvorstellbar langen Zeit tut, kann der einzelne Mensch nur einen winzigen Ausschnitt wahrnehmen. eine Ahnung Herz.

Ich bin zu der Erkenntnis gekommen: Das Beste, was der Mensch tun kann, ist, sich zu freuen und sein Leben zu genießen, solange er es hat. Wenn er aber zu essen und zu trinken hat und genießen kann, was er sich erarbeitet hat, dann verdankt er das der Güte Gottes. Ich habe erkannt: Alles, was Gott tut, ist unabänderlich für alle Zeiten. Der Mensch kann nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen. So hat es Gott eingerichtet, damit wir in Ehrfurcht zu ihm aufschauen.

Was in der Vergangenheit geschah und was in Zukunft geschehen wird, hat Gott lange zuvor festgelegt. Und die Zeit, die uns entschwunden ist, ist bei ihm nicht vergangen.


Liebe ökumenische Festgemeinde,
liebe Gäste aus "Hecklingen" in Sachsen-Anhalt!

"Ein Dorf feiert seine Geschichte!" Schon die Überschrift zur Einladung dieses Festes spiegelt etwas vom Selbstbewusstsein der Hecklinger wider. Ein Dorf feiert seine Geschichte, das bedeutet für Sie ein weiteres Fest. Dass Sie Feste hier im Ort nicht nur gern und gekonnt feiern, sondern auch jede Gelegenheit suchen, um eines zu feiern, das wissen wir. Aber heute steht nicht einer Ihrer zahlreichen Vereine im Vordergrund, Ihre St. Andreaskirche oder ein kirchlicher Anlass, sondern der ganze Ort feiert, ja, feiert im Grunde sich selbst.

Als ich das Festmotto erstmals las, fragte ich mich unwillkürlich, kann man denn eigentlich so etwas, wie seine "Geschichte" feiern? Die Geschichte ist ein vergangener Zeitraum, der in die Gegenwart hineinführt, sie ist eine geschenkte, erlebte und gefüllte Zeit. Wenn ein Dorf seine Geschichte feiert, so feiern jetzt, heute Menschen das, was es in der Vergangenheit in spannungsreichen Beziehungen zu erleben, zu durchleben galt. Und dieser Gedanke führte mich zu unserem Bibelwort über die Zeit.

Der Prediger Salomos stellt mit seinen Worten all das zusammen, was es in einem menschlichen Leben an Höhen und Tiefen zu erfahren gibt, nichts bleibt da an dynamischen Spannungen und Beziehungen ausgespart. Doch warum sagt er etwas, was eigentlich jeder Mensch weiß, wie das Geborenwerden und Sterben, das Weinen und Lachen, Klagen und Tanzen, die Liebe und der Streit, er benennt die Mühen menschlicher Arbeit und denkt zugleich auch an die Freude am Leben, am Essen und Trinken.

Dies wäre ja nicht so überraschend, erstaunlich ist jedoch, dass er all das nicht allein dem menschlichen Verdienst oder Versagen, Können oder Unvermögen zuordnet, sondern unmittelbar mit Gott in einen Zusammenhang bringt. Unendlich viel kann der Mensch in seiner Zeit bewegen, aber sie ist und bleibt ein unverfügbares Geschenk Gottes. Daher hat dieser Gottesdienst seinen ganz besonderen Stellenwert in Ihrem Ortsjubiläum.

Sie, liebe Hecklinger, können sich gratulieren, wir anderen tun es ja ohnehin. Sie können sich gegenseitig auf die Schultern klopfen und noch ein Glas Wein miteinander trinken, sie können sich mit Recht feiern und feiern lassen, aber, was heute zu bedenken ist, ist und bleibt der Gott, der Ihnen Ihre Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft geschenkt hat und schenkt. Wo das angemessen mit Freude und Dank geschieht, auch im Bewusstsein von Schuld und Versagen, von verpassten Gelegenheiten, da dürfen Sie dann alles andere mitfeiern, was Ihnen wichtig ist. Nur: es muss uns bewusst sein, dass es jetzt ganz zentral um Gott geht und dass wir ihn nicht ehrfurchtslos und unter fernerliefen mit in dieses Fest einbeziehen.

Dieses fröhliche Jubiläum im Zusammenhang mit den "Wein- und Kulturtagen" unterstreicht - recht verstanden - unser Gotteslob und unsere Dankbarkeit, denn umgekehrt bin ich zutiefst davon überzeugt, dass unser menschenfreundlicher Gott gerade seinerseits über unsere Hecklinger lächelt, sich mit Ihnen und uns allen zusammen freut. Eine menschliche Gemeinschaft, wie wir sie von Ihnen kennen, kann man ja nicht erfinden: eckig und kantig, fröhlich und selbstbewusst, gemeinschaftsfähig und streitbar, gerade, wenn es um die Belange des Ortes geht.

August Everding, einer der Kulturschaffenden des 20. Jahrhunderts in Deutschland schlechthin, definierte "Kultur" als Kult: Gottesdienst, Liturgie, Anbetung Gottes und als das Urbarmachen der Erde: pflügen und säen. Hier fällt dann beides zusammen, das Lob Gottes und das verantwortliche Handeln des Menschen. Ein Interview zu seinem 70. Geburtstag beschloss er mit den Worten: "Ich sage am Schluss meines Lebens Amen, ein ganz gutes, großes Amen, - so sei es!" [1] Everding bringt uns auf den Gedanken, wie auch die "Wein- und Kulturtage", in die ja das Jubiläum eingebettet ist, angemessen bedacht werden können.

Es darf hier jetzt nicht um einen isolierten Festgottesdienst gehen, als vielmehr darum, das ganze Fest als einen Gottesdienst zu verstehen, so lange es um das nachdenkliche, dankbare Bedenken der eigenen Geschichte geht. Da hat dann auch der Wein und das Essen als Ausdruck der Lebensfreude seine Zeit, seinen Ort. Laden wir Gott doch einfach und sehr bewusst einmal ein, dieses Fest hier mit uns zusammen zu feiern, so wie er die Geschichte aus der langen Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein begleitet hat, sollten wir ihn da ausgerechnet aus diesem Jubiläum, so wie den "Wein- und Kulturtagen" ausklammern wollen?

Zu Beginn einer Chronik über Hecklingen heißt es: "Wer das schöne alte Dorf, in einem lieblichen Tal zwischen Schwarzwaldvorbergen eingebettet, liegen sieht, könnte meinen, es liege von jeher abseits aller Händel der Welt, sei von allem Ungemach immer verschont geblieben und mache nur durch seine vorzüglichen Weine von sich reden. Aber da ist die Ruine auf der Höhe über dem Dorf, die einer solchen Meinung sogleich wiederspricht. Ruinen deuten immer auf Kampf und Zerstörung hin...." [2] Lange vor der Einführung des Christentums dürfte es hier bereits Ansiedlungen gegeben haben, denn schon der Name, mit seiner Endung "ingen", weist auf eine alte alemannische Gründung im 5. Jahrhundert hin. 1112 wird Hecklingen erstmals erwähnt. Die alte Burg "Lichteneck" gehört zum Ortsbild. Seit 1774 prägten die Grafen von Hennin das Dorf, auch durch den Bau ihrer beiden Schlösser. Das letzte Mitglied der Familie Hennin, Hilda Baronin von Stackelberg, verstarb 1999 und wurde hier im Ort beigesetzt.

Hecklingen wurde auch von Kriegen nicht verschont, die alte Burg im 30-jähigen Krieg zerstört. 1675 überfielen die Franzosen den Ort, selbst die Kirche wurde dabei fast völlig vernichtet. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts forderten ebenfalls Menschenleben, zum Teil mussten gleich einige Familienmitglieder ihr Leben lassen. Die alljährliche Gelöbnisprozession zur Burg, als Dank für die Bewahrung vor Gewalt, Zerstörung und Not, erfüllt nach wie vor ein Versprechen aus jener Zeit. Am 17. Juni 1973 wurde die Eingliederung des Dorfes nach Kenzingen vollzogen, ein denkwürdiger Tag, wenngleich die Hecklinger geblieben sind, was sie immer waren, nämlich Hecklinger!

Das Versuchsrebgut des Staatlichen Weinbauinstitutes Freiburg gab seinerzeit dem Weinbau wertvolle Impulse. Hecklingen lebt heute von seinen vielfältigen Vereinen, die den Zusammenhalt beispielhaft stärken und fördern. Hier hat die Kirche noch ihren Platz, obgleich es auch in ihr noch Platz für manch einen Hecklinger zusätzlich gäbe, so dass es Angebote gibt, die sinnstiftend jeder Art von rechtem oder linkem Extremismus und Gewalt entgegentreten. Doch der Einzelne, der neu hierher zieht, muss sich selbst engagieren wollen, sonst wird für ihn der Ort allein zur Schlafstatt. Hier kann nur ankommen und heimisch werden, wer mitmacht, sich einbringt.

Wir spüren, wie sehr uns die ganze Zeit der Predigttext durch die Geschichte des Ortes hindurch begleitet hat: Es ist ein Geschenk der Zeit, die sich in unserer Geschichte widerspiegelt. Da ist im Grunde nichts selbstverständlich, trotz all der Spannungen, die der Ort mit seinen Bürgern vielfach zu durchleben, oft auch zu durchleiden hatte - und wie viel Bewahrung gab es da in seiner langen Geschichte. So feiern wir dieses Fest in dankbarer Rückschau und großen Hoffnungen für die Zukunft dieses Ortes und seine Bewohner. Denn die Zukunft wird ja ebensolche Veränderungen mit sich bringen, wie die erlebte, geschilderte Vergangenheit. Darauf gilt es, sich im Zusammenhang dieses Dorfjubiläums einzustellen, wie anders könnte Hecklingen denn sonst seine Geschichte feiern?

Eine Wochenzeitschrift schrieb angesichts verschiedener technischer Katastrophen, die wir gerade erleben mussten: "Wie schnell ist zu schnell? Wie groß ist zu groß? Wie viel ist zu viel?" [3] Mit diesen Fragen werden uns Grenzen aufgezeigt. Es ist an der Zeit, uns zu besinnen, unser Maß neu zu suchen. Es geht dabei nicht um Rückschritt, wir sollen weiterhin lernen, forschen, entdecken, erfinden, wir dürfen unsere Grenzen ausloten. Doch die Frage bleibt, ob wir noch Wesentliches und Unwesentliches unterscheiden können, Wichtiges von Unwichtigem, Menschliches von Unmenschlichem, den Sinn unserer Existenz im vielfach erfahrbaren Unsinn der Zeit.

Letztendlich lebt der Mensch davon, dass er sich seiner Wurzeln wieder bewusst wird, seiner Wurzeln auch angesichts einer weltweiten Vernetzung, der unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten, die er hat, zu arbeiten, seine Freizeit zu verleben, sich zu informieren, sich zu verwirklichen. Darum ist es - wollen Sie Ihre Identität nicht aufgeben und verlieren - entscheidend für diesen Ort und seine Bewohner, an diesen gemeinsamen Wurzeln weiter zu arbeiten. Das mag dann für den einen eine gute Nachbarschaft sein, für einen anderen der Verein, für die nächsten die Kirche mit ihren Gottesdiensten. Hier treffen wir uns und dürfen uns daran erinnern lassen, was auf dem Spiel steht, wenn es uns um die letztendlich tragfähigen Orientierungen und Werte gehen soll.

Albert Schweitzer sagt über die Kultur einmal: "Unsere Kulturfähigkeit selbst wird in Frage gestellt, vom schwersten Kampf ums Dasein ganz in Anspruch genommen, sind viele unter uns nicht mehr imstande, Ideale, die auf Kultur gehen, zu denken... All ihr Sinnen ist nur auf die Verbesserung ihres eigenen Daseins gerichtet. Erst wenn die Sehnsucht, wieder wahrhaft Mensch zu werden, in dem modernen Menschen entzündet wird, kann er sich aus der Verirrung heimfinden, in der er jetzt, vom Wissensdünkel und Könnerstolz geblendet, herumwandelt..." [4]

Das ist eine Vision auch für Sie alle, die Sie das Leben hier im Ort miteinander teilen: es muss eben nicht immer alles schneller, größer und mehr sein, es muss für Sie menschlich bleiben, weil es für Sie kulturelle Wurzeln gibt, die Sie und uns alle tragen. Bringen wir Gott weiterhin oder wieder einmal stärker in unser Bewusstsein zurück, dann wird diesem Ort mehr geschenkt sein, als eine reiche Vergangenheit.

Geschichte, unsere eigene Lebensgeschichte wird eingebunden in die Zeit und Geschichte dieses Ortes und daher auch etwas widerspiegeln können von der Geschichte Gottes mit uns. Wie sagt es der Prediger in seiner Weisheit: "So hat es Gott eingerichtet, damit wir in Ehrfurcht zu ihm aufschauen..." Lassen wir uns dazu mit diesem Fest einladen und dann aus diesen Festtagen als eine Vernetzung von Fest und Alltag mit in die Zukunft hineinnehmen. Gott segne Sie und Hecklingen.
Amen.


Literatur:

  1. Everding, August, anlässlich seines 70. Geburtstages in einer Fernsehübertragung
  2. Eschbach, Hermann, 85 Jahre Musikverein Hecklingen e.V.,
    105 Jahre Musik-Tradition, 1989, S. 10f
  3. DER SPIEGEL, Titelblatt, Nr. 31, 31.07.2000
  4. Schweitzer, Albert, Kultur aus ethischer Forderung, aus: Kultur und Ethik,
    C. H. Beck Verlag, München, 1923, I. Band, S. 140f

Pfr. Hanns-Heinrich Schneider
Letzte Änderung: 10.06.2001