Evangelische Kirchengemeinde Kenzingen

13. Sonntag nach Trinitatis, 25.8.2002
Psalm 23

Begrüßung:

Liebe Gemeinde! Es gibt biblische Texte, die uns seit altersher vertraut sind, ohne dass sie jedoch noch einen wirklichen Platz in unserem Leben haben. Bildworte, die wir hören, ohne dass sie uns aus unserem Alltag letztendlich noch bekannt wären, gar einen Bezug zu unserem eigenen Leben hätten. Der 23. Psalm ist ein solches Bibelwort. Hören wir doch heute einmal in diesen Psalm hinein, um seine (oft nur noch) scheinbar vertrauten Bilder vielleicht wieder einmal für uns lebendig werden zu lassen. Dabei wollen wir uns mit drei unterschiedlichen Texten vertraut machen.

Martin Luther übersetzte den 23. Psalm in der uns bekanntesten Form mit folgenden Worten:

Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

Gebet:

Herr, guter Gott! Bildworte begleiten unser Leben, doch oft greifen sie gar nicht mehr. Wir hören sie, doch sie haben ihre Kraft verloren. Der Graben zwischen dem biblischen Bild und unserer Gegenwart ist einfach zu groß geworden. Und dennoch bleiben diese Bilder für unser Leben, für jedes Leben wichtig, weil in ihnen Grundweisheiten und Grundwahrheiten vermittelt werden, die einfach zeitlos sind, zeitlos, wie Gott selbst. Herr, darum bitten wir, lass uns dein Wort recht hören und immer wieder neu für unsere Gegenwart begreifen.

Liebe Gemeinde!

Wer von uns kennt ihn nicht, den 23. Psalm, den Psalm vom "Guten Hirten". Ich erinnere mich noch genau an die überdimensionalen Schlafzimmerbilder aus Großväterzeiten, wo über dem ehelichen Bett oft eben dieses Motiv eines guten, treusorgenden Hirten mit einem Schäfchen auf dem Arm abgebildet war, während ein Schiff im wilden Sturm oder ein röhrender Hirsch das Wohnzimmer zierte. Bildmotive, die den Wohn- und Lebensstil einer vergangenen Epoche darstellen.

Doch ist es irgendwie schmerzhaft, dass gerade der 23. Psalm mit seinen vielen Bildern fast nur noch als Konfirmationsspruch herausgesucht wird oder bei Beerdigungen ausgelegt werden soll. Man sucht zu einem bestimmten Anlass im Leben einen Text, der uns irgendwie aus der eigenen Vergangenheit vertraut ist, ohne jedoch mit seinem Inhalt noch etwas Konkretes anfangen zu können. Vertraute Bilder verblassen, an ihre Stelle sind andere getreten. Und dennoch sind und bleiben die Sammlung der 150 Psalmen eine Fundgrube an tiefsten Gedanken zum menschlichen Leben, seinen Höhen und Tiefen, Freude und Versagen, Schuld und Vergebung. Das ganze Leben wird vor Gott gebracht und bedacht. So ist es verständlich, dass diese biblischen Lieder und Gebete schon bald zum Liedgut der Reformation gehörten und im Gottesdienst ebenso verwendet wurden, wie zu Hause in der ganz persönlichen Frömmigkeit und Auseinandersetzung mit Gott.

Es geht im 23. Psalm um einen Hirten. Das Bild des Hirten ist dem biblischen Höher durchaus schillernd: Hirten, das sind lohnabhängige Mitarbeiter, die für ihren Herrn die Herden zu versorgen, vor allem aber vor wilden Tieren zu schützen haben. Fehlt ein Tier, so müssen sie es ersetzen. Hirten das sind oft wilde, hartgesottene Gesellen, die auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind ohne Rücksicht auf Verluste bei anderen, mit Banditen und Betrügern sind sie vergleichbar. Erwartet wird von ihnen, dass sie ihr Leben einsetzen, um ein Tier zu schützen, wenn es von Löwen oder Bären bedroht ist, doch die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus, denn wer gefährdet schon gern sein Leben - für nur wenig Lohn?

Gerade dieser Beruf wird nun zur Folie für die beiden anderen Bilder eines Hirten in der Bibel. So wird das Hirtenbild bei den Propheten auf den König übertragen, jedoch nur auf den König, der sich bedingungslos für sein Volk einsetzt, der sich bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten aufopfert. Dem oft verführten, in der Irre herum laufenden Volk steht dieser König - wie ein guter Hirte - zur Seite, der auf einen jeden achtet und dem niemand verloren geht. Er vertritt die Interessen seines Volkes, er streitet mit dem Feind, er führt einen Krieg, wenn es sein muss und sorgt damit für ein großes Maß an Sicherheit. Aber nur allzu oft entsprachen die Könige Israels dem Bild eines "guten" Hirten gerade nicht.

So wurde schließlich das Hirtenbild bald auf "Gott" selbst übertragen. Wo Menschen, auch die Führer des Volkes enttäuschten, das Volk Zerstörung, Deportation und Gefangenschaft erleiden musste, da war es dann nur noch ein kleiner Schritt, dass nicht mehr ein menschlicher, sehr irdischer Herrscher mit dem Bild des Hirten, vor allem eines "guten" Hirten besetzt war, sondern, dass man es auf Gott selbst übertrug. Nur Gott, dem Gott Israels traute man zu, einem guten Hirten zu entsprechen.

Biblische Bilder verlangen nach Übersetzung, Übertragungen in das eigene Leben hinein. Was sagen die biblischen Schriftsteller nicht nur, sondern was meinen sie, mit dem, was sie sagen? Oft reicht es also nicht aus, Begriffe einfach als ein Wort scheinbar richtig zu übersetzen, wenn wir den damaligen Sinn nicht verstehen, uns auch der Mühe gar nicht unterziehen, sie verstehen zu wollen. Über eben dieser Frage ist immer wieder ein heftiger Streit entstanden, weil es den einen um die richtige, möglichst korrekteste Wortübersetzung geht, anderen aber darum, mit den Worten auch den tieferen Sinn, den Geist, das Dahinterliegende zu erfassen. In unserem Psalm wird nun entfaltet, was Aufgabe eines guten Hirten ist:

Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
In einer anderen Übersetzung, der "Guten Nachricht" heißt es zu dieser Stelle:
Der HERR ist mein Hirt; darum leide ich keine Not. Er bringt mich auf saftige Weiden, lässt mich ruhen am frischen Wasser und gibt mir neue Kraft. Auf sicheren Wegen leitet er mich, dafür bürgt er mit seinem Namen.
Und Jörg Zink übersetzt dieses Psalmwort nun schon so, dass es sich weit vom Urtext entfernt und doch einen tiefen Sinn behält:
Der Herr versorgt mich. Warum sollte ich mir Sorgen machen? Er gibt mir Nahrung für Geist und Herz, wenn sonst keiner meinen Hunger stillt. Wenn alles andere mir zwischen den Fingern zerrinnt, mit dem die Menschen mich abspeisen ...

Er gibt mir einen sicheren Schritt. Er zeigt mir einen Weg durch das Gewühl der Menschen. Durch die Flut der Lichter. Durch das Rauschen der vielen Stimmen. Einen klaren Weg, so gewiss es Gott ist, der mich führt.

Wir merken in der Steigerung der Texte, wie die Ausleger sich immer weiter vom Luthertext entfernen und das bekannte Bild in eine uns verständliche Sprache bringen, bis dahin, dass im letzten Text gar nicht mehr vom Hirten, sondern gleich von Gott die Rede ist.

Martin Luther, der die Psalmen leidenschaftlich gern auslegte, doch immer unmittelbar auf Jesus Christus bezogen hat, von dem hier ja noch gar nicht die Rede ist, meint in seiner Auslegung, dass dieser Psalm ins dritte Gebot und in die 2. Bitte des Vaterunser gehört. [1] Also: "Du wirst den Feiertag heiligen ..." [2] Und: "Dein Reich komme ..." [3]

Der Psalm spricht nun - sehr realistisch - von den tiefen Tälern, die jeder Mensch in seinem Leben erfährt:

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
In den beiden anderen Übersetzungen, bzw. freieren Übertragungen hört es sich dann so an:
Und muss ich auch durchs finstere Tal - ich fürchte kein Unheil! Du, HERR, bist ja bei mir; du schützt mich und führst mich, das macht mir Mut ...
Und Jörg Zink formuliert:
Und wenn die Lichter verlöschen und es dunkel wird, wenn ich einsam bin, wenn ich krank bin, und den Tod fürchte - wenn ich schuldig bin vor dir, Herr, und deine Hand verloren habe, fürchte ich doch nicht, dich zu verlieren. Denn Du bist bei mir. Dein Kreuz tröstet mich, das Zeichen, dass du mich liebt, dass du mir nahe bist und dass ich zu dir gehöre ...
Wieder greift der Psalmbeter auf ein uns allen bekanntes Bild zurück, das eines tiefen, dunklen Tales, das für all das als Lebenserfahrung steht, was unser Leben bedroht, ängstigt, verunsichert. Vor lauter Bergen sieht man den Himmel nicht mehr, der Horizont ist verstellt. Wie oft leiden wir in unseren Berufen, an der Arbeitslosigkeit, an der Krankheit eines Menschen, der uns lieb ist, am Tod eines uns vertrauten Menschen? Wie oft ist unser scheinbar so gut geordnetes und versorgtes Leben plötzlich in Frage gestellt? Doch was sagt Martin Luther dazu: "Ich wollte lieber in der Hölle sein, wenn Gott da ist, als im Himmel, wenn Gott ferne ist ..." [4]

Er konnte von einer "getrosten Verzweiflung" [5] reden, worauf Karl Barth in einer viel beachteten Predigt unter dieser Überschrift einging und weiter sagte: "wir können im Seufzen getrost sein ...Das Getrostsein geschieht also gleichzeitig und am gleichen Orte mit dem Seufzen. Gerade dort, in unmittelbarer Nähe der großen Finsternis, des bösen Zustandes, wo wir die Augen gänzlich schließen und die Hände gänzlich möchten sinken lassen, gerade dort kann man Hoffnung haben und in der Hoffnung getrost sein." [6]

Wie oft, wie vorbildlich liebevoll habe ich das von Menschen erfahren, die ihre Kranken in den Tod begleiteten, sicher: abgrundtief traurig und doch in eindrucksvoller Weise getröstet.

Der Stecken und Stab, von dem im Psalm weiter die Rede ist, gehört zum Handwerkszeug eines Hirten, denn mit einem Stecken oder Stab kann man Tiere leiten, führen, verirrte Tiere aus einer Dornenhecke ziehen. Diese Hirtenstäbe haben oben eine leichte Krümmung, so dass man sich einerseits - wie auf einen Spazierstock - darauf stützen kann, andererseits aber ein Hilfsmittel an der Hand hat, um Tiere an einem unerreichbaren Ort dennoch zu erreichen, wo der eigene Arm längst nicht mehr hinlangt.

Übrigens sehen wir symbolisiert den Hirtenstab bei jedem katholischen Bischof, auch beim Papst, als ein Zeichen für das Hirtenamt des Bischofs in der Kirche.

Diese Gedanken werden nun im Psalm weiter ausgeführt, in dem es dort heißt:

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.
Oder in den beiden anderen Varianten:
Vor den Augen meiner Feinde deckst du mir deinen Tisch; als Gast nimmst du mich bei dir auf und füllst mir den Becher randvoll. Deine Güte und Liebe umgeben mich an jedem neuen Tag; in deinem Haus darf ich nun bleiben mein Leben lang.
Und:
Ich bin sein Gast in seinem Haus, mehr noch: sein Freund und sein Kind. Die Tür ist offen, solange ich lebe. Und wenn ich sterbe, ist sein Haus für mich bereit.

Glück und Frieden gibt er mir. Was soll ich tun? Ich habe nichts zu geben als mein Gebet, mein Lied, meinen Dank. Ich kann nichts geben als dies: Nehmen, was er mir gibt.

Aus dem Bild des guten Hirten, der für seine Tiere sorgt, wird nun Gott, der Gastgeber, der seine Gäste selbst im Angesicht von Widernissen und Hindernissen versorgt, doch viel mehr: Gastfreundschaft stiftet, als ein ganz hohes Gut, das Menschen miteinander teilen können. Und wie reagiert der, dem das wiederfährt? Er hält für sich selbst fest, dass ihm mit diesem Gott, der einem guten Hirten vergleichbar ist, Gutes und Barmherzigkeit folgen werden ein Leben lang.

Wer das, wie auch immer, in seinem Leben erfährt, der wird dort bleiben, wo Gott seine Heimat hat, in der Mitte seiner Kirche, seiner Gemeinde, und aus dieser Mitte heraus gebührt ihm Lob und Dank, das bedeutet der Gottes-dienst, Gott dankbar dienen, dass er unser Leben so fürsorglich und tröstlich begleitet.
Amen.


Literatur:

  1. Luther, M., Psalmen Auslegung, Hrsg. E. Mühlhaupt, Göttingen, 1959, S. 315
  2. Wegmann, P., Hrsg., Handbuch für den kirchlichen Unterricht, Witten, 19678, S.10
  3. Wegmann, P., a.a.O., S. 15
  4. Luther, M., Mühlhaupt, a.a.O., S. 316
  5. Genest, H., Karl Barth und die Predigt, Neukirchen-Vluyn, 1995, S. 99
  6. Barth, K., + Thurneysen, E., Komm Schöpfer Geist, München, 19241, S. 246f
Letzte Änderung: 26.08.2002
Pfr. Hanns-Heinrich Schneider