Liebe und hoch ,geschätzte Schwestern und
Brüder, Freundinnen und Freunde,
Damen und Herren in der Nähe und in der Ferne!
Der i o. Mai und also mein Übergang vom achten
zum neunten Jahrzehnt der mir zugedachten
Lebensfrist liegt nun schon mehr als einen
Monat hinter mir und so auch hinter Euch
bzw. Ihnen. Mancher und Manche wird sich
gewiss gewundert haben - hoffentlich ohne
allzu grosse Betrübnis - dass ich unterdessen
kaum jemandem ein Zeichen des Empfangs all
des Guten gegeben habe, das mir vor, an
und nach jenem Tag in geschriebenem, geredetem,
gedruckten und telegraphiertem Wort, dazu
auch an feinen Geburtstagsgeschenken, in
so überwältigender Fülle zugewendet worden
ist.
Der Grund meines langen Zögerns war schlicht eben die Fülle all des Schönen, Bewegenden und jedes in seiner Art mich Erfreuenden, die da über mich hereinbrach wie ein tröstlicher, fruchtbarer Frühregen und Spätregen. Man bedenke: es ging, von den Drucksachen ganz abgesehen, um rund 1000 kürzere oder längere Schreiben, um nicht weniger als rund 150 Telegramme und um mehrere Dutzende grössere oder kleinere Pakete, ja Kisten, und dann eben um alle die mir gewidmeten Artikel, auch ganze Festnummern der verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, dazu um feierlich-freundliche Adressen ganzer Behörden und Organisationen. Das alles - und wie vieles gerade an Gedrucktem mag mir entgangen sein, da ich es versäumte, mich für diesen Anlass bei einem «Argus der Presse» oder einem ähnlichen Institut zu abonnieren - wollte doch gelesen, mindestens partiell angelegen, gekostet und gewürdigt sein. Und eben dafür brauchte es Zeit - braucht es übrigens noch fernerhin Zeit und auch die in meinem Alter nicht mehr ohne weiteres verfügbare Auffassungs- und Spannkraft. Dies zur allgemeinen Erklärung und Entschuldigung meines Säumens. Aber der Moment ist da, dieses Säumen abzubrechen und auf die vielen Grüsse wenigstens in dieser Form einen Gegengruss zu Papier zu bringen.
Was soll ich sagen? Zuerst und vor allem, dass ich Gott und den Menschen dafür dankbar bin, dass um jenen Tag herum so viele so freundlich an mich gedacht, mir ihre Teilnahme an meiner Existenz und meiner Lebensarbeit so unmissverständlich bezeugen wollten. Es ist das Ganze und alles Einzelne dieser grossen Zuwendung, wie man heute so gern sagt, richtig bei mir «angekommen». Und nun bitte ich hiermit jeden und alle, die sich so oder so an diesem grossen Zurufen und Mitteilen beteiligt haben, den Dank, den ich hier allgemein ausspreche, ganz konkret und persönlich gerade auch auf sich und seinen Anteil an der mir bereiteten freudigen Erhellung zu beziehen. Hoffentlich werde ich das mir da in so reichem Mass an Güte Widerfahrene, was mir auch in Zukunft an Freude und Leid zukommen mag, nicht wieder vergessen, mich vielmehr in dem nun wieder stiller gewordenen Bereich meines Daseins des mir von so vielen Seiten bewiesenen Vertrauens, soweit ich das kann, durch weiteres Vertrauen auf Gott und durch weiteres Zutrauen zu der mich umgebenden Menschheit einigermassen würdig erweisen. Zürnt mir nicht, wenn ich dabei gelegentlich doch wieder in Gestalt von allerlei undankbarem Tun und Unterlassen versagen sollte!
Gottes Vergeben und Heiligen werde ich ja im Blick auf viel Missachtung seiner mir von jeher und so auch vor und an und nach diesem 10. Mai erwiesenen Gnade immer aufs neue nötig und täglich zu erbitten haben. Behaltet auch Ihr mich lieb, auch wenn Ihr mich nach wie vor lange nicht immer auf der Höhe sehen werdet, auf der Ihr mich laut Eurer so herzlichen Äusserungen zu jenem Tage saht oder zu sehen meintet!
Eben habe ich das Wort «Gnade» gebraucht. «Gnade» ist neben allem anderen, was das Wort in sich schliesst, immer auch das für den, dem sie widerfährt, Unerwartete, Unverdiente und darum nicht Selbstverständliche. So war und bleibt der merkwürdige Glanz, von dem ich mich an meinem 8o. Geburtstag auf einmal umgeben sah und für dessen mannigfache Strahlen ich, wie gesagt, Gott und den Menschen dankbar bin, für mich wirklich verwunderlich.
Eigentlich ja schon das, dass ich diesen Tag Oberhaupt erleben und also so alt werden durfte, wo doch so viele meiner einstigen ferner- und näherstellenden Zeit- und Streitgenossen seit längerer oder kürzerer Zeit nicht mehr unter uns sind. Das nach einer Krankheitszeit von zwei Jahren, in deren Verlauf es mehr als einmal so hätte sein können, dass ich mich dem Zug jener Dahingegangenen hätte anschliessen müssen! Es kam nun anders: ich bin zwar immer noch einiger Aufsicht und Pflege bedürftig, fühle mich aber physisch und psychisch munterer und bin sogar etwas beweglicher als lange vor jenen zwei Jahren. Schon das ist unerwartete, unverdiente, wirklich nicht selbstverständliche Gnade.
Verwunderlich war mir aber auch der Umfang und die Intensität der Welle von Liebe, Dankbarkeit und Ehrung, die mich da überflutet hat. Ohne dass Bescheidenheit zu meinen hervorstechendsten Eigenschaften gehörte, habe ich mir doch auf allen Stufen meines Lebens über den Radius meiner Existenz und meiner Arbeit kaum je besondere Gedanken gemacht, und in den letzten Jahren schon gar nicht. Was habe ich - zuerst als Pfarrer und dann als theologischer Lehrer und Schriftsteller schon getan und hervorgebracht als wie jeder andere (unter allerhand Diversionen noch dazu!) das, was mir in den verschiedenen Zeiten, Umgebungen und Situationen jeweils als das nun eben mir Aufgetragene, Gegebene und Mögliche erschien. Und nun wurde mir, dem kaum dem Spital Entronnenen, eben an meinem 80. Geburtstag erstaunlich eindrucksvoll zum Bewusstsein gebracht, dass mein bisschen Denken, Reden und Tun in all den Jahrzehnten in der Kirche und ein Stück weit sogar in der Welt für viele eine Bedeutsamkeit gehabt habe, die ich ihm als nächster Kenner meines Vermögens und Unvermögens von mir aus wirklich nicht zugeschrieben hätte: dass der bewusste Radius doch grösser war, als ich mir vorgestellt hatte. Das war und ist das für mich Verwunderliche an der Sache.
Es muss da etwas geschehen sein, was von meinen Qualitäten und Leistungen unabhängig war, bei dem ich, so wie ich war und bin, nur eben dabei sein durfte, wie ein Assistent oder eine Operationsschwester nur eben mit ihren Qualitäten und Leistungen dabei sein dürfen - und dann auch müssen - wenn ein ganz Anderer und Höherer als sie das Eigentliche tut. Es muss auch da wieder die unerwartete, die unverdiente, die gar nicht selbstverständliche, die freie Gnade Gottes am Werk gewesen sein.
Und ihrem Lob müsste darum auch alles mir so freundlich und reichlich gespendete Lob gelten. Indem ich es in diesem Sinn entgegennahm, konnte ich es mir vergnügt gefallen lassen. Das war es denn auch, was ich getan habe und in der Erinnerung noch tue.
Es war eine selten schöne Feier, und indem ich sie in dem angedeuteten Zusammenhang verstand und mit Euch allen erlebte, danke ich nächst Gott all den lieben Menschen, die dazu geholfen haben, dass sie, auch für mich selbst, so schön werden durfte. An alle Adressaten meinen herzlichen Gruss und meinen Wunsch, dass es auch Ihnen allen in dem Dienst, in dem Sie wie ich stehen - einem jeden nach seiner besonderen Bestimmung und in seinen Grenzen - im besten Sinn des Wortes: wohlgehen möge!
Basel, im Juni 1966
(Anm.: Persönlich unterzeichnet, Karl Barth)