Die Frage nach dem Sinn des Lebens,
als die kaum noch gestellte Frage nach Gott

Vortrag vor dem Rotary-Club Lahr
gehalten am 10. Oktober 1996

Hanns-Heinrich Schneider, Pfr.
Kenzingen i.Br.

Überarbeitete und gekürzte Fassung eines ähnlich lautenden Vortrages vor dem RC Pforzheim-Schloßberg und Radolfzell-Hegau

Inhalt


Sehr verehrte Damen und Herren!

1. Die Fragestellung

Es ist - so will mir scheinen - modern geworden, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, während darüber die Gottesfrage in unserer Zeit und Gesellschaft immer mehr in den Hintergrund rückt, - jedenfalls dann, wenn es sich um den Gott handelt, der uns in der Bibel bekannt wird und auf den ja ein Großteil der Menschen heute immer noch getauft sind und getauft werden.

Doch wer nach dem Sinn fragt, oder gar eine geistig-moralische Wende einklagt, dem scheint ja etwas abhanden gekommen zu sein, wonach er nun wieder einmal neu zu fragen hat. Kritisch zu hören ist Th. Adornos Satz aus seiner `Negativen Dialektik' (1966): `Leben, das Sinn hätte, fragte nicht danach'. Da der Mensch das Paradies verloren hat, fragt er ebenso nach seiner Vergangenheit, wie nach seiner Zukunft, und diese Frage stellt sich aus einem wie immer zu erfahrenen Leben heraus.

Der von allen gesellschaftlich relevanten Gruppen: Kirchen, Organisationen, Vereinen, Verbänden und politischen Parteien beklagte Sinnverlust hat eine Orientierungslosigkeit zur Folge, die eine große Lücke in das Lebensgefühl der Menschen gerissen hat. So gehen Maßstäbe verloren, die in den vergangenen Generationen noch Halt boten. Doch in einer Gesellschaft, die im Beruf und in der Freizeit, national und international sowie durch die Vielfalt der Medien als immer differenzierter empfunden wird - und damit für den einzelnen Menschen auch un-übersichtlicher und undurchschaubarer - werden die Antworten auf aufgeworfene Fragen ebenfalls differenzierter werden müssen.

Die vielfache Mobilität unserer Gesellschaft hat eine Heimatlosigkeit zur Folge, die den einzelnen Menschen oft in seinem Fragen und Suchen allein lässt. Überge-ordnete Fragen, die den Sinn des Lebens betreffen, werden dann schließlich immer weniger oder gar nicht mehr gestellt. Der Glaube bleibt ausgespart für einige weni- ge Situationen im Lebenslauf, er findet oft keine tieferen Wurzeln mehr im Bewusstsein des Menschen. Dennoch wissen wir, dass diese Fragen latent vorhanden sind, doch nicht mehr automatisch und selbstverständlich in herkömmliche Bahnen gelenkt werden können. Das führt dazu, dass Wege gesucht werden, um Antworten zu finden, die dem Baron von Münchhausen ähneln, der sich ja an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen versuchte.

Und so kommt es, dass mit der verlorengegangenen Gottesfrage oft unmerklich auch der Sinn abhanden gekommen ist. Gott wird aus dem Bewusstsein verdrängt, um dann als undefinierbares religiöses Gefühl in einem Wust unterschiedlichster religiöser Gruppierungen wieder aufzutauchen. Dies reicht dann von Sekten und okkultischen Handlungen bis hin zu Drogen jeder Art und pseudoreligiösen Meditations- und Aktionsgruppen.

Da ist es erstaunlich, wie sehr der moderne Mensch (oder der, der sich dafür hält) doch noch Wert darauf legt, in irgendeiner Weise `religiös' zu sein, ohne dabei ge-nauer bestimmen zu können, wie diese Religion eigentlich aussieht. Oft reicht es, dass sie nur anders ist als das, was einem gewohnt war. So wird eine kleine fromme Ecke nach wie vor gepflegt, doch der überlieferte Glaube spielt dabei vielfach keine große Rolle mehr.

Und so stehen wir vor der Frage: Woher sich der Mensch denn nun eigentlich als Mensch bestimmt? In wie weit ist er frei oder unfrei? Wem gehört er? Fragen wir nach dem Menschen, so werden wir wohl zwangsläufig auch über ihn hinaus zu fra-gen haben, denn einerseits ist der Mensch ja niemals für sich allein Mensch, sondern er erfährt sich immer als Mit-Mensch, und andererseits erlebt er sich mit anderen Menschen zusammen in seinen Grenzen und an den Schwellen von einer Lebenssituation zu einer anderen: von Jungsein und Altwerden, von Gesundsein und Krankheitserfahrungen, von Leben und Tod. Dies ist der zentrale Ort der Sinn-frage, wenngleich nicht der einzige.

Und hier verbinden sich nun auch die beiden Glieder unserer Fragestellung, als der Frage nach dem Sinn des Lebens und der Frage nach Gott. Dieser Frage können wir hier nur ein wenig nachspüren, denn im Grunde muss es ja zwangsläufig eine lebensbegleitende Frage sein - gerade weil es um den tieferen Sinn menschlicher Existenz geht.

2. Die Sinnfrage

In einem bekannten Nachrichtenmagazin wurde einmal über die "Sehnsucht nach Sinn" nachgedacht. Während viele Menschen ihre Kirchen verlassen, haben die oft "sündhaft teuren privaten Heilsbringer Dauerkonjunktur". In Deutschland bieten rund 50 000 Wahrsager und Hellseher ihre Dienste an, so viele wie katholische und evangelische Geistliche zusammen. So heißt es in diesem Artikel:
"Die Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt die Menschen des postindustriellen Zeitalters so sehr, wie kaum eine andere. Allein: Sie suchen neue Antworten. Diese Antworten sind beinahe so vielfältig, wie die Charaktere der Fragenden: Ge- sucht wird Orientierung, Gemeinschaft, "mein Platz in der Natur", "mein wahres Ich", "meine verschüttete Seele", oder nur "Teta" ("die totale Entspannung, die totale Aktion"). Die einen erhoffen sich mehr Körpergefühl oder Kreativität, andere "einen Weg" oder "die Weisheit", und für manche scheint die Suche selbst das Ziel zu sein ... Die Menschen haben das Gefühl, etwas verloren zu haben, und so begeben sie sich auf die Suche, und zwar vermittelt durch Körper, Geist und Seele ...

Die Verpackungen der Angebote sind fremdartig, gewöhnungsbedürftig. Yin und Yang, Reinkarnation, ein wenig Buddhismus, dazu viel Esoterik, verbunden mit der Hinwendung zu sehr menschlichen Gurus, eingehüllt in den bizarren Reiz fremder Religionen. Das alles spricht an, wird gern genommen. Doch viele der Konsumen- ten, die sich da so gerne bedienen, sind einst getauft worden, gehören einer der großen Kirchen an, haben gehört und gelernt, dass Evangelium befreiende, froh- machende Botschaft bedeutet. Haben sie es vergessen oder trauen sie dieser alten Botschaft zu wenig zu, dass sie sich lieber an anderen Orten bedienen ..." Der Trend geht dorthin, anzunehmen und für richtig zu halten: "Was Gott ist, bestimme ich!" [1]

Jeder Mensch stellt sich im Laufe seines Lebens in den verschiedensten Situationen die Frage nach dem "Wozu" des eigenen Lebens: Wozu lebe ich angesichts dieser oder jener Situation? Was sind das für Ziele, die ich mir setze und die ich erreichen will? Was macht mein Leben lebenswert oder lässt mich am Sinn meiner Existenz zweifeln?

In den Bereichen der Grenzsituationen von Geburt und Tod, der Liebe oder dem Leid erkennt sich der Mensch in seinem einmaligen, einzigartigen und persönlichen Schicksal, das jedoch sogleich dadurch relativiert wird, dass er ja immer noch Milliarden Menschen um sich weiß, die mit ihm zusammen "Mensch" sind. Was also ist er, dieser Mensch, der sich selbst mit gutem Recht so wichtig nimmt?

Die Sinnfrage, vor die sich der Mensch gestellt sieht, ist nie ein für allemal zu beant-worten, sondern aus jeder Lebenssituation heraus neu. Es gibt für sie kein zu früh und kaum ein zu spät. Doch nur derjenige, der sich ihr stellt, wird auch hier und dort korrigierend in seine Lebensplanungen eingreifen können. Die mangelnde Reflexion lässt den 'modernen' Menschen vielfach blind und taub werden für übergeordnete Fragen des Lebens, die dann aber sehr tiefgreifend das Bewusstsein auch für die Daseinsbewältigung im Alltag beeinflussen. Hier geht es doch um die Lebens-perspektiven, die aus der Gegenwart für die Zukunft erhoben werden, hier geht es dann schließlich um vertane oder gewonnene Chancen, Zukunft hoffnungsvoll und mit Perspektiven versehen anzugehen.

Der Mensch, der so dem Leben und seinem Sinn nachfragt, wird dann aber auch zu erkennen haben, dass er eingebunden bleibt in noch ganz andere Zusammenhänge, die Einfluss nehmen auf sein Leben. Er lebt ja immer in einer bestimmten Zeit und auch in einer ganz bestimmten Gesellschaft, der er sich kaum entziehen kann. Er ist eingebettet in die Voraussetzungen seiner Sozialisation, die es ihm - zumindest was die Startbedingungen angeht - einfacher oder auch schwerer machen können.

Wer nach dem Sinn des Lebens fragt, wehrt sich gegen ein sinnloses Leben. Der will alle Möglichkeiten nutzen, die ihm gegeben sind, diese einmalige und unwiederbringliche Strecke seines persönlichen Lebens bis hin zu seinem Tod so sinnvoll wie möglich anzugehen und zu erleben. In diesem Sinne lässt Goethe dann seinen Faust im II. Teil sagen: "Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr ..." [2]

Das klingt noch ganz anders, als dann später bei Friedrich Nietzsche, der einmal sagte: "Ich will das Leben nicht wieder. ( ...) Ich habe versucht, es zu bejahen - Ach!" Oder: "Alles in der Welt missfiel mir: am meisten aber missfiel mir mein Missfallen an Allem."[3] Nietzsche verzweifelt, negiert und findet daher auch keine konstruktiven Zugänge zum Leben mehr. An dem Portal einer Krakauer Kirche findet sich der Satz: Frustra vivit, qui nemini prodest! (Für nichts lebt, wer niemandem nützt!). [4] Sinnhaftigkeit findet sich immer in einem Gegenüber, niemals aber isoliert für sich selbst: So, im Gegenüber zu Menschen, zur Natur, zur Kreatur, zur Kultur im weitesten Sinne u.s.w.

An einer kleinen, bekannten biblischen Geschichte möchte ich versuchen, deutlich zu machen, worum es mir geht: Da ist ein reicher Mann, der gut gewirtschaftet und Glück hatte. Bald schon konnte er das Erwirtschaftete gar nicht mehr in seinen Lagern unterbringen, so dass er neue anlegen musste. Und er freute sich darüber, genoss seinen Wohlstand und wollte nun in Ruhe leben. Hier nun greift Gott in das Leben des Mannes ein, in dem er ihm seine endgültige Grenze aufzeigt, den Tod: "Du Narr, heute noch werde ich dein Leben von dir fordern, und wer hat dann den Nutzen von deinem Tun?" [5]

Dieser Text zeigt - und wer wollte ihm ernsthaft widersprechen - dass es eben nicht ausreicht, in relativem Wohlstand und abgesichert zu leben, sondern zu erkennen, wie begrenzt mein Leben ist und abhängig noch von ganz anderen Komponenten, die ich einerseits selbst beeinflussen kann, doch wo ich andererseits ausgeliefert bleibe. Zu all meinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, zu aller Leistung, zu der ich fähig, begabt bin, müssen eben auch die Überzeugungen und Werthaltungen treten, die diesem einen Leben das Prädikat sinnvoll verleihen können. Es ist für die menschliche Existenz geradezu wesentlich, aus welchem Geist heraus ich lebe und dann meine menschlichen Ziele verfolge.

Dabei gilt nun, dass all das, was unser Leben in seinen Zielsetzungen und Hand-lungen bestimmt, mitbestimmt wird durch die geistigen Voraussetzungen, denen wir uns öffnen oder verschließen. Und so vielfältig unsere Zielsetzungen sein können, welche die Frage nach dem Sinn beantworten helfen, so vielfältig können nun auch die philosophischen, ideologischen oder politischen Weltbilder sein, mit denen ich meinem Leben seine besondere Prägung gebe. Diese Überlegungen zielen dann auf die Voraussetzungen des Glaubens, der Ethik, der Humanität (was ja zusammengehört), doch auch auf Möglichkeiten, wie sie der Nihilismus, der marxistische Atheismus oder Materialismus u.a. bietet.

Diese Denkkategorien beeinflussen unser ganzes Leben und bestimmen daher auch über unser Tun und damit über den Sinn des Lebens. Dabei gehören alle Weltbilder in ein spannungsvolles wechselseitiges Gespräch. Die Entscheidung darüber, welchen Weltbildern ich folgen will, gehört in die menschliche Autonomie. Hier ist ein jeder Mensch für sich selbst verantwortlich, und ein jeder Mensch wird für sich selbst verantwortlich gemacht.

Die vielfach beklagte Sinnkrise ist auch darin zu suchen und zu begründen, dass man sich dieser Voraussetzungen nicht mehr bewusst ist.

Vielfach ersparen wir uns die kritische Dauerreflexion mit dem Ergebnis, dass wir nicht reicher, sondern ärmer werden, was gerade die Frage nach dem Sinn angeht. Davor bewahren uns anscheinend eben auch äußerlicher Wohlstand und ein gewisses Maß an Sicherheit nicht. Wir berauben uns der uns mitgegebenen Freiheit des Denkens und bleiben Gefangene unserer Daseinsbewältigung. Und wir verlieren das Gefühl für den geistig-geistlichen Mehrwert, auf den es letztlich und im Entscheidenden ankommt, wenn es uns um den Sinn des Lebens geht.

Der mir gut bekannte Theologe Helmut Gollwitzer nannte eines seiner großen Bücher: `Krummes Holz - aufrechter Gang'. Immanuel Kant bezeichnete den Menschen als `Krummes Holz’, `Aufrechter Gang’ ist das Bild von Ernst Bloch für des Menschen noch nicht erreichte, erst noch zu gewinnende Bestimmung. Und hier fragt der Theologe: Aufrechter Gang - das ist Leben in Sinngewissheit. Krummes Holz - dem ist Sinn bezweifelt oder ganz aufgekündigt. Wie kommt krummes Holz zum aufrechten Gang? [6]

3. Die Gottesfrage

Aufgabe der Theologie ist es nach Helmut Gollwitzer, "das Wort Gott aus der Vieldeutigkeit in die Eindeutigkeit zu bringen".[7] Doch da begründet sich bereits das Problem, denn wer von uns - gerade den Theologen - könnte für sich in Anspruch nehmen, "eindeutig", klar, angemessen von Gott reden zu können? Es gibt Leute, die schweigen von Gott, weil sie Sorge haben, dass sie unangemessen von Gott reden, denn nicht umsonst bedeutet uns das 2. Gebot, "dass wir den Namen des Herrn, unseres Gottes, nicht unnütz oder leichtfertig in den Mund nehmen dürfen ..." Wer von Gott reden will, wird zunächst einmal sehr genau zu hören haben, was uns die Bibel von diesem Gott selbst sagt, um von dort aus Aussagen über den Gott der Schöpfung und des Menschen zu wagen.

Es kann nicht wundern, dass wir uns scheinbar in eine Krise hineingedacht und hineingeredet haben, natürlich auch, weil es uns an Eindeutigkeit fehlt, denn wenn wir über Gott reden und uns dabei das Nachdenken - auch das Nachdenken über die Bibel - ersparen wollen, dann muss das ja in unglaublich diffuse Aussagen, ja in ein Gerede von Gott münden, das dann schließlich im Schweigen, in der Ratlosigkeit endet. Und wo uns Gott selbst fremd wird, wird uns schließlich erst recht seine Kirche fremd werden.

Wir werden uns - wenn wir intellektuell redlich bleiben wollen - das Wort der Bibel nicht ersparen können, wenn wir über Gott angemessen nachdenken wollen. Warum? Erlauben Sie ein ganz schlichtes Beispiel: Eine Kreissparkasse wird sich ihre Geschäftsgrundlagen kaum von der Commerzbank vorschreiben lassen. Oder, der Deutsche Fußballverband wird sich seine Spielregeln wohl kaum vom Deutschen Golfverband auslegen lassen wollen. Wer redlich über Gott - jedenfalls den Gott der Christen - nachdenken will, wird die Bibel in die Hand zu nehmen haben, ja er wird, ob es ihm nun einleuchtet oder nicht, auf das Wort zu hören haben, das diesen Gott verkündigt. Und hier liegt nun ganz offensichtlich ein weiteres Problem in der Auseinandersetzung um die Gottesfrage.

Vielen Menschen ist heute die Grundkenntnis biblischer Aussagen abhanden gekommen. Dennoch müssen wir uns um diese Voraussetzungen im klaren sein. Wir machen es uns schnell zu leicht, in dem wir definieren, was christlich ist, was die Kirche zu tun und zu lassen hat, was für das Leben eines Christen notwendig oder auch nicht (mehr) nötig ist - und merken dabei gar nicht mehr, wie unsauber wir inzwischen mit Begriffen umgehen, die definiert sind. "Christlich" wird mit "humanistisch" verwechselt, womit wir uns das spezifisch Christliche, nämlich Jesus Christus ersparen. Dabei meinen wir, "gute Menschen" zu sein ( was ja gut möglich ist), sind aber damit eben noch längst keine Christen im Sinne des christlichen Glaubens. Wir werden um der Sache selbst willen wieder lernen müssen, sauberer mit Begriffen umzugehen. Und damit fehlt uns dann jede Möglichkeit der Selbstrechtfertigung. Erst auf diese Weise kommen wir aus der Vieldeutigkeit in die so entscheidende Eindeutigkeit.

Wer Gott sagt, muss wissen, dass er als Mensch zu einer Aussage kommt, die er eigentlich gar nicht machen kann. Denn wie will ein Mensch über Gott reden können, wo er doch immer ein Mensch ist und bleibt und von daher von Gott zu unterscheiden ist. Gott ist uns kein verfügbarer Gegenstand, mit dem wir beliebig umgehen könnten - und es ist ganz sicher die Schuld - gerade auch der Schriftausleger - dass Leute wie Feuerbach, Marx und in der Spitze dann auch Nietzsche `Religionskritik’ übten. Eben: Religionskritik und nicht Kritik an Gott selbst. "Im Grunde wäre jedes Wort zuviel für Gott, weil jeder Gedanke für ihn zu wenig ist." [8]

Dies sind die Voraussetzungen, die wir mitbedenken müssen, wenn wir über unsere Sprachlosigkeit nachdenken, was unsere moderne Auseinandersetzung mit Gott betrifft. Es war der Boden der Aufklärung, der die Religionskritik mit ermöglichte, wie das Versagen der Kirchen in der `Sozialen Frage' des 19. Jahrhunderts. Es wurde nicht geschafft, das Gedankengut der Aufklärung in eine tiefgreifende Aus-einandersetzung um theologische Fragen einmünden zu lassen, und es wurde noch weniger geschafft, diese Gedanken dem ganz normalen Christen zu vermitteln. Und so wendet sich dann ein Mann wie Schleiermacher eben an die gebildeten Verächter der Religion.

Dennoch werden wir gewarnt sein müssen und unser Nachdenken über Gott redlicher zu gestalten haben. Wir werden zu erkennen haben, dass es Gott für uns nicht einfach geben kann, wie man eine Sache, ein Ding haben, besitzen, sich machen kann: "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht", sagte Dietrich Bonhoeffer in seiner Habilitationsschrift 1931 einmal. Und wir werden endlich zu verstehen haben, dass wir Gott nicht zu beweisen brauchen, denn er lässt sich so wenig beweisen, wie eben auch seine Nicht-Existenz nicht beweisbar ist. Die Aussage: `Gott ist’, ist ein Axiom, ebenso wie eine mathematische Formel (1+1=2) ein unhinterfragbares Axiom ist.

Doch dann muss sich auf dieser axiomatischen Aussage eben alles weitere logisch aufbauen - und auch da mangelt es vielfach, weil es sich der moderne Mensch mit der Gottesfrage zu leicht macht. Er möchte zwar ein wenig an Gott glauben, gerade dann, wenn er es für sinnvoll und angebracht hält und spürt dabei gar nicht, dass es einen solchen Umgang mit Gott gar nicht geben kann, wenn das Axiom: Gott ist oder existiert, stimmen soll.

Wer über die Existenz Gottes oder atheistisch über die Nicht-Existenz Gottes nach-denkt, wird dies sein Leben lang zu tun haben. Der scheinbare Atheismus unserer Tage ist im tieferen Grunde nichts anderes als die Bequemlichkeit des Denkens. Man schmückt sich mit dem ganz ordentlich klingenden Artikel `Atheist' und meint damit, die Sache Gottes los zu sein. Die großen Atheisten lehren uns das Gegenteil, denn sie kamen von der Gottesfrage so wenig los, wie der engagierte Christ.

Der Schriftsteller Max Frisch erzählte einmal über Ernst Bloch, den bekannten Sozialisten und Atheisten:

"Als er 90 war, sagte Ernst Bloch bei einem Frühstück im Freien, er sei nur noch neugierig auf das Sterben - er war damals nicht krank - Sterben als die Erfahrung, die er noch nicht gemacht habe und die nicht aus Büchern zu beziehen sei. ... Nicht alle mussten es hören, als er hinzufügte: Er könne sich nicht vorstellen, dass nach unserem Tod einfach nichts sei ..." [9]
So wird es uns glaubhaft von dem Mann berichtet, dessen Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" heißt. Hat er, der Atheist, vielleicht mehr gehört, erkannt, begriffen als viele Menschen, die formell noch einer christlichen Kirche angehören, doch denen das Fragen und Suchen längst abhanden gekommen ist?

Darum stimmen die bedeutsamen Aussagen Anselms von Canterbury (1033 - 1109) auch heute immer noch und immer wieder: "Fides, quarens intellectum" (Der Glaube sucht oder forscht nach Erkenntnis, er müht sich um diese Erkenntnis) oder: "Credo ut intelligam" (ich glaube, damit ich erkenne, oder ich glaube, um zu erkennen!). Darum hat es aller christlicher Theologie und Existenz zu gehen.

"Gott ist Gott!", sagt Karl Barth einmal, und wir werden ganz einfach immer wieder neu mit diesem Gott anzufangen haben, wenn wir nicht an einen Götzen glauben oder einer Ideologie von Gott nachhängen wollen.

Hören wir noch einmal Karl Barth, der in seinem berühmt gewordenen Kommentar zum Römerbrief von 1919 feststellt:

"Denn wenn der Mensch sich selber wird, so muss sich seine herrenlos gewordene Welt mit Götzen füllen, und wenn die Welt voll Götzen ist, dann muss sich der Mensch je länger je mehr als der alleinige Gott unter seinen Abgöttern, als die einzige Wahrheit unter den Schattenbildern fühlen ... Das Nicht-Suchen oder Wieder-Verlieren der positiven dynamischen Gemeinschaft mit Gott ist also nicht Verhängnis, sondern Schuld." [10]
Es mangelt uns oft selbstgerecht daran, uns dies einzugestehen. Das bedeutet, dass Gott in unserer Gesellschaft längst entthront und heimatlos gemacht worden ist, und in seiner Ratlosigkeit versucht der Mensch, die Leere nun bald durch diese Idee von Gott, bald durch jene zu ersetzen. So sind wir längst, um es mit Alexander Mitscherlich zu formulieren, auf dem Weg in die `vaterlose Gesellschaft’, in eine Gesellschaft damit auch ohne Gott oder mit selbstgemachten Göttern.

4. Die positive Wendung: Gott und sein Mensch!

Wer an den Gott der Bibel glaubt, wird diesen Gott ja immer als Gott, den Schöpfer, zu glauben haben. Von diesem Gott bin ich gewollt und bejaht, dieser Gott schenkt uns das Leben vor dem Tod und bleibt Gott auch an dieser Schwelle des Lebens. Dieser Gott ist es, der dem Menschen dann den Lebensraum zur Verfügung stellt, die Natur und Kreatur. So wie der Gott der Schöpfung nicht isoliert leben will, so soll nun auch das Gegenüber Gottes in Gemeinschaft leben dürfen. In dieser positiven Bejahung durch Gott, den Schöpfer, wird dem Menschen die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seiner Existenz mitgegeben.

In der tiefen Weisheit des ersten Schöpfungsberichtes steht der Mensch am Ende all dessen, was Gott so gewollt, bejaht und darum auch so geschaffen hat. Und doch wird gerade der Mensch in einem Atemzug mit den Tieren genannt. Zusammen bilden sie in den Ur-geschichten der Bibel den Abschluss der Schöpfung.

Der Mensch, mit seiner Fähigkeit zu denken und zu fühlen, sein eigenes Leben und das der Welt konstruktiv zu gestalten, wird zum Ebenbild seines Gottes. Er allein kann mit seinem Tun auf das Tun Gottes antworten, ja er wird geradezu von Gott für die ganze Schöpfung in die Pflicht genommen: Er, der Mensch, soll die Erde `bebauen und bewahren’, `bedienen und hüten’, wie es Martin Buber übersetzt. [11] Herrschaft, wie sie hier angedeutet ist, bleibt immer eine Herrschaft unter Gott, sie bleibt verantwortlich und nicht willkürlich.

Theologisch darf der Mensch sein, weil es diesen Gott für ihn gibt. Gegen alle Welt-erfahrung, die uns den Glauben schwer macht, gegen allen Zweifel und Verlust, der das Leben des Menschen begleitet, gilt allen Menschen die positive Zusage, dass er es in jedem Fall, in jeder Situation mit Gott zu tun hat. Gerade auch dort, wo ich mit dem vielfachen Tod rechnen muss, oder er mich ganz allein in meiner Existenz betrifft, heißt es dies wahrzunehmen und zu hören, dass Gott zu seinem Menschen steht.

Und ich denke, dass es einen Unterschied macht, ob ich mich von einem blinden Fatum (Schicksal) abhängig weiß oder von Gott: Auflehnung und Klage sind hier so wenig möglich, wie andererseits die Dankbarkeit. Dem Schicksal bin ich ausgeliefert, Gott bin ich ein bejahtes Gegenüber.

Schauen wir uns an, wie Hiob mit Gott ins Gericht geht, der ihm in aller Klage den-noch Gott bleibt. Hiob kämpft und ringt in den Tiefen seiner Existenz mit diesem Gott, dem er das Leben verdankt und den er daher auch auf seiner Seite weiß. Oder lesen wir wieder einmal die Psalmen, mit all ihrem menschlichen Realismus, wo eben nicht nur dankbar die schönen Seiten des Lebens angenommen sind, sondern auch die Tiefen beklagt werden dürfen. Doch dort, wo ich mit meiner Klage vor Gott trete, habe ich ja wieder dieses Gegenüber, dem ich mich im Grundsatz meines Lebens verbunden weiß. Wenn ich mit einem der Psalmbeter sagen kann: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, Herr, höre meine Stimme ..." (Ps. 130), so hat das eine andere Qualität, als wenn ich zum Schweigen verurteilt bin, weil ich gar nicht weiß, wem ich mein Leid noch klagen könnte?

Oder schauen wir in das Neue Testament, wo der historische Jesus - gar nicht so selbstverständlich - seinen Weg zum Kreuz geht, wo er mit Gott ringt - bis hin dann zum Wort vom Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen ..." (Ps. 22, 1). Doch mit diesem Gebet seiner Väter - und das wird oft missverstanden - wendet er sich ja an Gott. Und Gott selbst ist es, der hier am Kreuz das Leid der Welt mitträgt. Er ist eben - und das ist doch ein Teil der Botschaft vom Kreuz - kein distanzierter, sondern ein sich solidarisierender Gott.

Wo Menschen in der Welt leiden, dort, ja gerade dort, leidet Gott mit. Das Kreuz ist das große Symbol dieses Mitleidens. Dagegen steht der Osterglaube für einen neuen Tag der Schöpfung. Wer das Ostergeschehen glaubt, nämlich dass der Gekreuzigte im Glauben der Glaubenden lebt, wird den Herrschaftsmächten dieser Welt gegenüber freier werden, der wird nicht nur das Ende, sondern auch die Anfänge in Gottes Hand wissen. Wer an den Gott der Schöpfung und des Lebens glaubt, der wird nun gar nicht anders mehr können, als dankbar zu leben - gerade angesichts der gesetzten Grenzen, die uns immer wieder einmal schmerzen mögen. Hier hat der christliche Gottesdienst in allen Konfessionen nicht nur seine biblische Begründung, sondern seine moderne theologische, aber auch therapeutische Funktion.

Gerhard Ebeling formuliert es im Blick auf Luther ebenso zutreffend, wie großartig, wenn er sagt: "Die Christen schulden ihr (der Welt) kaum etwas so sehr wie den Erweis eines Denkens aus der Freiheit des Glaubens." Und: "Das Vermächtnis der Reformation ruft uns schließlich dazu auf, die Freiheit des Glaubens auch mit der Tat zu verantworten ..." [12] Alles andere ist Rebellion, Auflehnung gegen Gott und menschliche Schuld, wovon selbst die Kirchen in ihrer so menschlichen Gestalt genug auf sich geladen haben. So werden auch sie wieder neu zu hören, zu glauben und neu anzufangen haben, um Schuld und Versagen der Väter nicht durch weitere und eigene Schuld und weiteres Versagen fortzusetzen.

Doch täuschen wir uns nicht. Als Menschen in der Kirche werden wir auch unserem Menschsein und unserer menschlichen Natur verbunden bleiben - und uns so auch schuldig machen. In diesem Sinn meint Luther ein wenig tröstend: "Sündige tapfer, glaube tapferer ...!" Und wer mit dem Finger auf die Kirche zeigt, sollte sich zu-nächst einmal danach fragen, wer denn nun eigentlich "die Kirche" ist, wenn nicht die Menschen, die in ihr als getaufte Glieder leben, solange sie sich nicht von sich aus der kirchlichen Gemeinschaft ausschließen.

In der FAZ konnte man einmal lesen: "Was von der Kirche erwartet wird". Dort stand: "Die Kirche muss mehr als bisher dafür tun, dass individuelle Wert-vorstellungen und unterschiedliche Formen der Frömmigkeit Raum haben. Im Unterschied zu früheren Zeiten wird sie dies nicht mit unangefochtener moralischer Autorität tun können. Und das ist gut so. Sie wird sich nämlich nur dann in der Konkurrenz der Sinndeuter behaupten, wenn sich ihre biblisch begründeten Antworten als tauglich für die Moderne erweisen ... Die Kirche muss sich auf die Lebenswirklichkeit des Einzelnen einlassen als nachfragende Kirche, die Deutungsangebote für bestimmte biographische Momente bereithält ... (So) erwartet der Einzelne von der Kirche nach wie vor, dass sie Not lindert, Anteil nimmt, Trost spendet, Perspektiven in schwierigen Situationen weist ..." [13] In dieser Weise sind wir mit unserem Dienst in einer säkularen Gesellschaft gefordert.

5. Die Gottesfrage als Protest gegen die Gleichgültigkeit

Wie wir in immer anderen Varianten gehört haben, gilt es biblisch und als Christen wahrzunehmen, dass es die Gottesfrage gar nicht anders geben kann, als dass wir mit ihr zugleich vor die Frage nach dem Sinn unserer menschlichen Existenz gestellt sind. Hier wird die Frage nach dem Sinn positiv oder negativ beantwortet.Hier er- leben wir ja nun auch ganz modern mit dem Fehlen eines tragfähigen Glaubens den vielfach verfehlten Sinn des Lebens, - des Menschen Unzufriedenheit, seine Zweifel, die Sehnsucht zum Übermenschen (Nietzsche) zu mutieren, die ganze Gleichgül-tigkeit in den immer gleichförmiger ablaufenden Geschehnissen seines Lebens: Von der Arbeit, dem Leben in der Familie und im Freundeskreis bis hin zur Gestaltung der Freizeit.

Das Wehklagen zahlloser gesellschaftlicher Organisationen, wie Parteien, Gewerk-schaften, Verbänden und Vereinen, ja oft den Kirchen selbst führt kaum zu einem sinnvollen Ergebnis, wenn nicht überall zuerst einmal bei sich selbst angefangen wird, den Ursachen der vermeintlichen Orientierungslosigkeit und dem vielfach er-fahrbaren Sinnverlust auf den Grund zu gehen. Hier gilt es doch wieder: Credo ut intelligam! Weder mit neuen Ideologien oder modisch religiösen Strömungen, noch mit dem Rückzug ins Private werden wir der Misere auf den Grund kommen, dazu bedarf es mehr.

Doch positiv glaube ich - bis zum Beweis des Gegenteils - dass wir mit dem biblischen Gott, den wir nicht einfach haben, sondern um den wir uns immer und immer wieder neu bemühen müssen, zu immer neuen Anfängen aufgerufen sind. Wir haben Teil an der Schöpfung, dem Schöpfungswerk Gottes, das ja bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen ist, und wir sind in eine unglaubliche Freiheit des Denkens, Fühlens und Schaffens hineingestellt. Das ruft uns heraus aus aller Resignation und Inaktivität, die sich uns oft schlicht als Unglaube entlarven - und macht uns Mut, die Gegenwart in der sozialen Gestalt des Glaubens anzugehen und zu meistern und so mit immer neuen und begründeten Hoffnungen auch in die Zukunft unseres Lebens hineinzuleben. In diesem Sinne wurde Jesus von Nazareth "Gottes guter Widerspruch" [14] zu unserer Art zu leben, zu glauben.

Wer an den Gott der Schöpfung glaubt, muss zu einem Protestanten werden, wenn er sieht, wie wir Menschen der Schöpfung mit Gleichgültigkeit gegenüberstehen.

Der Protest, den wir gegen jede Form von Gleichgültigkeit anzumelden haben, wird die Selbstkritik mit einbeziehen, denn wir alle leben ja mit unseren Grenzen. Er wird um die notwendige Offenheit und Liebe wissen müssen, soll er Gehör finden können. Und doch werden Christen zunehmend ihr eigenes Wort zu sagen haben, je mehr sie gesellschaftlich zu einer Minderheit werden. Das aber wird sie für viele Menschen eckiger und kantiger machen, doch eben auch wieder einmal interessanter und glaubwürdiger, d.h., würdig, dass man ihnen glaubt, abnimmt, was sie vorgeben zu glauben.

6. Schlussbemerkung

In diesem Sinne dürfen Christen und Nicht-Christen miteinander im Gespräch bleiben und miteinander nach dem Sinn ihres Lebens fragen und damit auch nach Gott. Ich danke Ihnen.

Literaturverzeichnis

  1. Psychologie Heute, 7/1995
  2. Goethe, Faust I/II, Bibliothek der Weltliteratur, Berlin, 1986, S. 428
  3. Philosophie, Heft 15 Religion, Hirschgraben Verlag, Frankfurt, S. 30
  4. Gollwitzer, Helmut, Krummes Holz - aufrechter Gang, Chr. Kaiser,
    8. Aufl. 1979, S. 62
  5. Neues Testament (Bibel), Lukas 12, 15-21
  6. Gollwitzer,H., Krummes Holz ..., Vorwort
  7. Gollwitzer, H., Gottes Offenbarung und unsere Vorstellung von Gott,
    Chr. Kaiser Verlag, München, 1965
  8. Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt, J.C.B. Mohr, 1982, 4, S. 340f
  9. Noll, Peter, Diktate über Sterben und Tod, pendo, Zürich, 1984, S. 280
  10. Barth, Karl, Der Römerbrief, 1919, TVZ 1985, S. 27/29
  11. Buber, Martin, Die fünf Bücher der Weisung, J. Gegner, Köln
  12. Ebeling, Gerhard, Lutherstudien, Bd. 1, J.C.B. Mohr, Tübingen, 1971, S. 321ff
  13. FAZ, 29.12.1995
  14. Eicher, Peter, Der gute Widerspruch, Patmos, 1986
Als weitere, nicht weiter benannte Literatur wurde benutzt: Letzte Änderung: 26.05.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider