Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Volkstrauertag, 16.11.2003
Ps 22,2-8,16-23,26

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Wir alle kennen das aus unserem Leben, dass wir uns nach dem Woher und Wohin fragen, dem Grund unseres Daseins, doch auch nach dem Warum, wenn uns unser Lebensweg dunkel und uneinsichtig erscheint. Es gibt wohl kaum ein Leben, das sich dieser Frage entziehen kann.

In den Bildern von Willi Boos, den ich sehr herzlich mit seiner Partnerin in unserer Mitte begrüßen und Willkommen heißen möchte, geht es vielfach um die Einsamkeit des Menschen. Doch immer wieder wird das den Menschen umgebende Dunkel vom Licht durchbrochen, ein Licht, das Weg und Zukunft weisen hilft.

HERR, zeige mir den richtigen Weg, damit ich in Treue zu dir mein Leben führe! Lass es meine einzige Sorge sein, dich zu ehren.
(Psalm 86,11)

Gebet:

Herr, guter Gott! Wir alle möchten irgendwie "nach Hause kommen" können, wie es mit dem Thema unserer Bilderausstellung zum Ausdruck gebracht wird, einen Ort finden, an dem wir unser Leben in Ruhe und Frieden leben können. Doch wir leben unserer eigenen Menschenwürde entfremdet, im Unfrieden mit uns selbst und anderen Menschen. Der "Volkstrauertag" erinnert uns an die Friedlosigkeit auch zwischen Völkern und Staaten, den reichen und den armen Nationen dieser Erde, den Religionen und Konfessionen. Jeder redet vom Frieden, doch wer beginnt, ihn zu leben?

Wir fragen "warum", warum muss das so sein? Diese Frage begleitet uns durch die Tiefen und Infragestellungen unseres ganzen Lebens, an den Grenzen, die wir nicht mehr verstehen können, der Ungewissheit, die wir nicht aushalten, den Schatten, die uns verfolgen. Herr, wir bitten dich um deine Nähe, damit unser Fragen und Suchen einen Sinn bekommt.
Amen.

Predigttext:

Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?
Warum hilfst du nicht, wenn ich schreie,
warum bist du so fern?
Mein Gott, Tag und Nacht rufe ich um Hilfe,
doch du antwortest nicht
und schenkst mir keine Ruhe.
Du bist doch der heilige Gott,
dem Israel Danklieder singt!
Auf dich verließen sich unsere Väter,
sie vertrauten dir, und du hast sie gerettet.
Sie schrien zu dir und wurden befreit;
sie hofften auf dich
und wurden nicht enttäuscht.
Doch ich bin kaum noch ein Mensch,
ich bin ein Wurm,
von allen verhöhnt und verachtet.
Wer mich sieht, macht sich über mich lustig,
verzieht den Mund und schüttelt den Kopf.

Meine Kehle ist ausgedörrt,
die Zunge klebt mir am Gaumen,
ich sehe mich schon im Grab liegen -
und du lässt das alles zu!
Eine Verbrecherbande hat mich umstellt;
Hunde sind sie, die mir keinen Ausweg lassen.
Sie zerfetzen mir Hände und Füße.
Alle meine Rippen kann ich zählen;
und sie stehen dabei und gaffen mich an.
Schon losen sie um meine Kleider
und verteilen sie unter sich.
Bleib nicht fern von mir, HERR!
Du bist mein Retter, komm und hilf mir!
Rette mich vor dem Schwert meiner Feinde,
rette mein Leben vor der Hundemeute!
Reiß mich aus dem Rachen des Löwen,
rette mich vor den Hörnern der wilden Stiere!
HERR, du hast mich erhört!
Ich will meinen Brüdern von dir erzählen,
in der Gemeinde will ich dich preisen...

Ich danke dir, HERR,
vor der ganzen Gemeinde.
Vor den Augen aller, die dich ehren ...


Liebe Gemeinde!

Warum, warum nur? Diese Frage ist mir oft in meinem Leben begegnet und wird mir wohl auch immer wieder einmal im Leben begegnen. Ja, ich habe sie hier und da natürlich auch selbst gestellt, wo mir mein Lebensweg rätselhaft und unverständlich erschien, der Tod meiner Frau einen tiefen Schatten auf mein Leben warf. Warum? Diese Frage wird wohl in jedem Leben gestellt werden, es ist eine das menschliche Leben begleitende und bewegende Frage. Gerade dort wird sie aufgeworfen, wo wir nicht mehr weiter wissen, uns allein gelassen, einsam oder verletzt fühlen.

Wir alle kennen die Worte Jesu vom Kreuz aus dem 22. Psalm, den wir eben gehört haben: "Mein, Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Jesus selbst kennt die Not der Einsamkeit, er musste seinen Weg bis in den Tod hinein allein gehen und niemand konnte ihm dieses Leiden und Sterben abnehmen. Doch gerade hier in der tiefsten Tiefe menschlichen Elends und Leidens wird Gott dieses quälende "Warum" entgegengeschleudert, denn wie sollten wir Menschen auf eine solche Frage eine Antwort wissen?

Jesus lebt so menschlich, dass er um das Kreuz der Einsamkeit oder die Wohltat der Ruhe weiß und oft ist es ein und derselbe Ort an dem beides möglich ist: wohltuende, helfende und schöpferische Ruhe und eine tödliche Einsamkeit, die Situation entscheidet darüber. So zieht er sich in die Wüste zurück, um zu beten. Hier in der Abgeschiedenheit der Wüste, die in der erbarmungslosen Sonnenglut alles Leben absterben lässt, findet er Ruhe, findet er zu seinem väterlichen Gott und zu sich selbst. Gerade die Wüste ist aber auch der Ort tödlicher Einsamkeit. Hier sterben bis auf den heutigen Tag Menschen, die alleingelassen sind, keine Hilfe mehr bekommen. Er zieht sich zurück in ein Boot, das ihn vor den Menschenmassen in Sicherheit bringt, - auf einen Berg, wo er für eine gewisse Zeit wenigstens einmal zur Besinnung kommen kann. Noch vor seiner Verhaftung sucht er betend das Alleinsein, und spürt doch, dass er nun von allen guten Geistern verlassen ist, einsam geworden, weil den Weg, den er zu gehen hat, keiner seiner Freunde mitgehen kann.

Das Alleinsein ist in der Regel auszuhalten, die Einsamkeit dagegen nicht. Das ist ja auch der Hintergrund dafür, dass uns in der Schöpfungsgeschichte berichtet wird, dass Gott dem Menschen, Adam, einen anderen Menschen gegenüberstellt, weil es nicht gut ist, dass der Mensch allein ist, allein in dem Sinne von Einsamkeit, ohne Gegenüber, ohne Kontakte, ohne Liebe, Familie oder Freunde, ohne Heimat. Herbert Grönemeyer singt in einem seiner neuesten Lieder: "Keine Heimat!" "Gesichter sehen verbittert aus, kein Lachen, kein ähnlicher Laut, die Mienen gefroren. Vom Ehrgeiz getrieben, schmal der Mund, Züge verhärmt, ungesund... Die Seele verhökert, alles sinnentleert, keine innere Heimat, keine Heimat mehr..." Es ist sein aufmerksames Gespür für den Zustand unserer Zeit.

Wir sehen hier ein Bild. Willi Boos, stellt eine Frau dar, die von dunklen Schatten umgeben, aus diesen herauszutreten scheint. Im Hintergrund Häuserfassaden einer Stadt, davor Bäume. Es ist ein Bild, das die Einsamkeit des Menschen deutlich macht, die ja auch in anderen Bildern des Künstlers dargestellt wird. Willi Boos nimmt die Welt, wie er es mir gegenüber einmal zum Ausdruck brachte, sehr bewusst wahr:
"Das Leben in einer Zeit der Globalisierung der Wirtschaft, Arbeitslosigkeit, Konkurrenzdenken, Karriere und Leistungsdruck..." Er sieht den "Bedeutungsverlust der konventionellen Familienstruktur," die "Unfähigkeit, eine Beziehung zu führen und der häufige Partnerwechsel," ja den "Partnerverlust." Auf dem Hintergrund seiner eigenen Biografie nimmt er die "Integrationsprobleme für Ausländer und Aussiedler" wahr. So schrieb er mir einmal: "Ich male einsame Menschen und Schaufensterpuppen, die für mich die tiefste Einsamkeit symbolisieren. Meine Bilder haben eine gewisse melancholische Grundstimmung. Aber ich versuche diese durch das Licht-Schatten-Verhältnis aufzubrechen und gebe damit einen Ausblick, eine Hoffnung..."

Und eben das wird ja auch auf diesem Bild sichtbar. Das Licht bricht von oben herab in die Dunkelheit hinein, es fängt an, den Weg dieser Frau zu beleuchten. Sie ist allein, wirkt einsam, doch das Licht, das die Schatten durchbricht ist ein Zeichen der Hoffnung. Da dieses Bild mit dem Titel "Erwartungsvoller Tag" unterschrieben ist, wissen wir nun auch, dass der Künstler an die Dunkelheiten und Schatten der Nacht denkt, die durch die ersten Sonnenstrahlen aufgebrochen werden. Die Nacht ist vorbei, ein neuer Tag beginnt. Auch mit einem Bild kann die biblische Botschaft ausgelegt werden.

Das "Warum" Jesu vom Kreuz auf Golgatha, war und blieb ja nicht das letzte Wort. Jesus greift hier sehr bewusst auf ein wohlbekanntes Psalmwort zurück. Steht die Frage nach dem "Warum" am Anfang dieses Psalmes, so entwickelt sich dieses Wort weiter bis hin zu einem großartigen Gotteslob. Der Psalmbeter weiß um die Spannweite menschlicher Existenz, er kennt das Leid, die Einsamkeit, die materielle oder seelische Existenznot, die vielfach unser Leben begleiten, doch er will nicht resignierend in seiner Einsamkeit verharren und so schreit er sich Gott entgegen, dem Gott, der ihm und seinem Leben noch geblieben ist.

Das biblische Wort wird ja da zu einem Wort der Befreiung, wo es uns eine Richtung aufzeigen kann, eine Art Wegweiser aus den Miseren unserer eigenen Existenz. Jesus wusste darum, er kannte die Worte des Glaubens, und lebte mit ihnen bis in den Tod hinein. Es ist gut, wenn unser vielleicht sogar wortloser Schrei nach dem "Warum" eine Richtung hat, einen Adressaten. Selbst in der tiefsten Not wird dieser scheinbar verzweifelte Schrei Jesu zu einem Hinweis auf Gott, ja zu einem Bekenntnis seines Glaubens, zu einem Lichtschein in die Dunkelheiten der Welt.

Heute ist der "Volkstrauertag". Menschen denken an die beiden Weltkriege und an die Toten dieser Kriege, an den Verlust ihrer vertrauten Heimat, an die Flucht, an Hunger, Kälte, Leid und Elend bis man endlich auf unendlichen Wegen eine neue Heimat finden konnte. Die Ausstellung drüben im Kreuzgang ist eingebettet in weitere Ausstellungen in und um Lahr herum. Künstler aus der ehemaligen UDSSR haben über das Thema "Nach Hause kommen" nachgedacht und weisen damit darauf hin, was wir alle in unserem Leben brauchen, einen Ort, an dem wir im Frieden leben dürfen.

Diesem Titel folgt ein Wort von Friederich von Bodelschwingh, der in Bethel bei Bielefeld Menschen eine Heimat schenkte, die unsere Gesellschaft ausgestoßen, verdrängt, vernachlässigt hat: Epileptiker, Geisteskranke und Behinderte jeder Art. "`Nach Hause kommen,´ das ist es, so Bodelschwingh, was das Kind von Bethlehem allen schenken will, die weinen, wachen und wandern auf dieser Erde..."
Heute, am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr sind wir also schon auf den Advent hingewiesen. Das alte Jahr geht seinem Ende entgegen, ein neues Jahr unseres Lebens liegt vor uns. So Gott will geht es weiter und die Schatten der vergangenen Lebensjahre, die manche von uns leidvoll empfunden haben, werden von diesem hoffnungsvollen Licht durchbrochen, das uns mit jedem Weihnachtsfest leuchtet.

Bodelschwingh hat Menschen eine Heimat geschenkt, und er weist uns mit seinem Gedanken auf das Kind von Bethlehem darauf hin, dass wir nicht nur eine räumliche Heimat brauchen, sondern auch eine gedankliche, innerliche Heimat, und die kann uns - wie Jesus damals - unser Glaube schenken. Auch wir dürfen aus den Dunkelheiten und Infragestellungen unseres Lebens "nach Hause kommen", wir dürfen bei dem Gott ankommen, der da ist, auch in den Wüsten unseres Lebens, wo die Schatten tief und lang sind. Wer den Advent so verstehen, feiern und vielleicht auch in einem bestimmten Sinne genießen lernt, wird ein ganz neues Weihnachtsfest erleben dürfen, angekommen sein, bei diesem menschenfreundlichen Gott.

Liebe Gemeinde! Lassen wir uns durch die Bilderausstellung von Willi Boos noch einmal auf diese dialektische Spannung von Licht und Dunkelheit hinweisen, darauf, dass es auch in unserer Mitte Einsamkeit, Leid und Elend gibt, dass wir nach unserem Weg fragen, der so dunkel und unklar vor uns liegt, wie in tiefe, undurchschaubare Schatten getaucht. Gott spricht auch durch die Kunst, durch ein Bild zu uns. So sind wir mit dieser Auseinandersetzung dazu eingeladen, das Licht als Sinnbild des Lebens immer als ein täglich neues Geschenk anzunehmen, vor allem, das Licht das uns von der Botschaft des Weihnachtsfest entgegenleuchtet. Da mögen wir nach dem "Warum" fragen, und vieles wird uns rätselhaft und unverständlich im Leben bleiben, aber wir sind eben nicht allein in unserem Fragen, weil sich Gott längst auf unsere Seite gestellt hat. Jesus wusste das. Er wusste auch, dass das Psalmwort, das mit der großen, existentiellen "Warum- Frage" beginnt mit den Worten schließt: "Ich danke dir, Herr, vor der ganzen Gemeinde. Vor den Augen aller, die dich ehren..."

Lassen wir uns durch das Wort Gottes zu einer solchen Dankbarkeit hinführen, auch wenn uns selbst das Fragen nach dem "Warum" auf unseren oftmals rätselhaften Wegen begleitet. Wir sind nicht allein auf unserem Weg und auch nicht mit unserem Fragen. Sagen wir Dank, wie auch immer, denn es gibt gute Gründe dafür.
Amen.


Letzte Änderung: 17.11.2003
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider