Liebe Gemeinde! Der Karfreitag ist kein evangelischer Heldengedenktag, der gekreuzigte Herr nicht ein Idol, dem mal eben - mehr oder weniger - begeistert zu huldigen wäre. Der Karfreitag führt uns gedanklich in die tiefe unbegründbare Liebe Gottes hinein, der sich der schuldverflochtenen, vielfach kranken, gottlosen und entmenschlichten Welt annimmt. Gerade so erfahren wir den menschenfreundlichen Gott. Wir bringen durch unser Tun den Menschenbruder und Gottessohn Jesus ans Kreuz, nicht ein zurückliegendes historisches Ereignis allein. Das, was ein für allemal auf Golgatha geschah, geschieht zeitlos auch für uns. Der Tod Jesu, sein einmaliges und stellvertretendes Opfer versöhnt auch uns mit Gott, damit vergeben ist, was uns von ihm trennt.
In Wahrheit aber hat er die Krankheiten auf sich genommen, die für uns bestimmt waren, und die Schmerzen erlitten, die wir verdient hatten. Wir meinten, Gott habe ihn gestraft und geschlagen; doch wegen unserer Schuld wurde er gequält und wegen unseres Ungehorsams geschlagen. Die Strafe für unsere Schuld traf ihn, und wir sind gerettet. Er wurde verwundet, und wir sind heil geworden (Jes. 53, 4-5).
Du siehst die Kreuze dieser Welt, die tagtäglich zwischen Menschen, Religionen und Konfessionen, ethnischen Gruppen und verfeindeten Ländern, Hautfarbe und Klassen, den Starken und Schwachen, den Habenden und denen, die nichts haben, aufgerichtet werden. Kreuze, die täglich neu erlebt und erlitten werden. Herr, lass dieses eine Kreuz, dein Kreuz wie ein Wegweiser an einer Kreuzung eine andere Richtung für unser Leben aufzeigen, der uns hilft, unseren Weg zu Dir, zum Mitmenschen zu finden. In diesem Geist gehe Du mit uns hinein in die letzten Tage dieser Passionszeit und dann auf das kommende Osterfest zu. Denn du sprichst das erste und das letzte Wort über unser Leben und nicht der Tod. Amen.
Wer hätte geglaubt, was uns da berichtet wurde? Wer hätte es für möglich gehalten, dass die Macht des HERRN sich auf solche Weise offenbaren würde? Denn sein Bevollmächtigter wuchs auf wie ein kümmerlicher Spross aus dürrem Boden. So wollte es der HERR.Er war weder schön noch stattlich, wir fanden nichts Anziehendes an ihm. Alle verachteten und mieden ihn; denn er war von Schmerzen und Krankheit gezeichnet. Voller Abscheu wandten wir uns von ihm ab. Wir rechneten nicht mehr mit ihm. In Wahrheit aber hat er die Krankheiten auf sich genommen, die für uns bestimmt waren, und die Schmerzen erlitten, die wir verdient hatten. Wir meinten, Gott habe ihn gestraft und geschlagen; doch wegen unserer Schuld wurde er gequält und wegen unseres Ungehorsams geschlagen. Die Strafe für unsere Schuld traf ihn, und wir sind gerettet. Er wurde verwundet, und wir sind heil geworden.
Wir alle waren wie Schafe, die sich verlaufen haben; jeder ging seinen eigenen Weg. Ihm aber hat der HERR unsere ganze Schuld aufgeladen. Er wurde misshandelt, aber er trug es, ohne zu klagen. Wie ein Lamm, wenn es zum Schlachten geführt wird, wie ein Schaf, wenn es geschoren wird, duldete er alles schweigend, ohne zu klagen. Mitten in der Zeit seiner Haft und seines Gerichtsverfahrens ereilte ihn der Tod. Weil sein Volk so große Schuld auf sich geladen hatte, wurde sein Leben ausgelöscht. Wer von den Menschen dieser Generation macht sich darüber Gedanken? Sie begruben ihn zwischen Verbrechern, mitten unter den Ausgestoßenen, obwohl er kein Unrecht getan hatte und nie ein unwahres Wort aus seinem Mund gekommen war. Aber der HERR wollte ihn leiden lassen und zerschlagen. Weil er sein Leben als Opfer für die Schuld der anderen dahingab, wird er wieder zum Leben erweckt und wird Nachkommen haben. Durch ihn wird der HERR das Werk vollbringen, an dem er Freude hat.
Nachdem er so viel gelitten hat, wird er wieder das Licht sehen und sich an dessen Anblick sättigen. Von ihm sagt der HERR: »Mein Bevollmächtigter hat eine Erkenntnis gewonnen, durch die er, der Gerechte, vielen Heil und Gerechtigkeit bringt. Alle ihre Vergehen nimmt er auf sich. Ich will ihn zu den Großen rechnen, und mit den Mächtigen soll er sich die Beute teilen. Denn er ging in den Tod und ließ sich unter die Verbrecher zählen. So trug er die Strafe für viele und trat für die Schuldigen ein.«
Was für ein Schock für gewöhnlich-volkskirchliche Ohren, die in ihrer frommen Karfreitagsstimmung nicht gestört sein wollen: bei unserem Predigttext ist "Schluss mit lustig." Den "lieben" Herrn Jesus, der friedlich heilend, segnend durch die Hügellandschaft Galiläas wandelt gab und gibt es so wenig, wie einen unreflektierten "lieben" Gott! Jesaja bringt es auf den Punkt: "Er war weder schön noch stattlich, wir fanden nichts Anziehendes an ihm ... Voller Abscheu wandten wir uns von ihm ab ..." Doch von wem ist hier die Rede?
Natürlich kennt Jesaja den kommenden Messias nicht. Er hat kein konkretes Bild eines fasslichen Menschen, mit Namen und Adresse vor Augen, wenn er von diesem besonderen "Bevollmächtigten" Gottes spricht, der so ganz anders ist, als wir uns einen Helden vorstellen. Doch für Paulus und die Christen der ersten Stunde war völlig klar, dass eben dieser Mensch Gottes in dem gekreuzigten Jesus von Nazareth Wirklichkeit geworden ist. Was uns vom Propheten Jesaja bis hin zu Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gesagt, ja zugemutet wird, ist der ganz andere Gott.
Wollten wir Gott fassen, ihn irgendwie begreifen, so würden wir nur bei selbsterdachten Göttern landen. Gott lässt sich nicht mit unserem menschlichem Verstand begreifen, er würde in dem Moment aufhören, "Gott" zu sein. Und wäre Jesus in seiner Zeit anders erschienen, so wie man sich einen der alten Götter vorstellte, wäre er - wie andere auch - in einer verstaubten Göttergalerie gelandet, neben Zeus oder Augustus, Herkules oder Bachus. Wen holen sie noch hinter dem Ofen hervor? Wir aber feiern hier miteinander und weltweit, mit allen Christen verbunden, heute diesen Gottesdienst - und das tut die Kirche nun schon seit etwa zwei Jahrtausenden.
Der so ganz andere Gott [1] lässt sich von uns in kein erdenkbares System pressen. Aber gerade angesichts dieses Prophetenwortes ist wichtig, dass wir uns deutlich machen, worum es denn überhaupt im Kern der Sache geht: Ein großer Lehrer der Kirche drückte es einmal in einem Vortrag über "Die neue Welt der Bibel" so aus:
"..In der Bibel werde etwas für uns ganz Ungeahntes sichtbar - nicht Historie, nicht Moral, nicht Religion, sondern eine geradezu neue Welt: Nicht die rechten Menschengedanken über Gott, sondern die rechten Gottesgedanken über den Menschen, und somit geleitet uns die Bibel aus der alten Menschenatmosphäre heraus und an die Tür einer neuen Welt, der Welt Gottes ..." [2]
Eben nur so werden wir verstehen, was Jesaja seinem, den Messias erwartenden Volk vermitteln will: der Messias wird kommen, aber wird so kommen, wie ihr ihn nicht erwartet, und eben das gilt damit auch uns, die wir oft ohne Verständnis, ja ratlos zurückschauen auf das unbegreifliche Leben und Wirken Jesu: geboren im Stall, aufgewachsen in einer Werkstatt, weder von seinen Eltern noch den Geschwistern verstanden, von seinen Anhängern begleitet, oft aber missverstanden, manchmal als der göttliche Sohn, des Menschen Bruder erkannt, von den Massen zu einem Revolutionär gegen die Römerherrschaft erhoben, von den Frommen schon bald in Frage gestellt, verfolgt, schließlich verraten und an einem römischen Galgen hingerichtet. Nein, so einer passt wirklich nicht in unsere Spaßgesellschaft, er stört:
Das Kreuz, als niedliches oft mit kostbaren Steinen besetztes Schmuckstück am Hals, populärer als je zuvor, ist seinem Sinn entleert. Und da ist niemand, der sich über einen solchen Un-Sinn empört.
Was gilt: Glaubt man dem FOCUS vom Februar 2002, so ist es wieder "Zeit für Helden ... Deutschland braucht dringend Helden, egal, woher sie kommen, klagt Bernd Michael von der Werbeagentur Grey Europe in Düsseldorf ... Eine Rückbesinnung auf Werte propagiert Tom Ford, Chefdesigner der Modefirma Gucci. Für den genialen Amerikaner, dessen Entwürfe die Bilder der Mode und der Werbung weltweit prägen, markieren die kollabierenden Zwillingstürme von New York eine Zeitenwende, die eine Revolution der Ästhetik erzwinge. Das neue Gucci-Girl ... wird nach Fords Willen ... eine Kriegerin." [3]
Bei über tausend befragten Deutschen sind laut FOCUS die Feuerwehrmänner von New York mit 60% die geachtetsten Helden, Martin Luther kommt immerhin noch auf 24%, Jesus nur noch auf 17% und George Bush liegt weit abgeschlagen bei 4%, weniger hat nur noch Madonna mit 3%. Und was braucht für die Deutschen ein Held: Für Mut plädieren 61%, Persönlichkeit 57%, Disziplin 45%, Erfolg 24% und Körperkraft 15%. [4]
Wir sehen, da kann dieser Mensch, den Jesaja im Blick hat, nicht mithalten und auch Jesus nicht, den Juden und Römer mit vereinten Kräften aus der Welt räumten und mit dem sogar wir heute nach wie vor unsere Schwierigkeiten haben. Jesus ist als Gottessohn und unser Bruder ein so ganz anderer Mensch, weshalb wir selbst daran beteiligt sind, ihn fleißig aus unserem Bewusstsein zu verdrängen, denn wer sehnt sich schon nach einem gekreuzigten Idol? Wer von uns würde auf die Frage nach seinem Idol, nach seinem Helden oder Vorbild Jesus Christus nennen? Und selbst wenn wir es täten, würden wir ihn auch damit kaum fassen, kaum begreifen.
Was muss das für einer sein, der uns hier beim Propheten Jesaja vor Augen gestellt wird und der dann erst in Jesus, dem Menschen aus Nazareth, diese Konkretion bekommt, der sich stellvertretend für andere opfert. Opfer kennen wir: Unsere Straßen fordern Jahr für Jahr aus sehr unterschiedlichen Gründen ihre Opfer. Skinheads suchen sich ihre Opfer. In satanistischen Kreisen opfern zumeist Jugendliche: Blut, Kerzen, Tiere. [5] Wir opfern etwas für uns und tun dies sogar im Gottesdienst, wo Woche für Woche ein Opfer von uns erbeten ist, doch ist es uns denn noch ein Opfer, wenn wir über das Portemonnaie gefordert sind, um weniger etwas für uns, als für andere zu tun?
Jesus gibt nicht ein wenig Geld, teilt sein Hab und Gut, sondern er verschenkt sich selbst bis in den Tod hinein. Was Jesaja lange vor ihm damit andeutet, ist, dass es dann, wenn es so weit kommt, dass dieser Mensch, den er erwartet, sein Leben für alle anderen Menschen hingibt, keine Menschenopfer mehr geben wird, nie mehr, weil Gott einmalig versöhnt ist. Dieser eine nimmt auf sich, was alle anderen nicht konnten, nicht können. Er überbrückt all das, was uns von Gott trennt, er überbrückt mit seinem Leben und Sterben den garstigen Graben zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch und trägt so dazu bei, dass endlich auch die Gräben überwunden werden, die den Menschen vom Mitmenschen trennen.
Jesaja weiß, wie sehr Schuld einen Menschen krank machen kann und dass es darum darauf ankommt, dass diese Schuld aus der Welt geräumt wird. Dabei geht die Schuld tief hinein in die Strukturen unseres sehr persönlichen Lebens. Da ist die manchmal krankmachende Arbeitswelt: Fahren Sie einmal einen Lastwagen von Sonntagnacht um 23.00 Uhr bis zum kommenden Freitagabend 22.00 Uhr, immer den Chef am Telefon, der sie von einem Ort zum anderen weist, unabhängig davon, ob Sie genug geschlafen oder die Ruhepausen eingehalten haben: Time ist Money, die Tricks kennt jeder oder er ist raus aus dem Geschäft!
Denken wir an unser Freizeitverhalten, das unserer Kinder, der Schüler und Schülerinnen in der Schule. Da ist das Fernsehen, der PC, das Handy, eine moderne Brücke zur Welt, aber wie kommt man noch auf einen tollen hochgewachsenen Baum im Wald? Warum sind die ersten Stunden am Montag so unendlich problematisch? Warum schiebt man sehr schnell der Schule eine Verantwortung zu, die man als Eltern selbst oft nicht mehr tragen will oder kann? Ich weiß, wie sehr unendlich viele Lehrer ihren Schülern fürsorglich nachgehen ohne gleich aufzugeben - und ich kenne natürlich auch Lehrer, die die Schule krank gemacht hat, die resigniert sind, desinteressiert und ausgebrannt.
Ich denke an krankmachende Beziehungen und leide zunehmend darunter, wenn ich sehe, wie Ehen zerbrechen, weil ich die Trauer miterlebe und oft nur so wenig helfen kann. Und natürlich ist mir bewusst, was jede Scheidung für einen Jungen, für ein Mädchen bedeutet, dem die Mutter oder der Vater - eben das Gegenüber fehlt, das nun einmal durch nichts, aber auch gar nichts ersetzt werden kann.
Ich mag an diesem Karfreitag gar nicht an Israel und Palästina denken, an die Willkür, mit der Staaten sich irgendwo in der weiten Welt selbst für verantwortlich erklären und eingreifen, ob sie erwüscht sind oder nicht und hier im Nahen Osten aus Opportunitätsgründen eine Sonntagsrede nach der anderen halten. Dabei wäre es schnell möglich, die Gewalt dort mit internationaler Hilfe zu beenden und beide Seiten dazu zu zwingen, UNO Resolutionen bedingungslos einzuhalten.
Das Kreuz Jesu offenbart uns die Liebe Gottes. Selbst Gott erfährt an sich die Demütigungen, die Krankheit, das Leiden der Welt - und die Welt, das sind auch wir mit unseren gottfernen Verhaltensweisen. 1937 schrieb der aus dem nationalsozialistischen Deutschland vertriebene Karl Barth ein Memorandum an die Pfarrer der Reformierten Schweiz:
"Das Wort vom Kreuz wird wieder erkennbar als eine neue, fremde Botschaft an den natürlichen Menschen, und dieser wird sich klar darüber, dass er diese Botschaft am liebsten ausstoßen und zum Schweigen bringen möchte. Die Zeiten des offiziell anerkannten Gewohnheitschristentums sind vorbei. Die Christen sind wieder Mann für Mann (Anm.: und Frau für Frau) gefragt, ob sie sich des Evangeliums schämen oder ob sie Gott mehr gehorchen wollen, als den Menschen (ApG 5,29)? ... Das sind Fragen, die auch an uns gestellt sind, auf die wir über kurz oder lang vielleicht auch direkt werden antworten müssen ..." [6]Und so werden wir jeden Karfreitag neu zu lernen haben, dass es nicht die großen Helden sind oder die, die wir dafür halten, die uns vor Gott und für ein Leben in der Gegenwart Gottes frei machen, sondern dass es dieser eine Gekreuzigte ist: Jesus, den wir als den Christus glauben und verehren wollen.