Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

Miserikordias Domini
2. Sonntag nach Ostern, Sonntag vom "Guten Hirten",
Johannes 10, 11-16 und 27-30

Der gute Hirte

Begrüßung:

Wir alle kennen den 23. Psalm, das Bild vom Hirten und seiner Herde. Lassen wir uns heute einmal dazu einladen, dieses Bild nachzudenken, es in unser eigenes Leben zu übertagen. Wir hören dieses Psalmwort in einer modernen Übertragung:

Psalm 23

Der Herr sorgt für mich, warum sollte ich mir Sorgen machen?
Mein Weg ist richtig und führt nicht in die Irre,
denn es ist Gott, der mich führt.

Der Herr versorgt mich. Warum sollte ich mir Sorgen machen?
Er gibt mir Nahrung für Geist und Herz,
wenn sonst keiner meinen Hunger stillt.
Wenn alles andere mir zwischen den Fingern zerrinnt,
mit dem die Menschen mich abspeisen.

Er gibt mir einen sicheren Schritt.
Er zeigt mir einen Weg durch das Gewühl der Menschen.
Durch die Flut der Lichter.
Durch das Rauschen der vielen Stimmen. -
Einen klaren Weg, so gewiss es Gott ist, der mich führt.

Und wenn die Lichter verlöschen und es dunkel wird,
wenn ich einsam bin, oder krank - und den Tod fürchte -
wenn ich schuldig bin, vor dir, Herr, -
und deine Hand scheinbar verloren glaube,
fürchte ich doch nicht, dich wirklich zu verlieren,
denn du bist bei mir.

Ich bin sein Gast in seinem Haus,
mehr noch: Sein Freund und sein Kind.
Die Tür ist offen, solange ich lebe.
Und wenn ich sterbe,
ist sein Haus für mich bereit.

Glück und Frieden gibt er mir.
Was soll ich tun?
Ich habe nichts zu geben als mein Gebet,
mein Lied und mein Dank.
Ich kann nichts geben
als dies:
Nehmen, was er mir gibt.

(verändert nach Jörg Zink)

Gebet:

Herr, was haben wir nur aus unserer Erde gemacht, in der das Recht des Starken gilt. Jeder ist sich selbst der Nächste, stets auf den eigenen Vorteil bedacht. Wir leben auf Kosten anderer ohne Rücksicht auf Verluste. Neid, Hass, Intrigen bestimmen das Miteinander, weil jeder sich nach "Oben" strampeln möchte, um über dem Anderen zu stehen. Herr, zeige uns unseren Platz im Leben und öffne unsere Augen für die Möglichkeiten unserer Menschlichkeit und deiner Gottheit. Über allen Herren der Welt, solltest du der Herr sein, dem wir im Leben und Sterben vertrauen. Das ist zu viel für uns. Darum bitten wir dich mit deinem guten Geist in unsere Gegenwart hinein.
Amen.

Predigttext:

Jesus - der gute Hirte:

»Ich bin der gute Hirte. Ein guter Hirte ist bereit, für seine Schafe zu sterben. Einer, dem die Schafe nicht selbst gehören, ist kein richtiger Hirte. Darum lässt er sie im Stich, wenn er den Wolf kommen sieht, und läuft davon. Dann stürzt sich der Wolf auf die Schafe und jagt die Herde auseinander. Wer die Schafe nur gegen Lohn hütet, läuft davon; denn die Schafe sind ihm gleichgültig. Ich bin der gute Hirte. Ich kenne meine Schafe, und sie kennen mich, so wie der Vater mich kennt und ich ihn kenne. Ich bin bereit, für sie zu sterben. Ich habe noch andere Schafe, die nicht zu diesem Schafstall gehören; auch die muss ich herbeibringen. Sie werden auf meine Stimme hören, und alle werden in einer Herde unter einem Hirten vereint sein ...

Meine Schafe hören auf mich. Ich kenne sie, und sie folgen mir. Ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden niemals umkommen. Niemand kann sie mir aus den Händen reißen, weil niemand sie aus den Händen meines Vaters reißen kann. Er schützt die, die er mir gegeben hat; denn er ist mächtiger als alle. Der Vater und ich sind untrennbar eins.«


Liebe Gemeinde!

Wer von uns hat schon gern einen Chef, einen "über" sich, der sagt, wo es lang geht? Wer von uns möchte denn nicht gern selbst sein Leben, seine Arbeit oder seine Freizeit gestalten? Wer von uns akzeptiert schon gern Abhängigkeiten, auch, wenn der Verstand einsieht, dass es gar nicht anders geht? Unser Text vom "Guten Hirten" wirkt oberflächlich betrachtet ein wenig antiquiert, denn heute werden doch gerade die Teamfähigkeit eines Mitarbeiters und die soziale Kompetenz vor allem eines Vorgesetzten erwartet. Der Typ Untertan auf der einen oder der herrschsüchtige Despot auf der anderen Seite sind beide nicht mehr gefragt, weder gegenwarts- noch zukunftsfähig.

Und dann erst die Schafe! Wer von uns möchte heute noch gern mit einem Schaf, einem Herdentier verglichen werden, dem jede Individualität fehlt? Es tut das, was alle anderen Tiere der Herde auch tun - und von Hunden gut bewacht, wird es besser gleich dem Hirten hinterher laufen, ohne weiter darüber nachzudenken. Die große Aufgabe, ja Zukunft eines Schafes es ist, einmal als Lammkeule vor uns auf dem Teller zu liegen und Teil eines Sonntagsessens zu werden.

Nein, unsere Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens sieht anders aus, denn wer es heute wagen würde, einen anderen als Schaf anzureden, der würde Gefahr laufen, eine Beleidigungsklage zu erhalten. So betrachtet hilft uns heute ein solches Bild der Bibel kaum noch - und doch ist es ja eine so zentrale Aussage, dass wir es tiefer ergründen müssen. Unzweifelhaft ist der 23. Psalm, der Psalm vom "Guten Hirten", einer der bekanntesten und nach wie vor beliebtesten Worte der Bibel und Jesus kannte dieses Psalmwort natürlich, an das er nun sehr bewusst anknüpft. [1]

Es ist für unzählige Generationen ein Trostwort geworden. Dürfen sich Konfirmanden einen Psalm zum Lernen heraussuchen, so ist der 23. Psalm mit weitem Abstand auch unter Jugendlichen der am häufigsten gewählte Text. Das hat seinen Grund: In einer Zeit, der die Fundamente verloren gegangen sind, - wo gerade auch jungen Menschen vieles fraglich geworden ist, - der Sinn des persönlichen Lebens so offen scheint, bietet dieses Psalmwort ein Stück Urvertrauen, das tief in uns allen eingewurzelt ist. Das gilt selbst da, wo der "Hirte" nicht mehr zu sehen und das Bild vom Schaf uns fremd geworden ist.

Dieses Bibelwort hören Menschen auch noch in den tiefen Tälern ihres Lebens, selbst wenn sie sich dem Glauben oder ihrer Kirche entfremdet haben: in einer Krankheit, - beim Abschied aus dieser Welt und dem eigenen Leben, - in tiefer Trauer, - dem Zerbrechen von Beziehungen oder dem Verlust der Arbeit, - der Angst vor einem Versagen z.B. vor einer Arbeit in der Schule, - im Abitur. Wie oft fragen Menschen danach, wo Gott wohl gerade in den Tälern eines Lebens war, wo tiefe Schatten den Schein der Sonne versperrten? Unser Text greift auf den 23. Psalm zurück, in den das Kreuz Jesu eingezeichnet wird. [2]

Das Bild eines "Hirten" findet sich auf ägyptischen Hieroglyphen auf den Pharao bezogen, so, wie auch orientalische Könige sich als "Hirten" verehren ließen. Sie regieren ihre Völker, wie ein Hirte seine Herde weidet.

Israel greift also auf ein bekanntes Bild zurück, das aber nicht dem König zukommt, sondern allein Gott. Verstehen sich die alten Könige des Orients durchaus als Herrscher ihrer Untertanen, so tritt dieser Gedanke in Israel zurück, das seinen Gott eben sehr viel stärker als einen fürsorglichen Gott erfährt, der sich für Israel einsetzt, sein Volk aus der Versklavung und den verschiedensten Abhängigkeiten in die Freiheit führt. Eben dieser Gesichtpunkt wird nun von Jesus in seiner großen Hirtenrede aufgegriffen, in dem er gerade dieses Bild auf sich selbst bezieht: "Ich bin der gute Hirte ... Ich kenne meine Schafe ... Ich bin bereit, für sie zu sterben ... Ich habe noch andere Schafe ...Ich kenne sie ...!"

Hier kommt also ein ganz anderer Ton zum Klingen, als bei den politisch Mächtigen, bei denen es um Herrschaft, Macht oder politische Führung geht. Jesus nimmt Anteil an der Lebenswirklichkeit der Welt, er ist bereit, für sie zu leiden, zu sterben. In dieser einmaligen Weise wird sein Hirtesein an der Seite Gottes zu einem fürsorglichen Dienst an den Menschen, zur Seelsorge in jeder Hinsicht.

In der vergangenen Woche starb Dorothee Sölle, die "Stimme des theologischen Zweifelns" [3], wie es die Badische Zeitung in einem Nachruf formulierte. Sie prägte, zumindest aber begleitete gedanklich einen großen Teil meiner theologischen Studentengeneration. Für mich selbst formulierte sie die Brücke von einem eher biblizistischen Glauben hinüber zu einem Glauben, der es wagt, sich auch den Fragen der Gegenwart auszusetzen, der mehr nach Gott fragt, als vielleicht oft zu schnelle und patente Antworten parat zu haben. Auf den Spuren biblischer Texte ermutigte sie, die Theologin, Germanistin und Literaturwissenschaftlerin zu einem bewussten, reflektierten Christsein, weitab von blinder Gefolgschaft. Sie schrieb damals in einem theologischen Beitrag zum Begriff "Nachfolge":

"Nachfolge braucht heute Nach-Denken. Der Weg Christi wird nach-gedacht in den Wegen der Menschen, in der genauen Beobachtung ihrer Situation, in der Klärung ihrer Bedingungen. Nach-denken, Mit-Denken, Vor-Denken gehört zur Nachfolge ... Hätte sich Jesus mit seiner Liebe mehr zurückgehalten, hätte er die Ordnungen respektiert ..., Leiden und sterben wären ihm nicht zugefallen. Sie waren vermeidbar für ihn. Die Liebe, die er lebte, war radikal in dem Sinne, dass der Blick auf die Folgen für das eigene Leben nicht mehr wichtig erschien ... Jede Beziehung zu einem anderen Menschen macht uns verwundbar, je größer die Liebe, desto verwundbarer der Liebende ... Die Nachfolge Christi sensibilisiert Menschen, sie macht sie aufmerksamer, nachdenklicher, empfindsamer und verwundbarer ..." [4]

Hier wird noch einmal - nur in ganz anderen Worten - von der gleichen Sache geredet. Das Leiden Jesu als Mensch wird ernstgenommen, der eben auch noch im "tiefen Tal" die Nähe seines Gottes spürt und mit seiner Liebe seinem Gott folgt, so wie es nun zu unserem Dienst geworden ist, in der Nachfolge Jesu unser Christsein zu leben. Als ich über unseren Predigttext nachdachte, kam mir sofort die Frage nach der "Autorität" und "Autoritäten" in den Sinn. Eine verantwortete Führerschaft ohne "Autorität" gibt es nicht, ja es kann sie gar nicht geben, will sie nicht einfach nur autoritär sein. Natürlich haben wir alle niemanden gern "über" uns, wie wir es anfangs feststellten, dennoch wird es wohl kaum jemandem von uns in den Sinn kommen, eine wirkliche Autorität, wie immer wir sie erfahren, in Frage zu stellen.

Da lernen wir Menschen kennen, die uns als große Persönlichkeiten in Erinnerung sind: Menschen wie Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Richard von Weizsäcker; ein alter Lehrer, Arzt oder auch ein Pfarrer, der mich einmal auf meinem Lebensweg begleitet hat. Das können also auch ebenso gut Menschen aus unserer Nachbarschaft, dem Betrieb, der Schule, einer Kirchengemeinde sein und das ganz und gar unabhängig von ihrer Bildung. Eine Persönlichkeitsautorität ist man nicht unbedingt dadurch, dass man gebildet ist, eher dadurch, dass man etwas zutiefst Menschliches ausstrahlt und lebt.

Wir haben Menschen kennen gelernt, die uns durch ihr Fachwissen beeindruckt haben. Ihre Autorität begründet sich in ihrem Wissen, ihrem Können, ihrer fachlichen Leistung mit der sie etwas bewegen, vermitteln, erfinden, konstruieren. Aber wir alle kennen auch Menschen, die gern blenden, die mehr sein wollen, als sie tatsächlich von ihrer Menschlichkeit, ihren praktischen oder intellektuellen Fähigkeiten her sind. Die Frage nach der Autorität unterscheidet sich von der Machtfrage ganz erheblich. So können politische Führer zwar Macht haben und Gefolgschaft einfordern, wir haben es international beim Irakkrieg sehr unangenehm erlebt, doch niemand käme auf die Idee, gerade in diesen durchaus Mächtigen eine Autorität zu sehen.

Es stellt sich nun aber ganz konkret auch auf uns bezogen die Frage, wer z.B. in einer Familie Macht ausübt: wer über wen, wie sie erlebt wird, worin sie sich begründet oder ob man eben doch nur autoritär miteinander umgeht, so nach dem Motto: einer befiehlt, alle anderen folgen? Eltern müssen es wieder sehr viel mehr wagen, Autoritäten zu sein, die Maßstäbe setzen, an denen Kinder und Jugendliche sich orientieren können, auch wenn es darüber Diskussionen gibt. Das Vorbild wird darüber entscheiden, ob man dann letztendlich eben doch nur autoritär oder eine Autorität war, in Glaubensfragen glaubwürdig oder unglaubwürdig, in Fragen der Beziehung verlässlich oder unzuverlässig.

Jesus war für viele Menschen seiner Zeit eine Autorität, doch Macht hatte er nur durch das gute Wort von seinem Gott, das er sagen wollte und durch die Liebe, die er lebte. So stellt sich nun auch für uns die Frage, was wir für uns und unser Leben als eine "Autorität" anerkennen, mit der es sich leben und die Zukunft gestalten lässt?

"Sie hören meine Stimme ...!", sagt Jesus, der den Menschen seinen ebenso väterlichen wie mütterlichen Gott an die Seite stellen möchte. Wir sehen ihn nicht mehr, diesen Hirten, aber - und darauf kommt es nun für uns an - wir können ihn hören. Das Wort, sein Wort, kann uns und jedem Menschen zu dieser Autorität werden, das selbst im "tiefen Tal" noch zu hören ist. Hier geht es eben nicht mehr um geforderte Macht und Stärke, um eine Autorität, die uns blendet, sondern es geht darum, diese eine Stimme zu hören, die uns hilft, Gott selbst in den krummen Wegen unseres Lebens jeden Tag neu zu finden. Auf eben diesem Weg ist Jesus von Nazareth uns vorangegangen.

Es liegt nun an uns, welcher Stimme wir folgen möchten, welchen Autoritäten, um unserem Leben seinen Sinn und unserem Menschsein seine gottgewollte Würde zu geben. Von Jesus Christus, der uns seinen Gott an die Seite stellt, bekommen wir keine Marschbefehle, uns treiben keine bellenden Hunde, wir bleiben in die Nachfolge des Glaubens eingeladen. Hören wir auf das, was uns und allen Menschen zum Leben dient, denn unser Gott hat niemals aufgehört, uns zu begleiten, anzusprechen, uns in seine Nachfolge und Mitarbeiterschaft einzuladen.
Amen.


Literatur:

  1. Schneider, H.-H., s. Predigt vom 13. Sonntag nach Trinitatis 2002
  2. Köpf, R., Calwer Predigthilfen, 1996/1997, Reihe I/1, Stuttgart 1996, S. 210 f
  3. Kiefer, G., Badische Zeitung, 28.04.2003, S. 3
  4. Sölle, D., Nachfolge, in: Atheistisch an Gott glauben, Olten, 19704, S. 37 f

    Letzte Änderung: 12.06.2003
    Pfr. Hanns-Heinrich Schneider