Wohin gehen wir? - so fragte er beharrlich Besucher in den letzten Jahren, um von ihnen Hilfe zu besserem Verstehen der uns in dem Immanuel begründeten Hoffnung zu bekommen, und er antwortete selber aus dem, was er vom Evangelium gehört hatte: ins Erkennen des Immanuel, das im Nu alles stillt und alles erfüllt, - stillt den brennenden Hunger nach Unsterblichkeit und uns aussöhnt mit der Grenze, mit diesem einmaligen Leben in seiner Endlichkeit, und erfüllt die Verheißungen, die uns geworden sind, durch die Offenbarung dessen, der alles, alles wohl bedacht hat: das Kreuz seines Sohnes ebenso wie die Leiden Hiobs, die Verlassenheitserfahrungen eines alten Theologie-Professors wie das Tanzen jeder einzelnen Mücke im Sonnenlicht.
Kein Auschwitz und kein Vietnam ohne das, was auf Golgatha schon im voraus durchlitten und erkämpft ist. Worauf gehen wir hin? Wir gehen hin auf die Offenbarung dessen, der schon im voraus gut gemacht hat das nie wieder Gutzumachende- die Kinderschuhe von Auschwitz und die verbrannte Kinderhaut von Vietnam und das Kinderskelett von Biafra - das gerade nur von Gott durch Gottes eigenes Leiden Gutzumachende.
Schon diesem Schon her war er mit Jesus Christus unterwegs hin auf den Tag der Offenbarung, und all sein Lehren in der Kirche war ein Lehren der Praxis dieses nach vorne schauenden Unterwegsseins. »Der Herr redete zu Moses, wie ein Mann mit seinem Freunde redet« (Ex. 33, 17). Daß die ewige Wahrheit sich zum Freunde der Menschen in Freiheit bestimmt und öffentlich erklärt, dass sie nicht gegen die Menschen, sondern unbedingt für sie sein will, kaum einer unter den christlichen Theologen hat das so uneingeschränkt zu proklamieren gewagt, als das A und das O, Versöhnung aller, so dass alles Wenn und Aber, an das die anderen Theologen meinten vor allem erinnern zu müssen, nur noch eingeklammert erscheint in dieses unbedingte: »Jesus lebt - mit ihm auch ich«, mit ihm auch diese Menschenwelt.
Wer hätte das vor 50 Jahren im Vorblick zu sagen gewagt, dass der, der gegen alle freundliche Verharmlosung vom Kreuze Christi her die Ewigkeit als die Krisis der Zeit, als die zornige, senkrecht von oben hereinbrechende Durchkreuzung unserer Möglichkeiten verkündigte, zu dem großen Prediger der bedingungslosen und uneingeschränkten Gnade werden würde? Im Rückblick erscheint uns das nicht mehr als ein Bruch: Schon in den früheren Äußerungen kündigt sich der Mozart-Ton der Dankbarkeit, des Auferstehungs-Lobgesanges an, und nur, wo der Widerspruch des Nein erfahren worden ist, ist das tiefe ja unter dem Nein diejenige Entdeckung, die das Staunen auslöst, das für ihn lebenslang der Entstehungsgrund von Theologie gewesen ist.
Das Evangelium als die Freundesstimme des lebendigen Gottes hören, das macht zum Freunde der Menschen. Das Wort Freund arakterisiert ihn, von dem wir jetzt »für eine kurze Zeit" (Joh. 16, 16) Abschied nehmen, wie kaum ein anderes. Er hat unter der Freundschaft Gottes stehend, viel Freundschaft erfahren dürfen in seinem Leben und ist vielen in Freundschaft zugewendet gewesen. Das »Bergli« als ein wahrer Freundschaftsort ist mit seinem Namen bleibend verbunden. Wir Deutsche haben bevorzugt seine aus der Philanthropie Gottes entsprungene Freundschaft erfahren, bevorzugt dadurch, dass er 14 Jahre bei uns gewirkt hat als Professor in Göttingen, Münster und Bonn, und dass er in der ihm eigenen Offenheit und Entschiedenheit sofort unsere Probleme zu den seinigen gemacht hat.
Auf allseitigen Dank konnte er angesichts einer breiten Mentalität in unserem Lande nicht rechnen, aber mit großem Dank denken doch auch viele in unserem Lande heute hier her zu uns, die wir zu seinem Abschiede versammelt sind. Was er an schweizerischen Erfahrungen einzubringen versuchte, wurde ihm oft genug als Beweis schweizerischer Verständnislosigkeit quittiert. Schließlich wurde er per Schub abbefördert, und auch die Bekennende Kirche, die doch ohne ihn nicht denkbar ist, kämpfte nicht genug um seine Mitarbeit. Wo aber haben wir Deutsche, die wir so gerne um unsere Probleme kreisen und mit ihnen alle Welt behelligen, in der Schweiz und sonst in der Welt einen Ort gehabt wie hier in diesem büchergefüllten Zimmer - erst am Albanring, dann in der Pilgerstraße und zuletzt am Bruderholz - einen Ort, an dem wir so willkommen waren, an dem uns so zugehört wurde, an dem unsere Fragen und Sorgen so aufmerksam mitbedacht wurden?
Das Wort, mit dem ich begann, legt er Jesus Christus als eine sehr eigenartige und über den damaligen Anlaß hinaus gültige Zusammenfassung des Evangeliums in den Mund, als ein Evangelium für die Deutschen. Damals, in jenem Vortrage, »Die Deutschen und wir« im Januar 1945, den wir Deutsche erst lesen konnten, als er selbst schon wieder, zu Opfern und Entbehrungen bereit, mit materiellen und geistigen Gaben zu uns kam und seine Freundschaft aufs Beste bewährte. Den Ruf Jesu Christi: »Her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!«, übersetzte er damals für uns: »Her zu mir, ihr unsympathischen, ihr bösen Hitlerbuben und -mädchen, ihr brutalen SS-Soldaten, ihr üblen Gestapo-Schurken, ihr traurigen Kompromißler und Kollaborationisten, ihr Herdenmenschen alle, die ihr nun so lange geduldig und dumm hinter eurem sogenannten Führer hergelaufen seid! zu mir, ihr Schuldigen und Mitschuldigen, denen nun wider und widerfahren muß, was eure Taten wert sind!
Her zu mir kenne euch wohl, ich frage aber nicht, wer ihr seid und was ihr getan habt, ich sehe nur, dass ihr am Ende seid und wohl oder übel von vorne anfangen müßt. Ich will euch erquicken. Gerade mit euch will ich jetzt vom Nullpunkt her neu anfangen! ... Ich sage es euch: «Ich bin für euch! Ich bin euer Freund» («Zur Genesung des deutschen Wesens», Stuttgart, 1945, S. 35 f.). Er sprach damals oft von dem großen Angebot, das uns Deutschen nun gemacht werde dadurch, dass wir auf dem bösen Wege so gänzlich gescheitert waren und nun neue Möglichkeiten uns offen stünden? Was haben wir mit dem Angebot gemacht? Wie selten nehmen Völker Gottes Gnadenangebote in den Gerichtsstunden wahr! Daß wenigstens die Kirche das Angebot erkennen und wahrnehmen möge, dafür hat er gekämpft. Er selber aber war ein Angebot für die Kirche, dieser männliche Mann, wie keiner von uns einen Zweiten kannte, dieser durchdrungene Christ und Theologe.
Es sind ja nicht alle Theologen, um eine seiner Lieblingsredensarten zu verwenden, in einer Nacht, wo alle Katzen grau sind. Es gibt erwählte Werkzeuge unter ihnen, bei denen es sich nicht um theologische Systeme, Richtungen und Meinungsverschiedenheiten handelt, sondern die ein Angebot für die Kirche sind, das ergriffen oder verfehlt werden kann, an dem sich für eine ganze Periode der Weg der Kirche entscheidet. Mit der Barmer Erklärung, von ihm wachend geschrieben, während andere schliefen, ist eine solche Entscheidung formuliert, aber vollzogen muß sie täglich werden. Wir schreien ihm nun nach wie der verlassene Elisa: »Mein Vater, mein Vater, Wagen Israels und seine Reiter!« »Und er sah ihn nicht mehr«, heißt es dort (2. Kön. 2, 12).
Wir hätten seinen Rat, seinen Tadel, seine Kritik, seine Belehrung, sein Mutmachen, seine Herzlichkeit weiter nötig. Er aber, unser Freund, hat uns im voraus schon von sich weggewiesen mit seiner Gott sei Dank so christomonistischen, christologischen Theologie auf den Auferstandenen, der von Sieg zu Sieg vorwärtsgeht durch die Dunkelheiten auch dieses Jahrhunderts und zu uns spricht: »Ich bin für euch, ich bin euer Freund«.
Aus: Karl Barth 1886-1968
Gedenkfeier im Basler Münster,
Heft 100 der Theologischen Studien, EVZ, Zürich, 1969