Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Letzter Sonntag nach Epiphanias, 20.1.2002
2. Petr. 1, 16-21

Begrüßung:

Der letzte Sonntag nach Epiphanias, wie dieser Sonntag im Kirchenjahr heißt, beendet endgültig die Weihnachtszeit. Das Thema dieser Zeit ist ja in immer anderen Varianten, dass Gott den Menschen in seinem Sohn Jesus von Nazareth begegnet, erschienen ist. So wird er uns in der Schrift, dem biblischen Wort, überliefert, und darum wird es heute gehen: Was trauen wir dem Wort Gottes noch in unserem eigenen Leben zu, welchen Stellenwert hat es für uns und unseren Glauben? Im Johannesevangelium heißt es dazu: Er, das Wort, wurde ein Mensch, ein wirklicher Mensch von Fleisch und Blut. Er lebte unter uns, und wir sahen seine Macht und Hoheit, die göttliche Hoheit, die ihm der Vater gegeben hat, ihm, seinem einzigen Sohn (Joh 1,14).

Gebet:

Guter Gott! Wir brauchen Worte, um uns einander mitzuteilen, Gemeinschaft zu erfahren, die Welt deuten zu lernen. Wir lesen Bücher, um den Alltag zu vergessen, der Freizeit einen Sinn zu geben, uns zu bilden. Wie oft hören wir Worte, die gerade das Umgekehrte im Sinn haben, welche die Gemeinschaft zerstören und unserem Leben seinen Sinn verweigern, wie oft lesen wir, allein um die Zeit totzuschlagen? Herr, wir alle sind auf Worte angewiesen. Doch wie steht es um dein Wort: hören wir es noch, lesen wir es noch, hat es die Kraft, unsere Ruhe zu stören, - unsere Gleichgültigkeit in Frage zu stellen, - zu ärgern oder zu trösten, - Hoffnung zu vermitteln und unserem Leben seinen einmaligen Sinn zu schenken? Herr, wo hören wir dich und von dir im Lärm der Tage, wo lesen wir von dir in all dem, was unser Interesse heute in Anspruch nimmt? Unsere Zeit ist knapp geworden, bleibt da wirklich Zeit für dich und dein Wort? So kommen wir nun zu dir und bitten dich um deine Nähe mitten in unserem Leben. Amen.

Text:

Unsere Hoffnung auf das Kommen des Herrn ist fest gegründet!

Wir haben uns keineswegs auf geschickt erfundene Märchen gestützt, als wir euch ankündigten, dass Jesus Christus, unser Herr, wiederkommen wird, ausgestattet mit Macht. Vielmehr haben wir ihn mit eigenen Augen in der hohen Würde gesehen, in der er künftig offenbar werden soll. Denn er empfing von Gott, seinem Vater, Ehre und Herrlichkeit - damals, als Gott, der die höchste Macht hat, das Wort an ihn ergehen ließ: »Dies ist mein Sohn, ihm gilt meine Liebe, ihn habe ich erwählt.« Als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren, haben wir diese Stimme vom Himmel gehört. Dadurch wissen wir nun noch sicherer, dass die Voraussagen der Propheten zuverlässig sind, und ihr tut gut daran, auf sie zu achten. Ihre Botschaft ist für euch wie eine Lampe, die in der Dunkelheit brennt, bis der Tag anbricht und das Licht des Morgensterns eure Herzen hell macht. Ihr müsst aber vor allem folgendes bedenken: Keine Voraussage in den Heiligen Schriften darf eigenwillig gedeutet werden; sie ist ja auch nicht durch menschlichen Willen entstanden. Die Propheten sind vom Geist Gottes ergriffen worden und haben verkündet, was Gott ihnen aufgetragen hatte.


Großvater Barlach hatte Liebeskummer, und seine Söhne wachten mit ihm und halfen seufzen. Dann wurde es sehr spät, bis das erlösende Wort fiel: "So, gebt die Bibel"; denn nur, wenn der Bibelabschnitt gelesen war, durfte nach der Ordnung des Pfarrhauses in Bargteheide zu Bett gegangen werden ... [1]

Mit diesen Worten beginnt Ernst Barlach, der uns von seinen beeindruckenden Skulpturen her ja gut bekannt ist, zugleich aber auch ein großer Schriftsteller war, seinen Bericht "Ein selbsterzähltes Leben".

Liebe Gemeinde,

warum liest ein Mensch, warum liest ein Mensch auch heute noch die Bibel?

Bei einer Umfrage von rund zweieinhalbtausend Personen vor gut einem Jahr stellte sich heraus, dass Bücher spannend sein müssen, um gelesen zu werden. Dies wollen 60% der Befragten, 47% wollen den Alltag vergessen, 45% möchten sich zum Denken anregen lassen, 44% lesen, weil man aus Büchern etwas lernen und profitieren kann. 33% möchten etwas Lustiges, Humorvolles lesen. Das bedeutet: "Spannung ist Trumpf!" [2] Sah man im Jahr 2000 werktags etwa zweieinhalb Stunden fern, so las man etwa 55 Minuten, um sich zu bilden und ebenfalls 55 Minuten, um sich zu unterhalten, an Sonn- und Feiertagen immerhin etwa 1 Stunde und 20 Minuten, dafür sah man in jenem Jahr aber auch über vier Stunden fern. [3] Viele Deutsche scheinen also immer wieder einmal ein Buch, eine Zeitschrift in die Hand zu nehmen, um sich zu unterhalten, sich zu bilden oder sich zu informieren.

Wir wissen, dass die Bibel nach wie vor zu den auflagenstärksten Büchern zählt, sie wird weltweit verbreitet und ist inzwischen in über 2261 Sprachen übersetzt, die Tendenz ist steigend. Doch ich erlebe den Umgang mit ihr sehr unterschiedlich, denn es gibt auch heute noch Familien, selbst in Kenzingen, in denen es überhaupt gar keine Bibel gibt und es auch gar nicht bewusst ist, dass einem etwas fehlen könnte, wenn man sie nicht hat, sie nicht liest. Umgekehrt höre ich immer wieder von Menschen, die sich der Kirche möglicher Weise sogar entfremdet haben, dass die Bibel von Zeit zu Zeit in die Hand genommen und als wichtige Lektüre angesehen wird. Andere gehen täglich mit dem Wort Gottes um. Für sie ist die Bibel zu dem in ihrem Leben geworden, wovon unser Predigttext spricht: "Ihre Botschaft ist für euch wie eine Lampe, die in der Dunkelheit brennt, bis der Tag anbricht und das Licht des Morgensterns eure Herzen hell macht ..."

Ich erinnere mich an den unangekündigten Besuch bei einer sehr alten Deutschen aus der ehemaligen UDSSR, sie saß da, hatte eine uralte Bilderbibel in der Hand, die sie mir sofort hinhielt und mich fragte, wie ich es fände, "dass der Herr über den See geht?" Nach einer Schrecksekunde musste ich mir selbst eingestehen, dass alle theologische Klugheit hier nichts nutzen und nichts Wesentliches dazu beitragen würde, dieser alten Frau das Leben, ihr Leben, ihr Schicksal zu deuten. Ihr Glaube hatte sie schließlich durch Verfolgung, Deportation, Glaubensverbot und sibirische Eiseskälte hindurchgetragen, nicht etwa theologischer Sachverstand und kluge exegetische Weisheiten. Sie hat mir in Sekunden mehr beigebracht, als viele meiner theologischen Lehrer.

Und doch müssen wir das biblische Wort ja deuten. Wir möchten verstehen, was sich hinter Worten verbirgt, wenn dort von Wundern und Gleichnissen die Rede ist, in bunten Bildern erlebte Geschichte des Glaubens erzählt wird. Wie begegnet Gott den Menschen, wie erfahren sie ihn, wenn er dem Leben in Wolke und Feuersäule vorangeht? Und weil dem modernen Menschen die Ruhe und die Bereitschaft oft fehlen, darüber nachzudenken, nimmt man die Bibel gleich gar nicht mehr in die Hand und macht sie zu einem weiteren Märchenbuch im Schrank.

Ein Problem, das schon der Schreiber unseres Textes kennt, sicher ist es nicht der bekannte Petrus, der Freund Jesu. Der 2. Petrusbrief ist eine der späteren Schriften des Neuen Testamentes. Längst ist eine Gemeinde entstanden, der die Apostel von Jesus Christus erzählt haben, viele Menschen ließen sich daraufhin taufen, man feiert Gottesdienst miteinander, teilt den gemeinsamen Glauben und das Abendmahl - und doch schleicht sich in den jungen Glauben langsam so etwas wie Misstrauen hinein: Kann das alles stimmen, was uns hier erzählt wird? Warum bleibt denn der Herr aus und kommt nicht - wie doch zu Lebzeiten immer wieder versprochen - zurück, warum nur nimmt man so wenig von Gott in der Welt wahr?

Auf dieses beunruhigende Nachdenken regiert der Schreiber unseres Textes, wobei er sich auf Berichte aus dem Jüngerkreis bezieht, die Jesus noch erlebt und wahrgenommen haben, dass Gott selbst ihn als seinen "Sohn" angeredet und vorgestellt hat. Daher argumentieren sie so kraftvoll damit, dass es schließlich keine geschickt erfundenen Märchen sind, sondern, dass sie weitergeben, was sie selbst gehört, gesehen und auf welche Weise auch immer wahrgenommen haben.

So geht es ihnen darum, dem Wort Gottes Autorität zu verleihen, einem Wort, das natürlich durch Menschen aufgeschrieben und in die Welt hineingetragen, immer wieder neu weiterverkündigt wird, wie denn sonst? Wie sollte Gott denn reden, dass wir ihn verstehen können, wenn er nicht durch Menschen reden würde? Wo würden wir mit unserem Glauben ankommen, und welche gedankliche und ethische Kraft besäße er, wenn ihm nicht zunächst das Schriftwort, die Bibel zugrunde läge?

Ohne das Wort, aus dem wir von Gott, über Gott und Gott selbst hören, das den vielen Worten und Gedanken des Menschen gegenübersteht, würden wir nur immer uns selbst hören, uns unsere eigenen Gottesvorstellungen machen. Der Glaube drehte sich allein um das Ich des Menschen, nicht aber um das Gegenüber des Menschen zu Gott und Gott zu ihm. Das Ende davon wäre, dass wir gedanklich wieder nur bei uns selbst ankommen. So sagt der Schreiber des 2. Petrusbriefes: Es sind Menschen, die Gott als den Vater und den Sohn erfahren haben und die nun aus diesem Geist (Gottes) heraus weitererzählen, was sie selbst gehört, gesehen und mit ihrem Glauben erlebten.

Schließlich hat die junge Kirche 382 nach Christus in Rom den Kanon der biblischen Schriften festgelegt. Es war eine jahrhundertelange geistige und geistliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Strömungen und Richtungen, Überlieferungen und persönlichen Überzeugungen, bis endlich verbindlich gesagt werden konnte: das ist das biblische Wort und jenes eben nicht! Nur so konnte Irrlehren entgegengetreten werden: Hier, nicht aber irgendwo hören wir, dass der gekommene Gott des Weihnachtsfestes auch der Gott ist, der heute kommt und immer wieder kommen wird bis zum letzten Tag unseres Lebens und dieser Welt.

1922 sagte Karl Barth in seinem vielbeachteten Vortrag "Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie": Wir Theologen sind durch unseren Beruf in eine Bedrängnis versetzt, in der wir uns vielleicht vertrösten, aber sicher nicht trösten lassen können. Wir ahnten es ja schon als Theologiestudenten dunkel, dass es so kommen werde, wir wurden älter und es war schwerer, als wir je geahnt hatten ...: Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben ... [4]

Das gilt uns allen: Mit der Bibel in der Hand, ihrer Botschaft für unser Leben, dem von Menschen bezeugten Wort Gottes nachspüren, um nicht irgendwem, sondern Gott die Ehre zu geben. Es ist eine gute protestantische Überzeugung, dass das biblische Wort unabänderlich zu uns und unserem Glauben gehört. Jeder von uns ist ein Theologe, der in der Bibel liest und sich über den Gott Gedanken macht, der aus ihr spricht. Wir tun dies so, wie wir abends Lichter anzünden, um die Dunkelheit zu erhellen oder Wegweiser aufstellen, um jenen Ort zu finden, an dem wir ankommen möchten. Hierzu wollten alle Schreiber des biblischen Wortes in sehr unterschiedlicher Weise und zu unterschiedlichsten Zeiten beitragen.

Dabei aber immer um unsere menschlichen Grenzen zu wissen und niemals einen rechthaberischen Alleinvertretungsanspruch zu erheben, ist die Voraussetzung für das Gespräch über die Bibel, den Glauben, Gott und die Deutung des Lebens von dorther. So wird Gott aus der Bibel heraus auch heute noch in unserer Mitte - über den "garstigen Graben" der Zeit hinweg - sehr unterschiedlich gehört und wahrgenommen. Dieses Wort ermutigt zum Glauben und begleitet in aller Vielfalt unser Leben: es ermahnt uns, wenn unser Glaube vom Unglauben bedroht ist; - es begleitet unser Glück, wenn wir verliebt sind, lieben und es wagen, uns an einen Menschen zu binden; - mit ihm freuen wir uns dankbar für das Geschenk des Lebens, die Geburt eines Kindes; - es tröstet uns an einem Grab, wenn wir Abschied nehmen müssen, betroffen und traurig sind.

Ich kann einen Menschen gut verstehen, der Atheist ist, die Existenz Gottes für sich selbst verneint. Schließlich haben alle großen philosophischen Atheisten von Karl Marx über Friedrich Nietzsche bis hin zu Ernst Bloch sich immer wieder mit der Gottesfrage auseinandergesetzt. Mir ist jemand, der mit seinen Zweifeln lebt und sich von diesen in eine offene Auseinandersetzung hinein bewegen lässt, lieber, als all jene, die einfach nur gleichgültig sind. Was ich nicht verstehe sind Menschen, die ohne das biblische Wort, ohne Gott leben, ihn dann aber hervorholen, wenn sie ihn im Leben einmal brauchen. Da mangelt es oft an der notwendigen Ehrfurcht vor Gott.

So wird nun, so weit wir es zulassen, unser eigenes Leben vom Wort Gottes begleitet, damit wir in unserem Glauben bestärkt und ermutigt werden. Erst so lässt sich auch verstehen, warum Großvater Barlach nicht nur seufzt und sich von seinen Söhnen darin begleiten lässt, sondern sich schließlich die Bibel reichen ließ, "denn nur, wenn der Bibelabschnitt gelesen war, durfte nach der Ordnung des Pfarrhauses in Bargteheide zu Bett gegangen werden ..." Wo unser Leben so mit dem Wort Gottes verknüpft wird, werden wir es immer wieder neu in die Hand nehmen, es lesen, bedenken, diskutieren und uns für jeden Tag und jede Situation neu ausrichten lassen. Denn Glaube und Leben, Gott und die Welt, biblisches Wort und menschliches Tun lassen sich nicht voneinander trennen.
Amen.


Literatur:

  1. Barlach, E., Das Dichterische Werk, Die Prosa I, II. Band, München. 19581, S. 11
  2. Schroth, J., Spannung ist Trumpf, Börsenblatt für den deutschen Buchhandel,
    Heft 7, Frankfurt, 23.01.2001, S. 27
  3. Schroth, J., a.a.O., 05.01.2001, Heft 2, S. 7
  4. Barth, K., Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in:
    Das Wort Gottes und die Theologie, München 1925, S. 156
außerdem: Letzte Änderung: 11.02.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider