Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Altjahrsabend 2000, Sprüche 16, 1-9

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Dieser Gottesdienst zum Jahresende lädt uns dazu ein, ein wenig nachdenklich zu werden, uns zu besinnen, zu erinnern, uns zu sammeln und Ruhe zu finden, bevor diese Nacht laut wird. Sehr herzlich begrüße ich alle Gäste aus der Nähe und vor allem aus der Ferne, die diesen Gottesdienst mit uns zusammen feiern.

Miteinander wollen wir bedenken, was uns die Zukunft bringen mag: keine Wahrsagerei, kein Hellsehen, doch weitsichtig werden, offen für ein neues Jahr in unserem Leben, für neue Begegnungen, neue Anfänge. Es ist gut, wenn wir unseren Gedanken noch einmal nachhängen, uns darauf besinnen, was uns im vergangenen Jahr geschenkt war, was wir vielleicht auch verloren haben und was nun im kommenden Jahr an Neuem, Überraschendem, an Höhen oder Tiefen auf uns zu kommen mag. Immer tragen wir unsere Vergangenheit unauslöschlich mit uns, und so dürfen wir gerade zum Jahreswechsel hören, was Hermann Hesse so zum Ausdruck brachte:

...
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben ...
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!!

Predigttext:

Ein Mensch denkt sich manches aus, aber das letzte Wort dazu spricht Gott. Der Mensch hält alles, was er tut, für richtig; Gott aber prüft die Beweggründe. Lass Gott über dein Tun entscheiden, dann werden sich deine Pläne erfüllen! Gott hat alles auf ein Ziel hin geschaffen, so auch die Bösen für die Tage des Unheils. Hochmütige kann Gott nicht ausstehen; verlass dich darauf: sie werden ihrer Strafe nicht entgehen. Wenn ein Mensch treu zu Gott hält und das Gute tut, wird ihm die Schuld vergeben. Alle, die Gott ernst nehmen, entgehen dem Unheil. Wenn Gott mit deinem Tun einverstanden ist, dann macht er sogar deine Feinde bereit, mit dir Frieden zu schließen. Lieber wenig, aber ehrlich verdient, als ein großer Gewinn aus unlauteren Geschäften. Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg und macht Pläne - doch ob sie ausgeführt werden, liegt bei Gott.

Sprüche 16, 1-9

Gebet:

Herr, unser Gott! Ein weiteres Jahr unseres Lebens geht seinem Ende zu. Wir denken zurück, dankbar für das, was uns geschenkt wurde und für alles, was uns verdient gegeben war. Wir denken an manches, was uns belastet hat, was uns nicht glückte: vertane Chancen, missratene Begegnungen, leere Tage, verfehlte Wege. Neben Glück und Erfolg also auch Versagen und Schuld. Nachdenklich kommen wir vor dich, Gott, weil wir oft nicht wissen, was sinnvoll für unser Leben ist, was sich bewähren wird. Herr, oft bist du uns fern und fremd, doch das liegt mit an uns, weil wir uns die Zeit zur Auseinandersetzung mit dir nicht nehmen, die Ruhe - und so bleibt unser Leben, unser Tun und Lassen, unsere Arbeit und Freizeit, unsere Beziehungen und in Frage gestellte Beziehungen vielfach unreflektiert. Darum kommen wir zu dir und bitten dich um deine Gegenwart in unserem Leben. Amen.
Liebe Gemeinde,

Nun ist auch dieses Jahr vergangen, in das viele von uns mit so großen Erwartungen, aber zum Teil eben auch Befürchtungen hineingegangen sind. Der Jahrtausendwechsel letztes Silvester nachhaltig bedacht und gefeiert, steht ja tatsächlich erst heute Nacht an: heute gehen wir aus dem Jahr 2000 in das erste Jahr eines neuen Jahrtausends. Doch alles, was uns an diesem Abend bewegt, begleitet genau genommen, jeden Silvesterabend, jeden Wechsel von einem Jahr in ein anderes.

Dem einen oder anderen in unserer Gesellschaft wird es zu wenig sein, heute mit Freunden zusammen zu sitzen, zu essen und zu trinken, um dann das neue Jahr mit einigen Krachern lautstark zu begrüßen. Vielen Menschen ist gerade dieser eine Abend im Jahr bedeutsam, um noch einmal inne zu halten, zur Ruhe zu kommen, vielleicht, um noch einmal zurückzudenken in das vergangene Jahr mit all dem, was erlebt, was angefangen, weitergeführt und abgeschlossen werden konnte. Wir erlebten Herausforderungen, erfolgreiche Examen und Prüfungen, Bestehen und Nichtbestehen, wie es einem eben nur das Leben auferlegen kann. Es gab Hochzeiten, den Mut zur Bindung. Doch auch Scheidungen, das Ende erlebter Beziehungen. Kinder wurden geboren, neues Leben in unserer Mitte. Wir erfuhren den Tod, der uns unsere Grenzen hautnah aufzeigte, oft betroffen und traurig machte. So war jeder Tag auf seine eigene Weise geprägt, und er prägte uns.

Wer in diesen Stunden an Vergangenes zurückdenkt, wagt ja sofort auch den Blick über 24.00 Uhr hinaus auf das kommende Jahr. 2001, was mag es uns an neuen Erfahrungen bringen, in welcher Weise werden wir beschenkt werden, was wird uns glücken, was werden wir ganz neu als Aufgabe zu bestehen und an Überkommenem fortzuführen haben? Welche Grenzen werden wir erfahren und welches Leid uns zugefügt werden? Wer den Blick in ein neues Jahr wagt, wird bereit sein müssen, einerseits offene Fragen zuzulassen, andererseits aber mit Mut und großen Hoffnungen in das weitere Leben hineingehen.

Doch wie? Was bewegt uns, und wovon lassen wir uns bewegen, was soll uns wichtig bleiben oder werden, wofür lohnt es sich, zu arbeiten, zu lieben, zu leiden, sich einzusetzen - auch über den eigenen Gartenzaun hinweg? Welche Ziele müssen neu bestimmt, was an Erfahrungen überdacht werden? Dieser Abend wäre schlecht genutzt, wenn wir ihn erleben würden, wie es uns im Märchen vom Fischer und seiner Frau [1] erzählt wird. Alle Wünsche bekommt die Frau des Fischers erfüllt, bis sie nicht mehr nur Kaiser, sondern schließlich sogar Papst und dann auch noch wie Gott sein will, und als sie sich danach umschaut, sitzt sie wieder in ihrem alten Pott, - dort, wo sie herkam.

Und davon spricht heute unser Text aus der Weisheitsliteratur Israels. Satz für Satz hört sich an wie unsere alten und bekannten Sprichwörter: "Morgenstund hat Gold im Mund" oder "wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht Wert!" Wir kennen solche Sätze, die oft gehäkelt in der Küche hingen und die Vorfahren daran erinnerten, was gesellschaftlicher Standart ist. So muss man sich verhalten, dann liegt man im gewünschten Trend. Diese Sätze prägte man den Kindern ein, damit sie sich angemessen durch ihr Leben bewegen konnten.

Die Spruchsammlung der Bibel erfüllt den gleichen Zweck: Menschen sollen gebildet werden, sie sollen hören, wie es sich richtig leben lässt und wo es lang geht. Allerdings wurden diese Leitsätze für ein gelingendes Leben fast immer auf Gott hin oder von Gott her formuliert. In unserem kleinen Text geht es um das Ineinander vom Planen des Menschen und seinen Wünschen und dem, was Gott denkt. Aus dem Willen Gottes heraus, soll der Mensch sein Tun entwickeln, weil sein Leben dann in einer ganz anderen Weise, als oft gedacht, gelingen wird.

Dabei hören wir einen Satz heute sicher besonders, da er uns bekannt vorkommt:

Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg und macht Pläne - doch ob sie ausgeführt werden, liegt bei Gott.

Schnell und oft wenig bedacht sagen wir: "Der Mensch denkt, Gott lenkt!" Doch wir verwenden diesen Satz dort oberflächlich, wo ihn so verstehen, als wären wir damit aus unserer Weltverantwortung entlassen: Gott wird schon alles richten, wir sind ja eh’ ohnmächtig! Es kommt, recht verstanden, darauf an, dass ich mich immer besser von Gott her auf ein menschenwürdiges Leben hin ausrichten, der Natur und Kreatur ihren natürlichen Lebensraum lasse und somit lerne, auch Grenzen für mich zu akzeptieren.

Wir können uns für ein neues Jahr in unserem Leben, für einen neuen oder veränderten Lebensabschnitt denken und wünschen, was wir wollen, wobei wir ja nicht einmal ahnen können, was Gott selbst für uns zulassen wird. An den Grenzen unsers Lebens erfahren wir die Richtigkeit dieses Satzes, da werden Fragen laut, die uns kaum beantwortbar sind:

Warum bin ich, warum wurde ich so, wie ich bin? - Warum liebe ich gerade diesen Menschen und warum werde ich geliebt, wo doch andere Menschen so viel Lieblosigkeit erfahren? - Woher kommt gerade mein Glück, aber das Unglück anderer? - Warum wurde gerade ich so unheilvoll krank, wenn andere doch bis ins hohe Alter hinein gesund sein dürfen? - Warum muss gerade ich diesen oder jenen Schicksalsschlag erleiden, während andere davon verschont bleiben? - Warum musste jemand gerade mir so unvermutet sterben, der mir wichtig war?

Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg und macht Pläne - doch ob sie ausgeführt werden, liegt bei Gott.

Es ist von unserem Herzen die Rede, aber wie steht es darum? Wir leben in einer Zeit der Herzbeschwerden und Herzerkrankungen, sie gehören doch heute zu den Zivilisationserkrankungen und wer sie nicht kennt, ist eben nicht up to date. Wir denken an weitherzige Menschen oder haben ein schweres Herz. Schön ist es, wenn Verliebte sich sagen: Dir, dir gehört mein ganzes Herz, und traurig sind alle Menschen, denen das Herz gebrochen wird.

Das Herz: es ist ein fast faustgroßer Muskel, der ein Leben lang Blut durch den Körper pumpt. Mit jedem Herzschlag 70 ml, pro Minute 5 Liter, pro Stunde 300 Liter und an einem Tag ca. 7.200 Liter, von daher wird deutlich, warum das Herz so wichtig für uns Menschen ist. Im biblischen Denken ist das Herz der gestaltende Faktor des menschlichen Tuns, es bewegt uns weit über den Transport unseres Blutes hinaus.

Heute können wir sogar in ein Herz hineinschauen, wie wir es hier auf diesem Röntgenbild sehen können. Medizinisch lässt sich da manches erfahren, z.B., ob ein Herz gesund, gefährdet oder krank ist [2]. Was wir aber auf keinem Röntgenbild erkennen können, ist, ob dieses Herz in einem übertragenen Sinne gut oder schlecht ist, für wen es schlägt oder gegen wen es sich verhärtet?

In "Der Kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupery finden wir den bekannten Gedanken: "Hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar ..." [3]

In eben diesem Sinne spricht auch unser Text in einem wunderschönen Bild vom Herzen und von Gott, weil eben letztendlich "das Wesentliche für die Augen unsichtbar ist ..." Einerseits werden wir mitverantwortlich gemacht für das, was unser Herz anstellt oder verweigert, woher wir unsere Maßstäbe nehmen oder was wir uns zum Ziel setzen, doch andererseits dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott uns in den Höhen, wie in den Tiefen unserer Welterfahrung die Möglichkeiten für ein gelingendes Leben schenkt. Gott überlässt weder uns noch diese Welt sich selbst, sie ist und bleibt für uns der schöpferische Auftrag, den es Tag für Tag neu zu gestalten gilt.

Wer das einmal erkannt hat, muss sich für ein Leben in Verantwortung für alles, was uns anvertraut ist, entscheiden; wie aber auch für die Würde, mit der wir unseren Weg gehen. Albert Schweitzer hat nicht umsonst von der "Ehrfurcht" gesprochen, die in jede Richtung gilt: Gott wie der Welt gegenüber.

An der Grenze zu einem neuen Jahr, die sogar eine Jahrtausendgrenze ist, lohnt es sich, wieder einmal über uns selbst hinaus nachzudenken, um zu erkennen, dass unserem Leben Grenzen gesetzt sind, innerhalb derer wir aber gefordert sind: ebenso nachdenklich, wie mutig; - empfindsam, wie entschlossen; - ernsthaft, wie fröhlich. Wo der Gott Israels auch uns wieder in den Blick kommt, werden wir fast zwangsläufig beim Menschen und in seiner Welt ankommen. So verknüpft sich die Weisheit Israels mit unserer Gegenwart, wie immer sie von uns erfahren wird.

Nehmen wir Gott mit in ein neues Jahr unseres Lebens, dankbar dafür, dass unser Herz in uns noch schlagen kann und uns bewegt. Doch wohin bewegen wir uns, und von woher lassen wir uns bewegen? Erlauben wir uns gerade heute ein solches Fragen, damit wir geistvoll in das kommende Jahr hineingehen und es nicht geistlos in 365 Tagen wieder - mehr oder weniger unerfüllt - hinter uns lassen.

Weil "das Wesentliche für die Augen unsichtbar ist ...", deshalb bedenken wir unsere Existenz und Zukunft: "Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg und macht Pläne - doch ob sie ausgeführt werden, liegt bei Gott". Ich wünsche Ihnen und Euch allen einen fröhlichen Silvesterabend und ein glückendes neues Jahr in Ihrem und Eurem Leben.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Amen.


Literatur:

  1. Borchers, Elisabeth, Deutsche Märchen, Insel, Frankfurt a.M. 1979, Vom Fischer und seiner Frau, S. 158f
  2. Hodenberg, Gerhard Frhr., Vortrag: Grenzen und Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie von Herzerkrankungen
  3. De Saint-Exupery, Antoine, Der kleine Prinz, Düsseldorf 1992/2, S. 97f
außerdem:

Letzte Änderung: 07.01.2001
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider